Biographie

Glasenapp, Karl Friedrich

Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
Beruf: Wagnerforscher, Philologe
* 3. Oktober 1847 in Riga/Livland
† 14. April 1915 in Riga

Riga hat nicht nur deshalb als Wagner-Stadt Bedeutung, weil Richard Wagner von 1837 bis 1839 1. Kapellmeister am Rigaer Stadt-Theater gewesen ist; Riga wird in der Geschichte der Wagnerrezeption stets genannt werden, da der klassische und umfassendste Wagner-Biograph Karl Friedrich Glasenapp ein Kind der Stadt war. Er wurde als Sohn des Kreisschulinspektors Friedrich Glasenapp und seiner Ehefrau Emilie geb. Kuhlmann geboren. Nach dem Besuch des Gouvernement-Gymnasiums seiner Heimatstadt studierte er von 1867 bis 1872 an der Universität Dorpat klassische Philologie, Kunstgeschichte und vergleichende Sprachwissenschaft. 1873 wurde er als Gymnasiallehrer in Pernau angestellt, wo er 1874 Henriette Rambach, die Tochter des dortigen Justizbürgermeisters Friedrich Rambach heiratete. 1875 kam er als Oberlehrer der deutschen Sprache und Literatur an die Städtische Töchterschule in Riga. Dieses Amt hatte er bis 1904 inne. Außerdem war er von 1898 bis 1912 Dozent der deutschen Sprache und Literatur am Polytechnikum seiner Vaterstadt. Nach seiner Ernennung zum Staatsrat konnte er bei der damit verbundenen wirtschaftlichen Unabhängigkeit die letzten drei Lebensjahre allein seiner schriftstellerischen Arbeit leben.

Bereits als 16jähriger begann sich Glasenapp mit Richard Wagner zu beschäftigen, nachdem er seine ersten Wagner-Opern in dem 1863 neuerbauten Stadttheater gehört hatte, und noch als Gymnasiast begann er seine Sammelarbeit für sein biographisches Werk über Richard Wagner. Glasenapp fuhr zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele im Jahre 1876 und überreichte Wagner den ersten Band seiner umfassenden, rechtzeitig fertiggestellten Biographie. Wagner las das Buch, ohne Glasenapp persönlich zu kennen. Er vermeinte, daß dem Verfasser Quellen bekannt sein müßten, welche nur ihm selbst bekannt sein könnten, wenn es solche gäbe, und Cosima Wagner schrieb in ihrem Tagebuch von einer ”erstaunlichen Quellenaufsuchung” (13.7.1876). Glasenapp wurde ein geschätztes Glied des Wagnerkreises, und es wurde ihm, auch von Cosimas Seite, manche Information zuteil und der Zugang zu zahlreichen Materialien eröffnet. Glasenapp reiste nun häufig nach Bayreuth, wo er umfassend für seine anderen Werke, die Wagner-Enzyklopädie und das Wagner-Lexikon, forschte. Desweiteren verfaßte er zahlreiche Aufsätze in den Bayreuther Blättern. Die Bindungen wurden enger, und für 1883 war geplant, daß Glasenapp die Erziehung des Sohnes Siegfried übernehmen sollte. Dieser Plan konnte dann durch den Tod von Richard Wagner im selben Jahre nicht mehr verwirklicht werden.

1894 erschien der erste Band der erweiterten 3. Auflage des Glasenapp’schen Buches unter dem Titel Das Leben Richard Wagners, dem bis zum Abschluß des Werkes 1911 noch fünf weitere Bände folgen sollten. Die Erweiterung ergab sich für diese Auflage aus dem inzwischen veröffentlichten Briefwechsel. Übrigens konnte Glasenapp auch die Tagebücher Cosimas benutzen, die bis 1972 durch eine testamentarische Verfügung von Eva Wagner-Chamberlain nicht zugänglich waren und erst 1976 und 1977 in zwei Bänden erschienen (München). GlasenappsLeben Richard Wagners ist wohl das Standardwerk über Wagner, und es ”wird wegen seiner Ausführlichkeit und Gründlichkeit als Quelle [immer] seinen Wert behalten … Obwohl Glasenapp treu zu Wagner steht, hat er sich nicht verleiten lassen, Tatsachen tendenziös darzustellen” (Joachim Bergfeld).

Glasenapp hatte sich als Biograph mit einem Spiegel verglichen, welcher nur das Objekt zeigt, nie sich selber, es sei denn an den ”schadhaften Stellen”. Das zusammen mit Heinrich von Stein 1883 herausgegebeneWagnerlexikon, in dem ”Hauptbegriffe der Kunst- und Weltanschauung Richard Wagners in wörtlichen Anführungen aus seinen Schriften” zusammengestellt sind, hätte zum siebzigsten Geburtstag des Meisters dargebracht werden sollen, doch Wagner war wenige Monate vor diesem Tag verstorben. Nach dem Abschluß seiner Schriften über Richard Wagner hat Glasenapp sich dem Sohn Siegfried Wagner zugewandt. Er beging dabei ”den Fehler, seine persönliche Begeisterung überströmen zu lassen und gegen Widersacher zu polemisieren”, und aus diesem Grunde dürfte er ”Siegfried Wagner eher geschadet als genützt haben” (Joachim Bergfeld).

In seiner Heimatstadt Riga gründete Glasenapp einen tätigen ”Richard-Wagner-Verein”, welchem er meist als Präses bzw. Präsident vorstand. Der Verein leistete für das Rigaer Musikleben Beachtliches und betätigte sich auch musikausübend. Von 1891 bis zum Ende des Vereins im 1. Weltkrieg war Carl Waack dessen musikalischer Leiter. Angemerkt sei, daß der Verein auch die Verbreitung von Wagners Werk im Russischen Reich beförderte.

Schriften: Richard Wagners Leben und Wirken, 2 Bde., Kassel und Leipzig 1876 und 1877 – erweiterte 3. Auflage „Das Leben Richard Wagners“, 6. Bd. 1894-1911 Leipzig, engl. Übersetzung W. A. Wllis 6 Bd. London 1900 ff. – Wagner-Lexikon, Hauptbegriffe der Kunst- und Weltanschauung Richard Wagners in wörtlichen Anführungen aus seinen Schriften, Stuttgart 1883 (mit Heinrich v. Stein). – Wagner-Encyklopädie: Haupterscheinungen der Kunst- und Kulturgeschichte im Lichte der Anschauung Richard Wagners, Leipzig 1891. –  Siegfried Wagner, Berlin 1906. – Siegfried Wagner und seine Kunst (Leipzig 1911), Neuauflage 1913 Titel „Schwanenreich“ und 1919 „Sonnenflammen“.  –  zahlreiche Aufsätze in den Bayreuther Blättern sowie Edition der Gedichte von R. Wagner (1905), der Bayreuther Briefe R. Wagners 1871-1883 (1907), der Familienbriefe v. R. Wagner 1832-1873 (1907).

Lit.: MGG (Joachim Bergfeld). – Riemann-Musiklexikon.  – The New Grove. –  Deutschbaltisches biographisches Lexikon 1710-1960. hg. von W. Lenz, Köln, Wien 1970. –  Nekrolog in: Deutsche Monatsschrift für Rußland H. 4, Riga 1915. – H. Scheunchen: Die Musikgeschichte der Deutschen in den balt. Landen. In: W. Schwarz, F. Kessler, H. Scheunchen: Musikgeschichte Pommerns, Westpreußens, Ostpreußens und der balt. Lande, Dülmen 1990 S. 159. – Bild: Herder-Institut Marburg.

 

Helmut Scheunchen