Biographie

Graetz, Heinrich (Hirsch)

Herkunft: Posener Land
Beruf: Historiker
* 31. Oktober 1817 in Xions bei Posen
† 7. Oktober 1891 in München

Durch das preußische Emanzipationsedikt vom 11. März 1812 wurde den einzelnen Juden zwar die bürgerliche Gleichberechtigung zugesprochen, zugleich aber dem Judentum als Ganzem im Geist eines vermeintlichen Fortschritts das Lebensrecht aberkannt. Schon 1789 hatte der Graf von Clermont-Tonnère in der französischen Nationalversammlung die Forderung aufgestellt: „Den Juden als Menschen alles, als Nation aber nichts.“ Der christliche Staat setzte auf die Assimilation seiner jüdischen Bürger und die Taufe als Lösung der ,Judenfrage‘. Innerhalb der jüdischen Gemeinden erreichten die Auseinandersetzungen zwischen der traditionellen Orthodoxie und einem aufklärerischen Liberalismus unter diesen Rahmenbedingungen oft tumultuarische Ausmaße.

Graetz wurde also in eine Umbruchzeit hineingeboren. Er nutzte die neueröffneten Möglichkeiten konsequent, beteiligte sich an den innerjüdischen Klärungsprozessen stets in vorderster Front und formte das moderne jüdische Selbstbewußtsein in einer Weise, die erst jetzt wieder in ihrem ganzen Umfang gewürdigt wird. Seine erste Bildung gewann Graetz weitgehend autodidaktisch. Sein Vater, ein armer Fleischer, ermöglichte ihm unter großen Opfern die Fortsetzung seiner Ausbildung bei dem Wollsteiner Rabbiner Samuel Munk, der Graetz noch ganz im Sinn der altehrwürdigen Tradition in die Welt der talmudischen Wissenschaft einführte. Bedeutender allerdings wurde der Einfluß des Oldenburger Landesrabbiners Samson Raphael Hirsch (1808-1888), der gegenüber aller voreiligen Assimilation die Forderung aufgestellt hatte: „Die Reform, deren es bedarf, ist eine Erziehung der Zeit zur Thora, nicht eine Nivellierung der Thora nach der Zeit.“ Bei Hirsch, dem geistigen Vater der jüdischen Neu-Orthodoxie, studierte Graetz nicht nur die hebräische Bibel und die rabbinischen Schriften gründlichst, sondern beschäftigte sich daneben auch so energisch mit den Grundlagen der allgemeinen gymnasialen Bildung, daß er 1842 an der Breslauer Universität immatrikuliert werden konnte.

Bereits seine Dissertation über Gnostizismus und Judentum von 1846 wirkte insofern bahnbrechend, als es Graetz erstmals gelang, den quellenmäßig solide gestützten Nachweis dafür vorzulegen, „daß die Entstehung und der erste Verlauf des Christentums […] in der Agada der talmudischen Zeitepoche wurzelt und ohne deren gründliches Verständnis ein unlösbares Rätsel bleibt“. Diese grundlegende Einsicht gehört heute zum Allgemeingut jeglicher neutestamentlichen und kirchenhistorischen Arbeit.

Es folgten schwere und für Graetz perspektivelose Jahre. Der übliche Weg in ein Rabbinat verbot sich für ihn von selbst, weil er keinerlei rhetorische Fähigkeiten besaß. Versuche, sich an jüdischen Bildungseinrichtungen zu etablieren, scheiterten vorerst auch mehrfach, weil diese Institute nicht florieren wollten. Erst 1854 erreichte Graetz der Ruf an das soeben gegründete Jüdisch-Theologische Seminar Fraenckelscher Stiftung in Breslau. Damit gewann Graetz nicht nur die stabile Basis für sein imposantes Lebenswerk, sondern auch das Breslauer Seminar einen Gelehrten als Dozenten, der – neben anderen hochbefähigten Kollegen – dafür sorgte, daß diese Hochschule für jüdische Wissenschaften sogleich internationalen Rang gewann. Schon bevor ihn der Ruf nach Breslau erreichte, hatte Graetz allerdings mit der Ausarbeitung eines Werkes begonnen, dessen Bedeutung für das moderne Judentum epochalen Rang gewinnen sollte. Die schließlich elfbändige Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, an der Graetz von 1853-1875 arbeitete, stellt in jeder Hinsicht eine bewunderungswürdige Leistung dar. Der Historiker unternahm mit diesem Werk nichts weniger als den Versuch, eine mehr als dreitausendjährige Geschichte, deren Schauplatz die ganze „Oikumene“ im antiken Sinn war, im Zusammenhang darzustellen. Die eigentliche Waghalsigkeit diese Versuchs wird allerdings erst dann voll gewürdigt, wenn man sich bewußt macht, daß es seit des Josephus Zeiten eine jüdische Geschichtsschreibung nicht mehr gegeben hatte. Die Quellen zu einer jüdischen Gesamtgeschichte waren niemals gesammelt worden und mußten zumeist erst aus Zusammenhängen herausgefunden werden, die mit Juden und Judentum oft allenfalls von ferne zu tun hatten. Aber es ging ja nicht nur um die Erfassung der Quellen allein, sondern auch darum, deren Nachrichten zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammenzufügen. War solches Bild dann aber zumindest in seinen Umrißlinien erkennbar geworden, so stellte sich schließlich auch noch die Frage nach der „Konstruktion der jüdischen Geschichte“.

