Biographie

Gödel, Kurt

Herkunft: Sudeten (Böhmen u. Mähren, österr. Schlesien)
Beruf: Mathematiker, Logiker
* 28. April 1906 in Brünn/Mähren
† 14. Januar 1978 in Princeton/New Jersey/USA

Während heute schon die Schulbildung Kenntnisse des Werkes von Mozart und von Freud vermittelt (deren 250. bzw. 150. Geburtstag im Jahr 2006 weltweit gefeiert wird), verbinden mit dem Namen Kurt Gödels (dessen 100. Geburtstag in das gleiche Jahr fällt) selbst heutige Fachgenossen, also Mathematiker, oft kaum konkretere Vorstellungen, obwohl einige der von ihm erzielten Resultate unbestritten zu den bedeutendsten Leistungen der Mathematik des 20. Jahrhunderts zählen.

Am 28. April 1906 in Brünn geboren, studierte Gödel von 1924 bis 1929 inWien Physik und Mathematik und wurde 1930 mit einer 1929 eingereichten Dissertation promoviert, in der er zeigte, daß jedes logisch wahre Aussagenschema im Kalkül der klassischen Quantorenlogik 1. Stufe herleitbar ist (womit er ein erst 1928 in Hilbert und Ackermann, „Grundzüge der theoretischen Logik“, gestelltes Hauptproblem der mathematischen Logik löste). 1932 habilitierte sich Gödel mit einer 1931 veröffentlichten Arbeit, welche die mathematische Logik und Grundlagenforschung revolutionierte und bis heute, also über 75 Jahre hinweg, nachwirkt. Obwohl seit 1933 Privatdozent an der Universität Wien, lehrte Gödel dort nur insgesamt drei Semester und forschte im übrigen als Gastwissenschaftler am Institute for Advanced Study in Princeton, N.J., wo seit l933 als Gastprofessor auch Albert Einstein tätig war, zu dem sich eine enge Freundschaft entwickelte. Gödel heiratete 1938 Adele Nimbursky, geb. Porkert, und kehrte nach dem sog. Anschluß Österreichs an das „Großdeutsche Reich“ nicht mehr nach Wien zurück; er übersiedelte 1940 nachPrinceton, wurde dort 1946 ständiges Mitglied des Institute for Advanced Study und 1948 amerikanischer Staatsbürger. Gödel, der schon seit den Wiener Jahren immer wieder mit psychischen Problemen zu kämpfen hatte, beschränkte sich in Princeton auf eine intensive Forschungstätigkeit, die durch die Verleihung des Einstein-Preises (mit Julian Schwinger) 1951 und Aufnahme in die London Mathematical Society, die London Royal Society und das Institut de France international Anerkennung fand. Seit 1976 Professor emeritus, starb Gödel am 14. Januar 1978 in Princeton.

Die drei großen Gebiete der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts, zu denen Gödel originelle und bleibende Beiträge geleistet hat, sind (1) die mathematische Logik, (2) die Mengenlehre und (3) die Kosmologie, d. h. die Lehre von der Struktur des Weltalls. In der mathematischen Logik können neben dem schon genannten Nachweis der Vollständigkeit des klassischen Logikkalküls 1. Stufe (dessen Formeln logisch, d. h. mit Hilfe von Verknüpfungswörtern wie „und“, „oder“, „wenn-dann“, „alle“ und „manche“ zusammengesetzt sind) Gödels Einzelergebnisse zum Verhältnis von klassischer und nicht-klassischer Logik sowie zum „Entscheidungsproblem“ (der Suche nach einem quasi mechanischen Verfahren, das für jeden logisch zusammengesetzten Ausdruck die Frage nach seiner Allgemeingültigkeit in endlich vielen Schritten mit Ja oder Nein beantwortet) nur erwähnt werden. Um den umwälzenden und bahnbrechenden Charakter des Gödelschen Unvollständigkeitssatzes von 1931 zu erfassen, bedarf es eines kurzen Blicks auf die Situation der modernen Mathematik zu diesem Zeitpunkt:

