Biographie

Günther, Johann Christian

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Dichter
* 8. April 1695 in Striegau/Schlesien
† 15. März 1723 in Jena

Johann Christian Günther ist der bedeutendste deutsche Lyriker in der Zeit des Übergangs vom Barock zur Aufklärung. In seinem kurzen, von polemischen Auseinandersetzungen und familiärem Zerwürfnis, von Krankheit und materiellem Elend überschatteten Leben hat Günther, der noch nicht 28jährig in Thüringen gestorben ist, ein dichterisches Werk von in seiner Zeit einzigartiger künstlerischer Qualität geschaffen. Es umfaßt, neben dem SchuldramaDie von Theodosio bereuete Eifersucht (1715), annähernd 600 Gedichte mit rund 40.000 Versen.

Es liegt auf der Hand, daß ein solches Leben sehr rasch zum Gegenstand der Legendenbildung und romanhafter Ausschmückung werden mußte; sie haben zum Teil bis heute das Günther-Bild nicht unwesentlich geprägt. Der ungestüme, dem Wein und der Liebe allzu leichtfertig hingegebene Dichter sei, so der Kern der Günther-Legende, zum Opfer seiner eigenen Unangepaßtheit geworden. In diesem Sinne hatte schon Günthers Vater 1738 geschrieben, sein Sohn sei "eintzig und allein fortunae suae sinistrae faber", Urheber seines finsteren Geschicks, gewesen, eine Einschätzung, die Goethe in Dichtung und Wahrheit in die kanonische Formulierung gebracht hat: "Er wußte sich nicht zu zähmen, und so zerrann ihm sein Leben wie sein Dichten". Aufgrund dieser Urteile haben gerade solche Dichter der Moderne, die sich, wie etwa Georg Heym, als gesellschaftliche Außenseiter verstanden, in Günther ihren genialen Vorläufer verehrt.

Die historische Wahrheit ist freilich sehr viel komplizierter. Günthers Unglück erklärt sich vor allem aus seinem in einem humanistischen Dichter-Ethos begründeten Versuch, in einer dichtungsfeindlichen Umgebung und Zeit die große schlesische Dichtungstradition des 17. Jahrhunderts fortzuführen. Günther wollte gerade nicht ein Neuerer sein, sondern er hat sich bewußt in die Nachfolge der großen schlesischen Barockdichter von Opitz bis Hoffmannswaldau gestellt, sich auf die antiken Musterautoren Ovid, Horaz, Vergil berufen und die neulateinische Dichtungstradition aufgegriffen. Hieraus entwickelte er ein dichterisches Selbstverständnis, das ihn sehr rasch in einen grundlegenden Widerspruch zu den gesellschaftlichen Bedingungen seiner Zeit bringen mußte. Denn während Günther die Poesie ganz ins Zentrum seiner Existenz stellen und ihr als Berufsdichter den hohen Rang zurückgewinnen wollte, den sie in der Antike, im Humanismus und im Barock besessen hatte, ließ doch gerade diese Zeit des Übergangs vom 17. zum 18. Jahrhundert nur einen sehr schmalen Raum für die Dichtung: Die unter dem Druck des Pietismus sich verhärtende lutherische Orthodoxie stand ihr mit Mißtrauen gegenüber, dem im Zeichen der Frühaufklärung sich entfaltenden bürgerlichen Nützlichkeitsdenken galt sie als überflüssiger Zeitvertreib, in den Städten war sie zum galanten Gesellschaftsspiel und zum Freizeitvergnügen herabgesunken. In dieser Situation mußte Günthers verzweifelte Suche nach einem Mäzen, der ihm eine Existenz als Dichter hätte ermöglichen können, erfolglos bleiben; einen literarischen Markt, in dem er als Berufsdichter hätte überleben können, gab es in dieser Zeit ja noch nicht einmal in Ansätzen. Aus diesem Widerspruch zwischen Günthers hohem dichterischen Anspruch und den ungünstigen literarisch-gesellschaftlichen Bedingungen seiner Zeit erklärt sich seine Lebensmisere.

Die Stationen seiner Biographie sind rasch aufgezählt. Dem Sohn eines vermögenslosen Landarztes gelang es schon während seiner Schulzeit in Schweidnitz (1710 bis 1715), seine Lehrer auf sein poetisches Talent aufmerksam zu machen. Im Auftrag der bürgerlichen Oberschicht von Schweidnitz und Umgebung entstanden zahlreiche Gelegenheitsgedichte; der erste erhaltene Einzeldruck stammt aus dem Jahre 1712. Die Liebe zu der sechs Jahre älteren Leonore Jachmann fand seit dem Sommer 1714 Gestalt in zahlreichen Liebesgedichten, in denen Günther durch die Intensität des persönlichen Gefühlsausdrucks die Grenzen der traditionellen rhetorisch-argumentativen Poesie zu überschreiten begann und damit einen neuen Ton in die deutsche Dichtung brachte.