Graetz hat auf allen diesen Teilgebieten Erstaunliches zuwege gebracht. Ausgestattet mit einer stupenden Arbeitskraft, hat er ganze Zeitepochen jüdischer Geschichte quellenmäßig überhaupt erstmals bearbeitet. Seine in den Anmerkungen versteckten Exkurse zur Interpretation einzelner Quellenstücke erreichen nicht selten die Länge regulärer Aufsätze. Die Begeisterung für die jüdische Geschichte und eine schöpferische Phantasie befähigten Graetz dazu, auch in solchen Bereichen zu einem in sich geschlossenen Bild zu kommen, wo die tatsächlich zur Verfügung stehenden Überlieferungen noch reichlich dürftig waren. Dazu war Graetz ein zumeist glänzender Stilist, der vor polemischen Überspitzungen nicht zurückscheute, wenn es der Verdeutlichung des eigenen Standpunkts dienen konnte. Die „Konstruktion der jüdischen Geschichte“ erkannte Graetz schließlich als eine doppelte: Die äußere Geschichte des Judentums schilderte er als Leidensgeschichte, die innere aber als Geistesgeschichte: „Forschen und wandern, denken und dulden, lernen und leiden füllen die lange Reihe dieses Zeitraumes aus.“

Graetz hat wie so viele geniale Neuerer auch reichlich Kritik erfahren. Die späteren, vielfach besser ausgestatteten Vertreter der Wissenschaft des Judentums haben ihm mangelnde Sorgfalt im Umgang mit den historischen Quellen vorgeworfen, andere haben die polemischen Schärfen seiner Darstellung bedauert, wieder andere beklagten das fast völlige  Fehlen wirtschaftshistorischer und sozialgeschichtlicher Aspekte in Graetz‘ Arbeiten, und für die meisten Vertreter eines Judentums, das sich im Aufschwung sah, war eine Gesamtdarstellung der jüdischen Geschichte als einer Leidensgeschichte einfach peinlich. Vieles an diesen Vorwürfen ist natürlich berechtigt. Wer sich als erster in Neuland vorwagt, geht oft auch Umwege, weil es noch am rechten Überblick fehlt, und er geht an manchem vorbei, ohne es recht zu würdigen, weil der Zwang, ein in unbekannter Ferne liegendes Ziel zu erreichen, übermächtig ist. So hat das völlige Unverständnis von Graetz für den Gesamtbereich der jüdischen Mystik, der Kabbala und des Chassidismus, gewiß auch verhängnisvoll gewirkt. Aber darin war der Breslauer Historiker dann eben auch wieder ganz das Kind einer Zeit, in der ein oft naiver Aufklärungsoptimismus den Blick auf die Gesamtwirklichkeit menschlicher Existenz verstellen konnte. Trotz solcher Mängel hat Graetz mit seiner Geschichte der Juden tiefgreifenden Einfluß auf das Selbstbewußtsein des modernen Judentums gewonnen. Die kürzere, lediglich dreibändige Fassung unter dem Titel Volkstümliche Geschichte der Juden, die erstmals 1888 erschien, wurde zu einem richtigen jüdischen Hausbuch. Sie erlebte mindestens zehn Auflagen, wurde auch ins Englische, Französische, Hebräische, Jiddische, Polnische und Russische übersetzt und 1985 nochmals komplett als Taschenbuchausgabe in München nachgedruckt. Vor dem Glanz dieser bahnbrechenden Leistung mußten die anderen wissenschaftlichen Arbeiten von Graetz im Gedächtnis der Nachwelt zurücktreten. Seine exegetischen Untersuchungen atmen den hyperkritischen Geist seiner Zeit. Die historischen Einzelstudien, zumeist Vorarbeiten zur großen