Der geniale Einfall der alten Griechen, die Unendlichkeit der wahren Sätze der Mathematik dadurch überschaubar und beherrschbar zu machen, daß man eine endliche Anzahl von ihnen als „Axiome“ an den Anfang stellt und alle anderen als logische Folgerungen aus den Axiomen charakterisiert, war im 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts durch Frege, Hilbert, Russell und Whitehead perfektioniert worden. Es bestand sogar die Hoffnung, die Mathematik auf der Basis eines endlichen Systems allein von logischen und arithmetischen, vielleicht sogar rein mengentheoretischen Axiomen aufbauen und darüber hinaus auch einen Beweis für die Widerspruchsfreiheit dieses Systems führen zu können. Gödels Unvollständigkeitssatz machte diese Hoffnung des „Hilbertprogramms“ zumindest hinsichtlich der Vollständigkeit zunichte. Gödel fand nämlich, daß sich zu jedem effektiven KalkülK 1. Stufe, unter dessen Regeln solche zur Erzeugung aller verwendeten Ausdrücke sowie die wesentlichen Axiome der Arithmetik oder auch der Mengenlehre enthalten sind, alle Regeln nur endlich viele Prämissen haben, und eine (heute als „Gödelisierung“ bezeichnete) „Codierung“ aller Beweise existiert, ein korrekt gebildeter Satz A von der Art konstruieren läßt, daß weder A noch sein Gegenteil ¬A inK herleitbar sind.K ist also unvollständig mit der besonderen Pointe, daß sich A unabhängig von jedem Kalkül sogar als wahre mathematische Aussage erweist. Es kann daher keinen strengen Kalkül zum Aufbau der Gesamtmathematik geben, und Gödel konnte auch zeigen, daß sich ein etwa gelingender Widerspruchsfreiheitsbeweis fürK nicht mit den Mitteln vonK ausdrücken ließe (auch wenn er damit natürlich nicht als unmöglich erwiesen ist). Informatiker würden das Gödelsche Ergebnis so formulieren, daß kein Computerprogramm jemals den gesamten Satzbestand der Mathematik liefern oder gar die Wahrheit oder Falschheit jeder vorgelegten mathematischen Aussage entscheiden kann. Dieser Nachweis prinzipieller Grenzen von Kalkülen hat im 20. Jahrhundert die Konzeption der Mathematik grundlegend verändert; er bedeutet jedoch – entgegen populären Vorstellungen – weder, daß Gödel eine paradoxe Aussage entdeckt hat, die ihre eigene Unbeweisbarkeit behauptet, noch daß er die Grenzenlosigkeit des menschlichen Geistes aufgezeigt hat. Daran, daß das von ihm in den Blick gebrachte Unvollständigkeitsphänomen eine wirkliche Revolution für Logik, Mathematik, theoretische Informatik und Philosophie des Geistes bedeutet, gibt es allerdings keinen Zweifel.

Ungeachtet der damit auch jeder kalkülmäßig aufgebauten Mengenlehre gesetzten Grenzen arbeitet die heutige Mathematik weithin mit mengentheoretischen Axiomen und (teils schon auf den Begründer der Mengenlehre, Georg Cantor, zurückgehenden) Begriffsbildungen. Gödel hat sich auch in die Entwicklung dieser axiomatischen Mengenlehre mit gewichtigen Beiträgen eingeschaltet. Daß es keine Menge gibt, deren Größe („Mächtigkeit“) die der Menge der natürlichen Zahlen echt übertrifft und zugleich echt kleiner als die der Menge der reellen Zahlen ist, hatte schon Cantor vermutet („Kontinuumhypothese“). Als unproblematisch galt lange Zeit die Annahme, daß es zu jeder Gesamtheit von nicht leeren elementfremden Mengen auch eine Menge gebe, die aus jeder Menge dieser Gesamtheit genau ein Element enthält („Auswahlaxiom“). Gödel konnte 1938 zeigen, daß sowohl die Hinzunahme der Kontinuumhypothese als auch die des Auswahlaxioms zu einem der üblichen Axiomensysteme der Mengenlehre widerspruchsfrei möglich ist, falls letzteres selbst keinen Widerspruch herzuleiten erlaubt. Als Paul J. Cohen 1963 beweisen konnte, daß im betrachteten Fall auch das Negat der Kontinuumhypothese und das Negat des Auswahlaxioms widerspruchsfrei hinzugenommen werden können, war damit die „Unabhängigkeit“ beider Aussagen von den übrigen Axiomen der Mengenlehre gezeigt.

