Biographie

Haberlandt, Michael

Herkunft: Ungarn
Beruf: Volkskundler
* 29. September 1860 in Ungarisch-Altenburg
† 14. Juni 1940 in Wien

Vater Michael und Sohn Arthur Haberlandt (1889-1964) bilden in der Volkskundeforschung ein Zweigespann, das mit jenem der Gebrüder Grimm in der Germanistik verglichen werden kann. Das Sprichwort, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, hat sich hier hundertprozentig bewahrheitet. Denn was der Vater begonnen, hat der Sohn vollendet, wenngleich in kleinerem Rahmen wegen der mittlerweile eingetretenen politischen Umwälzungen. Eigentlich haben wir es mit einer Gelehrtenfamilie zu tun. Gottlieb, der ältere Bruder Michaels (1859-1945), war Pflanzenphysiologe und Pflanzenanatom, 1910-1923 Direktor des Pflanzenphysiologischen Instituts in Berlin. An wissenschaftlicher Leistung und Bedeutung hat weder der ältere Bruder noch der Sohn den in einem Jubiläumsjahr stehenden Gelehrten übertroffen.

Michael Haberlandt studierte an der Wiener Universität vor allem Indologie und holte sich 1882 in diesem Fach den Doktorhut. In dem damals gegründeten k. k. Naturhistorischen Museum am Großen Ring wurde er Kustos. 1892 habilitierte er sich als erster Dozent der Völkerkunde an der Universität Wien. Als solcher spezialisierte er sich auf die Indologie (Indische Legenden 1885; Der altindische Geist 1887). Bald merkte er, daß die Monarchie mit ihren (etwa) sechzehn Völkern und Völkerschaften nicht weniger ein dankbares Feld für allgemeine, völkerübergreifende, ethnographische Studien sei. Zu diesem Zweck gründete Haberlandt mit einem Gleichgesinnten 1894 den „Verein für österreichische Volkskunde". Damit haben beide auch den Plan eines Museums für österreichische Volkskunde ventiliert, das aber wegen Raumschwierigkeiten erst 1917 im ehemaligen Palais der Grafen Schönborn in der Laudongasse (Wien VIII. Bezirk) untergebracht werden konnte. Ein Verein ohne wissenschaftliche Zeitschrift wäre ein totgeborenes Kind gewesen. Aus diesem Grund gab Michael Haberlandt seit 1895 die „Zeitschrift für österreichische Volkskunde" heraus. Im Grunde genommen blieb er der Völkerkunde verhaftet, wozu die Monarchie den besten Rahmen lieferte. Bis zum Ersten Weltkrieg etwa betätigte er sich im Ganzen mit längeren Aufsätzen und kleineren Arbeiten, sein künftiges großes Arbeitsfeld stets im Auge behaltend (Völkerkunde. Leipzig 1898, 200 Seiten, 56 Abb. Sammlung Göschen Nr. 73; Völkerschmuck. „Die Quelle", Wien Jg. 1906; österreichische Volkskunst II. Wien 19101, 19122). Schon 1910 plante Haberlandt eine „Volkskunde Europas", wozu er, von Österreich ausgehend, 1917 den ersten Anstoß gab (Die nationale Kultur der österreichischen Völkerstämme), ohne dabei sein Lieblingsgebiet Indien beiseite zu schieben (Die Völker Europas und des Orients und: Volkskundliche Betrachtung Ostasiens. Beide in Buschan’s Völkerkunde 1920 bzw. 1923). In der „Illustrierten Völkerkunde" 1922 schrieb er auf den Seiten 418-612 den Rahmenartikel „Afrika". Im übrigen bildeten Randgebiete und die Mittelmeerküsten ein bevorzugtes Arbeitsgebiet des Gelehrten. (Beiträge zur bretonischen Volkskunde 1912; Die Mittelmeerlandschaften Nordafrikas und der Kanarischen Inseln. Erschienen in „Buschan’s Völkerkunde" 1926). Michhael Haberlandt war nicht nur ein Mann der Praxis, sondern auch der Theorie (Einführung in die Volkskunde mit besonderer Berücksichtigung Österreichs. Wien, Burgerverlag 1924. Volkskundliche Bücherei. Hg. vom Verein für Volkskunde in Wien Nr. 1). In dieser Kleinschrift entwickelte er grundsätzliche Gedanken über die Grenzen überschreitende Volkskunde, ohne dabei die nationalen Komponenten zu übersehen. „Jede große, durch Sprach- und Kultureinheit zusammengehaltene Nation Europas hat ihre nationale Volkskunde entwickelt", schreibt er u. a. Dabei zitiert er die Gebrüder Grimm, Karl Weinhold, Heinrich Wilhelm Riehl, Hoffmann-Krayer, Hans Meyer, Paul Sartori u. a. Ebenda macht Haberlandt grundsätzlich Ausführungen über die sachliche oder gegenständliche und die geistige Volkskunde, zusätzlich mit einem ausführlichen Schrifttum zu den einzelnen Gebieten der Volkskunde. Es liegt auf der Hand, daß Michael Haberlandt gerne als Mitarbeiter zusammenfassender Werke herangezogen wurde. So auch im Jahrbuch für historische Volkskunde: „Die Volkskunde und ihre Grenzgebiete". Band I. (Berlin 1925). Hier ist er mit dem Aufsatz: „Volkskunde und Kunstwissenschaft" vertreten.