Als Verhängnis erwies sich Günthers dichterischer Ehrgeiz erst in Wittenberg, dem Sitz der lutherischen Orthodoxie. Er hatte sich an der dortigen Universität im November 1715 als Student der Medizin eingeschrieben und schon im April 1716 den humanistischen Ehrentitel eines Kaiserlich gekrönten Dichters (Poeta Laureatus Caesareus) erworben, um sein Ansehen als Dichter zu festigen. Er verschuldete sich dabei beträchtlich; Schuldgefängnis und Bruch mit dem Vater waren die Folge. Günther begab sich daraufhin 1717 ins weltoffene Leipzig, aber auch hier konnte er ohne feste Anstellung als Dichter auf Dauer nicht überleben. Bemühungen seiner Leipziger Förderer, für Günther einen Mäzen zu finden, schlugen fehl. Schließlich scheiterte im August 1719 auch der Versuch, Günther am Dresdner Hof eine Stelle als Gehilfe des Hofdichters Johann von Besser zu verschaffen, aufgrund eines legendenumwobenen Versagens bei der Vorstellungsaudienz.

Günther kehrte darauf nach Schlesien zurück, lag im Frühjahr 1720 monatelang krank und mittellos im Armenhaus von Lauban und nahm danach seine unstete Wanderung im oberschlesischen Raum auf der Suche nach Gönnern wieder auf. Im Winter 1720/21 versuchte er im oberschlesischen Grenzgebiet um Kreuzburg eine bürgerliche Existenz durch seine Niederlassung als Arzt und das Verlöbnis mit der Pfarrerstochter Johanna Barbara Littmann aufzubauen, die er in seinen Gedichten als Phillis besang, aber auch hier scheiterte er an den geforderten Bedingungen: Versöhnung mit dem Vater und Erwerb des Doktortitels. Im Oktober 1722 verließ Günther für immer sein schlesisches Vaterland und ging nach Jena; dort starb er, vermutlich an Tuberkulose, im März 1723.

Günthers gewaltiger Nachruhm setzte im Jahr nach seinem Tod mit dem Erscheinen der ersten großen Sammelausgabe seiner Gedichte ein. Ihr folgten in den nächsten vierzig Jahren nicht weniger als 24 weitere Ausgaben: Fortsetzungsbände, Nachlesen, neue Sammlungen. Bis zum Auftreten Klopstocks galt Günther als einer der großen Musterautoren der deutschen Poesie. Günther hat es als souveräner Erbe der barocken Tradition verstanden, mit leichter Hand in allen Situationen und auf jeden Anlaß Verse nach den Regeln des Gattungssystems zu bauen. Mit seiner – zeittypischen – Neigung zur schmucklosen, natürlichen Rede und zur Zurückdrängung der barocken Metaphernlust bereitete er den Klassizismus der Aufklärungsdichtung vor. Seine zahlreichen auf Bestellung entstandenen Hochzeits- und Begräbnisgedichte, seine Satiren und Studentenlieder, seine geistlichen Lieder und die großen Lobgedichte – etwa die berühmte Ode auf den Prinzen Eugen oder die "Lobschrift" auf August den Starken – übertreffen in Erfindungsgabe, Leichtigkeit der Versbehandlung und Virtuosität der Formerfüllung all seine Zeitgenossen.

Mit diesen Formen öffentlichkeitsorientierten Dichtens blieb Günther aber noch im Rahmen des traditionellen Gattungssystems. Zu einer der großen Gestalten der deutschen Dichtungsgeschichte wurde er dagegen erst mit seinen Liebes- und Klageliedern mit ihrer öffentlichkeitsfernen Thematik; auf ihnen beruht, in Umkehrung der historischen Wertmaßstäbe, heute der Ruhm des Dichters. Seine Liebesgedichte, insbesondere diejenigen auf Leonore Jachmann, leben aus der eindringlichen Vergegenwärtigung einer einmaligen Gefühlsbeziehung zwischen zwei Liebenden. Die Sehnsucht nach der Geliebten, das Glück der Liebeserfüllung und des seelischen Einklangs, die Hoffnung auf Dauer der Liebe und, immer wieder, den Schmerz der Trennung, wie ihn das Ich des Dichters und sein "ander Ich" Leonore erleben, hat Günther mit einer in seiner Zeit völlig einzigartigen Fähigkeit zur Gestaltung des persönlichen Empfindens besungen; so in seiner Abschiedsaria:

Schweig du doch nur, du Hälfte meiner Brust;
Denn was du weinst, ist Blut aus meinem Herzen.
Ich taumle so und hab an nichts mehr Lust
Als an der Angst und den getreuen Schmerzen,
Womit der Stern, der unsre Liebe trennt,
Die Augen brennt.