Eine Erklärung von Gödels Beitrag zur Kosmologie erfordert die mathematischen Hilfsmittel der Einsteinschen Allgemeinen Relativitätstheorie und kann daher hier nicht gegeben werden. Gödel hatte, sicherlich aufgrund intensiver Diskussionen mit Einstein am Institute for Advanced Study, dessen Raum-Zeit-Modelle neu untersucht und dabei bis dahin unbekannte Lösungen der Gravitationsgleichungen gefunden, die auf „rotierende Universen“ hinauslaufen und z. B. Reisen an beliebige Orte in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als möglich erscheinen lassen – physikalische Realisierbarkeit vorausgesetzt. Der Titel seiner ersten Arbeit dazu (englisch 1949, deutsch 1955: „Eine Bemerkung über die Beziehungen zwischen der Relativitätstheorie und der idealistischen Philosophie“) läßt erkennen, daß sich Gödel in seinen späten Jahren vermehrt der Philosophie, vor allem dem Denken Leibnizens und Husserls, zuwandte. Sein Einfluß auf das Fach ist allerdings weitgehend auf die Philosophie der Mathematik beschränkt geblieben. Auf den Gebieten der Mathematik, der Beweistheorie und der formalen Logik dagegen hatten Gödels Resultate epochale Wirkung und John von Neumann, Mitbegründer der Informatik und der Spieltheorie, zog bei der Verleihung des Einstein-Preises an Gödel ein treffendes Fazit aus dessen Arbeiten mit den Worten: „The subject of logic will never again be the same.“

Werke: Collected Works, I-V, hrsg. v. Solomon Feferman et al. (Vol. I: Publications 1929-1936, New York/Oxford 1995; Vol. II: Publications 1938-1974, ebd. 1990; Vol.III: Unpublished essays and lectures, ebd. 1995; Vol. IV: Correspondence A-G, Oxford 2003; Vol. V: Correspondence H-Z, ebd. 2003).

Lit.: John W. Dawson, Jr., Kurt Gödel: Leben und Werk, Wien/New York 1999 (Logical Dilemmas: The Life and Work of Kurt Gödel. Wellesley, MA 1996). – Solomon Feferman, „Gödel’s Life and Work“, in: K. Gödel, Collected Works, Vol. I (s. u.), 1-36. – Gianbruno Guerrerio, Kurt Gödel. Logische Paradoxien und mathematische Wahrheit [Spektrum der Wissenschaft/Biografie], Heidelberg 2002 (Kurt Gödel, Paradossi logici e verità matematica, Milano 2001). – Ernest Nagel/James R. Newman, Der Gödelsche Beweis, Wien/München 1964, 51992 (Gödel’s Proof, New York 1958). – Christian Thiel, „Kurt Gödel: Die Grenzen der Kalküle“, in: J. Speck (Hrsg.), Grundprobleme der großen Philosophen, Philosophie der Neuzeit VI (Göttingen 1992), 138-181.

Bild: Ausschnitt aus einer Aufnahme (Gödel und Einstein) von Richard Arens. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. John W. Dawson, Jr.

Christian Thiel