Geschichtsdarstellung, füllen Hunderte von Seiten in der berühmten Breslauer Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, die Graetz neben allen sonstigen amtlichen Verpflichtungen über viele Jahre hin redigiert hat. Graetz hat noch das Aufkommen des Zionismus erlebt, dem er skeptisch gegenüberstand, während er in der „Alliance Israelite Universeil“, dem 1860 gegründeten internationalen jüdischen Hilfsverband,im Zentralkomitee mitarbeitete. Auf den rassistischen Antisemitismus, der in seiner Zeit erstarkte, hat Graetz schon im letzten Band seiner Geschichte des jüdischen Volkesmit Sorge hingewiesen und diese „Rassenüberhebung“ als einen Verlust an Humanität gegeißelt. Im Berliner Antisemitismusstreit von 1879, der durch einen kurzen Aufsatz von Heinrich von Treitschke (1834-1896) in den „Preußischen Jahrbüchern“ eröffnet wurde, hat Graetz ausführlich Stellung genommen. Treitschke hatte das böse Wort „Die Juden sind unser Unglück!“ kolportiert und Graetz persönlich „hohle, beleidigende Selbstüberschätzung" vorgeworfen. In seiner Antwort auf Treitschke kam Graetz auch noch einmal auf die Beurteilung des Christentums in seinerGeschichte des jüdischen Volkes zurück: „Ich mußte allerdings auch von dem späteren Christenthum sprechen, von dem gefälschten Christenthum, dem Christenthum der Lieblosigkeit, der Herzenshärte, der Menschenschlächterei, welches das Wort seines Meisters von hingebender Menschenliebe, Milde und Demut verleugnet hatte. Ich hatte die tausendfachen Leiden der Juden durch dieses Christenthum zuschildern, habe mit Gefühlswärme geschildert, und kein Blatt vor den Mund genommen.“

Sein Grab fand Graetz auf dem alten jüdischen Friedhof in Breslau,wo es die Zeit des Nationalsozialismus noch überdauerte. Erst nachdem Kriege wurde es zerstört und eingeebnet.

Werke: Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Aus den Quellen neu bearbeitet. Leipzig-Berlin 1853-1876 [die letzte Ausgabe erschien wahrscheinlich in Wien 1923]; – Volkstümliche Geschichte der Juden. Leipzig 1888 [die letzte Ausgabe wurde wohl 1923 in Berlin-Wien gedruckt; Nachdruck in 6 Bdn. München: dtv 1985]. – Gnostizismus und Judentum. Krotoschin 1846; – Briefwechsel einer englischen Dame über Judentum und Semitismus. Stuttgart 1883; – Tagebuch und Briefe, hg. von Michael Reuven, Tübingen 1977.

Lit.: Festschrift Heinrich Graetz. Abhandlungen zu seinem 100. Geburtstage. Wien-Berlin 1917 [darin ein „Verzeichnis von H. Graetzens Schriften und Abhandlungen“, zusammengestellt von Markus Brann]; – Josef Meisl: Heinrich Graetz. Eine Würdigung des Historikers und Juden zu seinem 100. Geburtstag. Berlin 1917; – Felix Priebatsch: Heinrich Graetz, in: Schlesische Lebensbilder Bd. 2: Schlesier des 18. und 19. Jahrhunderts, hg. von der Historischen Kommission für Schlesien. Nachdruck Sigmaringen 1985, S. 286-290; – Guido Kisch (Hg.): Das Beslauer Seminar. Jüdisch-Theologisches Seminar (Fraenckelscher Stiftung) in Breslau 1854-1938. Gedächtnisschrift. Tübingen 1963 [darin mehrere Aufsätze zu Graetz und seiner Bedeutung für die jüdische Geschichtswissenschaft]; – Walter Boehlich (Hg.): Der Berliner Antisemitismusstreit (Sammlung insel 6). Frankfurt/M. 1965.

Bild: P. Maser