Biographie

Graß, Karl Gotthard

Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
Beruf: Maler, Schriftsteller
* 19. Oktober 1767 in Serben/ Livland
† 3. August 1814 in Rom

Karl Gotthard Graß war Sohn des Pastors Karl Johann Graß und der Maria Magdalena, geb. Steingötter, Sproß einer Literatenfamilie, deren „frühester Ahn“ aus Breslau um 1700 nach Livland gekommen war. Schulische Ausbildung erhielt er beim Vater in Serben, seit 1782 am Rigaer Lyceum, wo er auch von dem Landeskundeforscher Johann Christoph Brotze im Zeichnen unterrichtet wurde. Bereits damals erteilte er selbst Zeichenunterricht.

Auf der Reise zu seinem Theologiestudium in Jena 1786 lernte er bei einem kurzen Aufenthalt in Dresden Friedrich Schiller kennen, woraus sich ein Briefwechsel bis zu Schillers Tod ergab. Graß hatte eigentlich vorgehabt, sein Studium in Göttingen fortzusetzen, aber durch die Berufung Schillers 1788 nach Jena gab er diesen Plan auf. Eine Herbstreise 1789 führte ihn durch Thüringen bis nach Wien. Im Sommer 1790 ermöglichte Onkel Steingötter ihm eine Reise gen Süden. Bekanntschaften dieser Reise waren Sophie von Laroche in Offenbach und Daniel Schubart in Stuttgart. Durch den Weimarer Kunstprofessor Johann Heinrich Lips kam er 1791 zu Goethe und wurde Herzogin Amalia vorgestellt, auch besuchte er Friedrich Klopstock in Hamburg. Auf einer Reise lernte er Novalis bei Arnstadt kennen.

Nach dem Studium kehrte er in seine Heimat zurück. Er verdiente in Riga als Zeichenlehrer seinen Unterhalt und lebte in freundschaftlichem Verkehr mit dem Komponisten Johann Friedrich de La Trobe, einer Bekanntschaft aus Jena, dem Dichter Samuel Andreae und dem Publizisten Garlieb Merkel. 1792 nahm Schiller zwei Gedichte „von einem jungen Maler“ in seine Rheinische Thalia auf. Dem theologischen Berufsweg ist er ausgewichen. Zwar war er 1796 kurze Zeit Prediger in Sunzel, aber eine unglückliche Liebe veranlasste ihn, seine Heimat im Mai 1796 auf immer zu verlassen und den geistlichen Beruf aufzugeben. Mit dem Kunstjünger Johann Wilhelm Krause, dem späteren Professor für Baukunst an der Universität Dorpat, bereiste er die Schweiz.

Er ging nach Zürich, wo er im Kreise von Ludwig Heß mit der dortigen Künstlerschaft ver­kehrte und Johann Lavater und Heinrich Pestalozzi kennen lernte. Zu Heß stand er in einem Schülerverhältnis. Gemeinsame Malerwanderungen durch die Schweizer Bergwelt prägten sein künstlerisches Schaffen. Auch nach dem Tod von Heß 1800 setzte er seine Bergwanderungen fort. Aus dieser Zeit haben sich einige Gouachen von Alpenlandschaften (Kunsthandel München 1989/90) erhalten, welche seinen künstlerischen Rang belegen. Zeitweilig war er Gast im Hause des Dichters Johann Gaudenz v. Salis in Chur. Nach einem Aufenthalt in Paris 1801 kehrte er nach Zürich zurück, um dann 1803 für immer nach Italien zu gehen.

Der Schriftsteller Philipp Josef Rehfues lud Graß 1804 zu einer Sizilienreise ein, an der auch Karl Friedrich Schinkel teilnahm. Er trennte sich von den Reisegefährten, hielt sich bis Juli 1805 in Neapel auf und durchstreifte Sizilien. Mehrere Wochen lebte er einsam in dem verfallenen Castel de Broso seinem künstlerischen Bestreben.