Unvergleichlich in der Intensität der Leidensvergegenwärtigung sind auch die zahlreichen Klagegedichte, mit denen der kranke, mittellose Günther auf sein Dichterelend aufmerksam zu machen und Gönner zu gewinnen versucht hat. Noch im tiefsten Unglück hat Günther an der Überzeugung festgehalten, für den Dichterberuf geboren zu sein, und sich die Hoffnung bewahrt, mit seinen Dichtungen der Nachwelt in Erinnerung zu bleiben. Um so größer mußte, über die materielle Misere hinaus, sein Schmerz darüber sein, daß sich kein Mäzen fand, der ihm, dem "deutschen Ovid", die Bedingungen zur Entfaltung seines einzigartigen Talents und zur Gestaltung repräsentativer, großer Stoffe geboten hätte; in einem Fragment gebliebenen Gebet reicht dieser Schmerz bis an die Grenze des Verstummens:

Dein armer Dichter kommt schon wieder
Und fällt mit seiner Bürde nieder
Und sieht dich, weil er sonst nichts kann,
Mit Augen voller Schwermut an.
Er hat kein Blut mehr zu den Tränen
Und kann vor Schwachheit nicht mehr schrein,
Mein Heiland, laß das stumme Sehnen
Ein Opfer um Erbarmung sein!

Schon im Jahre 1719, als er noch hoffte, daß Gönner seinem Leben eine positive Wendung geben würden, hat Günther seine poetische Grabschrift gedichtet; sie liest sich wie eine Quintessenz seines Lebens:

Hier starb ein Schlesier, weil Glück und Zeit nicht wollte,
Daß seine Dichterkunst zur Reife kommen sollte;
Mein Pilger, lies geschwind und wandre Deine Bahn,
Sonst steckt Dich auch sein Staub mit Lieb und Unglück an.

Werke:Sammlung von Johann Christian Günthers aus Schlesien, Theils noch nie gedruckten, theils schon herausgegebenen, Deutschen und Lateinischen Gedichten. Hg. Gottfried Fessel. Frankfurt a. M./Leipzig 1724. – Sammlung von Johann Christian Günthers, aus Schlesien, bis anhero edirten deutschen und lateinischen Gedichten, Auf das neue übersehen, Wie auch in einer bessern Wahl und Ordnung an das Licht gestellet. Hg. G. Fessel. Breslau/Leipzig 1735. – Nachlese zu Johann Christian Günthers, von Striegau aus Schlesien, Gedichten, welche aus lauter in der vorigen Sammlung nicht befindlichen Stücken bestehet. Hg. Johann Caspar Arletius. Breslau 1742. – Sämtliche Werke. Hist.-krit. Gesamtausgabe. Hg. Wilhelm Krämer. 6 Bde., Leipzig 1930-37. Neudruck Darmstadt 1964. – Gedichte. Hg. Manfred Windfuhr. Stuttgart 1975. – Werke. Hg. Hans Dahlke. Weimar 1957. – Gesammelte Gedichte. Hg. Herbert Heckmann. München/Wien 1981.

Lit.: Reiner Bölhoff: Johann Christian Günther 1695-1975. Bd. I: Kommentierte Bibliographie, Bd. 2: Schriftenverzeichnis, Bd. 3: Rezeptions- und Forschungsgeschichte. Köln/Wien 1980-83. – Hans Dahlke: Johann Christian Günther. Seine dichterische Entwicklung. (Ost-)Berlin 1960. – Wilhelm Krämer: Das Leben des schlesischen Dichters Johann Christian Günther 1695-1723. Mit Quellen und Anmerkungen zum Leben und Schaffen des Dichters und seiner Zeitgenossen. Mit bibliographischen Ergänzungen von Reiner Bölhoff. Stuttgart 1980. – Helga Bütler-Schön: Dichtungsverständnis und Selbstdarstellung bei Johann Christian Günther. Studien zu seinen Auftragsgedichten, Satiren und Klageliedern. Bonn 1981. – Johann Christian Günther. Text + Kritik 74/75 (1982). – Ernst Osterkamp: Perspektiven der Günther-Forschung. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 1. Sonderheft (1985), S. 129-159. – Ursula Regener: Stumme Lieder? Zur motiv- und gattungsgeschichtlichen Situierung von Johann Christian Günthers >Verliebten Gedichten<. Berlin/New York 1989.

 

Ernst Osterkamp