Biographie

Gordan, Paul

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Mathematiker
* 27. April 1837 in Breslau
† 21. Dezember 1912 in Erlangen

Paul Gordan, der vor 100 Jahren starb, war gemeinsam mit Max Noether über 35 Jahre Ordinarius für Mathematik in Erlangen, 40 Jahre lang Mitherausgeber der Mathematischen Annalen. Seine Fachkollegen schätzten ihn sehr. Heute ist er den Physikern bekannter als den Mathematikern, weil jene bei der Kopplung quantenmechanischer Drehimpulse die sogenannten „Clebsch-Gordan-Koeffizienten“ benutzen.

Paul Albert Gordan wurde am 27. April 1837 in Breslau geboren. Er hatte drei ältere Brüder und eine Schwester, die Mutter Friedrike Friedenthal starb früh. Der Vater David Gordan war ein Kaufmann (Pelzhandel und Bankgeschäft in Breslau und Berlin). Paul verließ das Friedrichsgymnasium in Breslau in der Tertia, lernte im Geschäft des Vaters und besuchte die Handelsschule in Breslau. Zwei Jahre war er in einer Bank in Genf, dann wieder im väterlichen Geschäft, diesmal in Berlin. Dort wurde seine Neigung zur Mathematik von Schellbach gefördert, der am Friedrich Wilhelm-Gymnasium und an der Kriegsschule wirkte. Gordan hörte bei Kummer Vorlesungen über Zahlentheorie, bereitete sich nebenher auf das Gymnasialabsolutorium vor und erwarb im August 1857 am katholischen Gymnasium in Neisse das Reifezeugnis.

Das Mathematikstudium dauerte 9 Semester: In Königsberg wurde er durch Richelot und Rosenhain mit der Jacobischen Schule vertraut, also mit Variationsrechnung, Mechanik und elliptischen Funktionen, in Berlin hörte er Kroneckers Kolleg über Auflösung algebraischer Gleichungen. Seine Lehrer in Breslau waren Joachimsthal († 1861) und Schroeter. Am 1. März 1862 verteidigte Gordan seine Dissertation; sie beantwortete eine von Joachimsthal gestellte Preisfrage der Fakultät über die geodätischen Linien auf dem Erdsphäroid. Der Gutachter Schroeter erkennt das wissenschaftliche Streben des Verfassers an, lehnt die Form ab, erklärt die Arbeit aber des Preises „nicht unwürdig“.

Das Interesse an der Funktionentheorie zog Gordan nun im Herbst 1862 nach Göttingen zu Riemann, der jedoch bald erkrankt nach Italien reiste. In Göttingen erreichte Gordan die Aufforderung des gerade nach Gießen berufenen Alfred Clebsch, sich dort zu habilitieren. Clebsch war vier Jahre älter als Gordan, stammte aus Königsberg, hatte dort promoviert und sich in Berlin, wo er u.a. auch in Schellbachs Seminar tätig war, in Mathematischer Physik habilitiert. Am 29. Juli 1863 habilitierte sich Gordan in Gießen mit einer Arbeit über die Natur der Faktoren in den Transformationsgleichungen der elliptischen Thetafunktionen. Kritisiert wurde an der Arbeit, dass Erklärungen zu den Lösungswegen fehlten. Das hängt mit Gordans Arbeitsmethode zusammen: Er führte für jede Arbeit eine Anzahl von Formelheften, sehr gut geordnet, aber kaum mit Text versehen. Die weitere Textgestaltung und die Druckkorrekturen übernahmen dann mathematische Freunde.