Er kehrte 1805 nach Rom zurück, fand in dem Malteser-Komtur v. Rechberg einen Förderer, auch verkehrte er häufig in der Casa Tomati, dem Künstlertreff Wilhelm von Humboldts, auch den Kindern Religionsunterricht erteilend, und im Kreis von Joseph Anton Koch.

Immer wieder suchte er das einfache Leben, so auch 1808 mehrere Monate bei armen Mönchen im Kloster Pallazuola. Sein Freund Georg Dillis hat 1808 ein Ölporträt von ihm gemalt, das Prof. Karl Morgenstern, Altphilologe der Universität Dorpat, 1809 zur Familie nach Riga sandte. Graß hatte sich inzwischen auch der Ölmalerei zugewandt und mit dem vierteiligen Gemäldezyklus Sizilianische Landschaften sein Hauptwerk geschaffen, das 1809 auf einer Kunstausstellung auf dem Kapitol Aufmerksamkeit erregte. König Joachim Murat war interessiert, aber Graß überließ den Zyklus zu einem geringeren Preis seinem Landsmann Wilhem von Schröder, damit die Bilder als sein künstlerisches Vermächtnis in seine Heimat kämen. Graß hat eine Beschreibung der vier Landschaften verfasst, die in Merkels Zeitung für Literatur und Kunst (3. Februar 1812) erschien und mit dem Satz endete „Möge es Riga immer wohlgehen! Und mögen alle Genien des Menschen und immer auch der Genius der Kunst dort einen Altar haben!“ Nach dem Tod Schroeders kamen die Bilder ins Himsel­sche Museum, aus dem das Rigaer Kunstmuseum hervorgegangen ist, wo sie noch heute zu betrachten sind.

Mit seiner baltischen Heimat, von wo ihm wiederholt Aufträge zu Bildern zukamen, stand er weiter in enger Verbindung. Auch literarische und dichterische Arbeiten finden sich in Zeitschriften und Almanachen seiner Hei­mat, wie in Merkels Zeitschrift für Literatur und Kunst sowie im Zuschauer, im Morgenblatt, Mit zehn Liedern beteiligte er sich am Neuen Ri­ga­ischen Ge­sangbuch von 1810.

1812 vermählte er sich mit Maria Antonia, verw. Grassi, mit der er einen Sohn Gustav hatte. Eine Reise in seine livländische Heimat, welche er sich 1814 vorgenommen hatte, konnte er der napoleonischen Kriege wegen nicht antreten. Sein Leben fand im Alter von 46 Jahren ein jähes Ende, als er „sich im Fieber auf­raffte und auf der Treppe zu Tode stürzte“. Graß hatte über sein anspruchloses Leben resümiert: „Ich that meiner innersten Natur und Anlage Genüge. Dieses Bewußtsein wird mein Lorbeer sein und meinen Grabhügel schmücken.“