Die zwanziger Jahre sind die fruchtbarsten Schaffungsjahre im Leben Michael Haberlandts. Im Jahre 1926 erschien außer „Buschan’s Völkerkunde" auch „Buschan’s Illustrierte Völkerkunde". Darin wurden die Völker Europas zum erstenmal zusammenfassend gewürdigt bzw. wollte der Verfasser eine Volkskunde Europas bieten. Die einzelnen Beiträge sollten die Grundlage dazu liefern und zwar ausgehend von den indogermanischen Völkern bis zu den kleinsten Volksstämmen, deren es in Europa Dutzende gab. Den Löwenanteil leisteten Vater und Sohn, Michael und Arthur Haberlandt. Es ist übrigens im Leben Michael Haberlandts interessant zu beobachten, wie sich in seiner wissenschaftlichen Laufbahn österreichische und gesamteuropäische Themen fast systematisch ablösen. So erschien im nächsten Jahr 1927: „Deutschösterreich. Land und Volk und seine Kultur." Mit einem Geleitwort des Bundespräsidenten Dr. Michael Hämisch und unter Mitwirkung zahlreicher Fachmänner herausgegeben von Prof. Dr. Michael Haberlandt. (Weimar 1927). Ein Prachtwerk in Großoktavformat und im Umfang von XIV + 504 Seiten. 28 Mitarbeiter arbeiteten daran. Das Werk ist reich bebildert. „Es ist eine politische und wissenschaftliche Notwendigkeit besonderer Art, daß der hohe Kulturrang Österreichs mit voller Deutlichkeit nicht nur uns selbst, sondern vor allem auch den europäischen Bildungskreisen zum Bewußtsein komme", betont Michael Haberlandt u. a.

Das nächste Jahr 1928 bedeutete dessen ungeachtet den Gipfel der wissenschaftlichen und editorischen Tätigkeit Michael Haberlandts. Vater und Sohn legten nachgerade die reife Frucht ihrer völkerumspanndenden Tätigkeit dar, betitelt: „Völker Europas und ihre Volkstümliche Kultur" (Stuttgart 1928. XVI + 748 Seiten). Das Werk enthält 27 Tafeln, 401 Abbildungen und drei Karten über Völker, Sprachen und Hausformen. Nebst einer reichen Literaturangabe ist es mit einem ausführlichen Namen- und Sachregister versehen. Damit wurde mit ziemlicher Verspätung der bereits 1910 gefaßte Plan einer „europäischen Volkskunde" Wirklichkeit, und zwar durch die Schaffenskraft von Vater und Sohn. Es sei bloß darauf verwiesen, daß beide in vielen Festschriften mitwirkten. Aus den letzten Lebensjahren Michael Haberlandts seien zwei Publikationen hervorgehoben: „Deutsche und südosteuropäische Volkskunde"(Belgrad 1943) und: „Wege und Ziele der österreichischen Volkskunde." Erschienen in der Zeitschrift „Laos" (Uppsala) Jg. 1951. Michael Haberlandt hat die Volkskunde aus ihren nationalen Fesseln befreit und ihr übernationale, d. h. völkerverbindende Aufgaben zugewiesen. Er war ein Gelehrter von europäischem Format.

Lit: Außer Nachrufen in einschlägigen wissenschaftlichen Organen – wie anzunehmen – gibt es bislang außer den Würdigungen beider Haberlandts in der Neuen Deutschen Biographie der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Berlin 1966, Band7, Seite 395-396) keine Literatur. Die einzigen Quellen sind die oben bzw. im Text zitierten und gewürdigten Arbeiten.