In Gießen begann sehr schnell eine Zusammenarbeit über Riemanns Ideen zwischen Clebsch und Gordan, die zu dem gemeinsamen Werk Theorie der Abelschen Funktionen (erschienen 1866) führte, einem Meilenstein in der Entwicklung der algebraisch-geometrischen und funktionentheoretischen Methoden zur Behandlung algebraischer Kurven. Sicher hat der impulsive, rastlos treibende Gordan mit seinem hohen Geschick, Ideen in Formeln zu übersetzen und durch Rechnung zu überprüfen, wesentlich zu dem Gelingen dieses großen Werkes beigetragen, wenn er auch die Endredaktion der Meisterhand von Clebsch überließ. Die weiteren, durch das Buch ausgelösten Entwicklungen in der Theorie der algebraischen Funktionen hat Gordan nicht mehr aktiv verfolgt. Vielmehr hatte Clebsch den Freund nach der Fertigstellung des Buches in eine neue algebraische Welt eingeführt, die Invariantentheorie, und diesem Gebiet galten die weiteren mathematischen Arbeiten Gordans. Nur einmal hat sich Gordan noch nicht-algebraisch betätigt, als er 1893 von Hilbert und Hurwitz stammende Beweise der Transzendenz von π und e elementarisierte. Die Invariantentheorie dient der koordinatenunabhängigen algebraischen Beschreibung geometrischer Sachverhalte, sie ist eine Brücke zwischen Algebra und Geometrie. Technisch sieht das so aus: Eine Klasse geometrischer Figuren wird durch einen Koordinatenring R beschrieben, auf dem eine Gruppe G von Koordinatentransformationen operiert. Koordinatenunabhängige Eigenschaften der Figuren werden durch die G-invarianten Funktionen (kurz: Invarianten) auf R beschrieben. Mit der Durchführung dieser Idee in einzelnen Fällen hatten sich viele bedeutende Mathematiker seit der Mitte des 19. Jahrhunderts befasst. Der Engländer Cayley hatte schon 1856 die Frage gestellt, ob alle Invarianten durch endlich viele Invarianten ausdrückbar sind. Cayley glaubte, die Frage schon in einem einfachen Fall, den aus n Punkten auf einer Geraden bestehenden Figuren, verneinen zu müssen. Umso überraschter war die Fachwelt, als Gordan 1868 sein berühmtes Endlichkeitstheorem bewies: In dem Fall von n Punkten kann man alle Invarianten durch endlich viele ausdrücken. Tatsächlich konnte das 19. Jahrhundert das nur bis n = 6 explizit durchführen, weil die Komplexität des Problems mit n enorm schnell wächst. Aber Gordan gab einen expliziten Algorithmus an, mit dem man im Prinzip die endlich vielen erzeugenden Invarianten für jedes n explizit bestimmen kann. Im gleichen Jahr erkannte er, dass dieser Endlichkeitssatz eine Eigenschaft der hier zuständigen Gruppe SL2(C) der Matrizen  ist, wo a, b, c, d Zahlen mit ad – bc = 1 sind. Bei jeder Operation dieser Gruppe auf einem Polynomring erhält man endlich viele erzeugende Invarianten.

Mit diesen und vielen folgenden Arbeiten wurde Gordan der „König der Invariantentheorie“, bisweilen auch „Invarianten­hexer“ genannt wegen seiner Fähigkeit, lange algebraische Rechnungen auf seinen täglichen ausgedehnten Spaziergängen im Kopf durchzuführen, so dass er sie zu Hause nur noch niederschreiben musste, fast ohne sie verbessern zu müssen.

Die Übertragung des Endlichkeitssatzes auf andere Gruppen, also auf ebene und räumliche Figuren, gelang weder Gordan noch seinen Kollegen, die benutzten Methoden führten in einen undurchdringlichen Dschungel. Völlig neue Ideen mussten her, um hier voranzukommen. Sie fand der junge Königsberger David Hilbert 1890 und 1893 in zwei epochalen Arbeiten, in denen er die Gordanschen Resultate auf alle Dimensionen er-weiterte. Heute ist Hilbert der Altmeister der Invariantentheorie, seine Methoden sind bis heute vital, während Gordans Kalküle ein Nischendasein führen. Der Endlichkeitssatz blieb das Hauptergebnis der Gordanschen Mathematik, doch muss ich erwähnen, dass Clebsch und Gordan 1868 unabhängig voneinander die heute noch in der Physik lebendigen Clebsch-Gordan-Koeffi­zi­enten fanden.