Seine Landschaften, auch als Kupfer in größerer Zahl erschienen, zum Teil als Illustrationen seiner Reisebeschreibungen, poetische und prosaische Aufsätze (Zschokkes Erheiterungen), Gedichte und Briefe, manches erst nach dem Tode veröffentlicht, wie wohl sein Hauptwerk, Sizilische Reise, zwei Theile mit 26 Kupfern (Stuttgart/Tübingen 1815) zeigen Graß als einen typischen romantischen „seelenvollen“ (Zschokke) Maler-Dichter, aber auch als einen zivilisationskritischen Schriftsteller, in den Reisebeschreibungen soziale Verhältnisse schildernd, aber auch „praktische Reisetips“ gebend. 1805 schrieb Schiller an den Maler Johann Christian Reinhart nach dem Erhalt einer Zeich­nung von Graß, daß diese ihm viel Freude gemacht habe, aber „er scheint mir mit der Kunst noch zu sehr gespielt zu haben und die mühsamen Wege der Vollendung zu scheuen. An Phantasie und Empfindung fehlt es ihm gewiss nicht, um et­was Vor­treffliches zu leisten, wenn es damit allein getan wä­re“. Gegensätzlichkeiten galten auch für seine schriftstellerische und dichterische Arbeit, in Bezug auf die wohl von dem Schriftsteller Rehfuß beobachteten romantisierenden Gedichte und Reisefeuilletons bis zu seinen geistlichen Liedern. Rehfuß schrieb, dass er „eine wirkliche Anlage zur Dichtkunst“ hätte, „aber sie war wenig ausgebildet, und er nahm es mit Sprache und rhythmischer Technik etwas leicht.“ So kamen sowohl zum Malen als auch zum Dichten Vorwürfe ähnlicher Art. Aus den Zeilen Schillers ist gewissermaßen auch der Konflikt zwischen Klassik und Romantik herauszulesen. Schillers Kunstan­schauungen, sie mögen hier auf das „Er­habene“ zielen, entsprachen wohl nicht den romantischen Be­strebungen von Graß, in dessen Schaffen selbst ja auch dieser Konflikt zu erkennen ist, in seinen rokokohaf­ten Bezügen, wie z.B. das Tüpfelnde und die Weißhöhungen in seinen früheren Wer­ken gegenüber seinen romantischen Gebirgslandschaften, denen wiederum klassizistische Italienland­schaften und scharf umrissene Radierungen und Zeichnungen gegenüber stehen.

Eine größere Internet-Präsenz belegt ein Interesse an seinem beziehungsreichen und doch einzelgängerischen Leben, das im Zwiespalt seiner Doppelbegabung etwas Unentschiedenes hatte, wozu auch seine idealistischen Anschauungen beitrugen. Genannt seien die ihm Vorausgehenden, sein Landsmann, der Maler klassisch-romantischer Italienlandschaften Johann Jakob Müller-Riga und der „nach Syrakus spazierende“ Johann Gottfried Seume, der sich 1792 in sein Stammbuch eingetragen hatte.

In Schweizer Sammlungen (Kunsthaus Zürich), in der Lettischen National­ga­le­rie Riga, Kadrioru Kunstimuuseumis Tallinn und in mehre­ren deutschen Museen (Halle, Greifswald, Re­gensburg, Goethe-Museum Düsseldorf) sind Werke von Graß nach­zu­weisen.

Lit.: Thieme-Becker. – Schweizerisches Künstler-Lexikon. – Allgemeines Künstlerlexikon usw. 2008, Bd. 60: Wilhelm Neumann: Baltische Maler und Bildhauer des XIX. Jahrhunderts, Riga 1902, S. 17-20 (3 Abb.) . – Wilhelm Neumann, Lexikon Baltischer Künstler, Riga 1908 (ND Hannover-Döhren 1972) S. 53f. – Wilhelm Graß, Karl Gotthard Graß, ein Balte aus Schillers Freun­des­kreis, Reval 1912. – Hans Geller, Die Bildnisse der deutschen Künstler in Rom 1800-1830, Berlin 1952 S. 58, 132. – O. v. Petersen, Goethe und der baltische Osten, Reval 1930 (ND Hannover-Döhren 1976), S. 95-103. – Deutsch-Baltisches biographisches Lexikon. Hrsg. Wilhelm Lenz, Köln usw. 1970, S. 255f. – Katalog Zeichnungen und Aquarelle deutscher Meister 1700 bis 1900, Aus den Sammlungen der Stiftung Pommern Kiel. Hrsg. Helmut Börsch-Supan, Kiel 1979, S. 17f. – Herbert Günther, Künst­lerische Doppelbegabungen, 2. Aufl. München 1960-87, S. 66f. – Karin Volland (Hrsg.), Malerei des 19. Jahrhunderts, Bestandskatalog Staatliche Galerie Moritzburg Halle, Halle 1996, S. 88 (1 Abb.) . – Ausstellungsmappe Sehnsucht nach den Bergen – Schweizer Landschaften in der baltischen Kunst, Kadriorg 2008.

Bild: Portrait Georg Dillis aus: Wilhelm Graß s.a.O., Reval 1912.

Helmut Scheunchen