Im Januar 1869 vermählte sich Gordan mit Sophie Deurer, Tochter von Wilhelm Deurer, Professor für römisches Recht in Gießen. Aus der Ehe ging der Sohn Paul hervor, ein Enkel Gor­dans stiftete zum 110. Geburtstag Gordans eine Gedenktafel an Gordans Wohnhaus in Erlangen (Goethestraße 4). Clebsch folgte 1868 einem Ruf nach Göttingen. Gordan, seit 1865 Extraordinarius, nahm 1874 einen Ruf nach Erlangen an, wo der einzige Ordinarius Felix Klein, der sich ebenfalls bei Clebsch habilitiert hatte, ein Extraordinariat errungen hatte. Als Klein 1875 nach München ging, wurde Gordan als sein Nachfolger Ordinarius, das Extraordinariat erhielt der Clebsch-Schüler Max Noether, ein stiller, hochgebildeter Mann, durch Kinderlähmung behindert, dessen Stelle 1888 zum zweiten Ordinariat für Mathematik in Erlangen verbessert wurde. Gordan und Klein trafen sich nach 1875 öfters in der Mitte zwischen Erlangen und München, in Eichstätt, wo sie gemeinsam an der Auflösungstheorie der Gleichungen der Grade 5, 6 und 7 arbeiteten, auch an Kleins berühmtem Ikosaederbuch wirkte Gordan mit. In Erlangen blieben Gordan und Noether 35 Jahre lang die Vertreter der Mathematik, beide hochgeachtet, Mitglieder in- und ausländischer Akademien, Max Noether als ein Vater der Algebraischen Geometrie der wissenschaftlich bedeutendere von beiden. Der einzige Doktorand Gordans war Noethers Tochter Emmy, die im Jahr 1907 bei ihm mit einer Arbeit über Invarianten von Kurven vierten Grades promovierte – mit den alten Methoden von Gordan.

Gordan war im Charakter ein wahrer Gegenpol zu Noether: Er liebte tägliche Spaziergänge, oft mit Mitarbeitern in drastisch lebhaften Zwiegesprächen vertieft, ohne die Umgebung wahrzunehmen. Er liebte Zigarren und Cafés, Geselligkeit, den Ver­kehr im mathematischen Verein, er war ein fantasievoller Unterhalter. Auf deutschen und internationalen Mathematiker­versammlungen war er immer ein belebendes Element. Er war an der Gründung der Deutschen Mathematiker-Vereinigung beteiligt und 1894 ihr Vorsitzender.

Zweimal war er Dekan seiner Fakultät, die ihm mehrfach Ehrungen zukommen ließ. In seinen Vorlesungen wirkte er als Algebraiker und Algorithmiker, theoretische Begriffsbildungen wie den Grenzwert in der Analysis mied er. Max Noether sagt in seinem Nachruf, dass Gordans Vorlesungen mehr durch die Lebhaftigkeit der Ausdrucksweise und durch eine zum Selbststudium anregende Kraft wirkten als durch Systematik und Strenge.

Nach seiner Emeritierung 1910 las er weitere vier Semester, neben seinem Nachfolger Erhard Schmidt. Erst als mit dem zweiten Nachfolger Ernst Fischer ein Algebraiker nach Erlangen kam, gab er das Lehren auf. Er starb nach einem Schwächeanfall am 21.12.1912 und wurde auf dem Neustädter Friedhof begraben. Im Jahr 1996 wurde im Rötelheimpark in Erlangen eine Straße nach Paul Gordan benannt.

Lit.: Max Noether: Paul Gordan (Nachruf mit Schriftenverzeichnis, das 5 Bücher und 84 mathematische Abhandlungen enthält), Mathematische Annalen 75 (1914), 1-141.

Bild: Wikipedia.

Wulf-Dieter Geyer