Selbst Jahrhundertereignisse verblassen. Ein Beispiel dafür ist Max Halbes am 23. April 1893 in Berlin mit sensationellem Erfolg uraufgeführtes Liebesdrama Jugend. Lange blieb dem Werk das Glück treu. Drei Jahre nach der Premiere berichtete Fontane seiner Tochter von der 200. Aufführung im Residenztheater und einer ebenso erfolgversprechenden Neueinstudierung im Deutschen Theater unter Otto Brahm. Das Stück eroberte sich alle maßgebenden deutschen Bühnen, und noch 1950 konstatierte Ernst Alker in seiner Geschichte der deutschen Literatur von Goethes Tod bis zur Gegenwart: „Eine ganze Welt wurde und wird von dieser Dichtung ergriffen.“ Aber entsprach ein derartiges Urteil noch den Gegebenheiten der Jahrhundertmitte? Zwölf Jahre später korrigierte er sich für die zweite Auflage seiner Literaturgeschichte: „Eine ganze Welt wurde von dieser Dichtung (oder Annäherung an eine Dichtung) ergriffen.“ Sie wird es nicht mehr. Halbes Jugend findet sich seit vielen Jahren nicht mehr auf den Spielplänen. Das Stück, kein Lesedrama, sondern für die Bühne gemacht, ist somit tot. Und der Grund? Nicht etwa der, daß es keine echte Dichtung wäre, sondern der Umstand, daß heutzutage keine Schauspielerin mehr willens oder auch nur dazu in der Lage wäre, das Annchen, die weibliche Zentralgestalt, zu verkörpern. Denn sie ist das genaue Gegenteil des gegenwärtig Geforderten und Gelebten. „Naive Sinnlichkeit“ soll sie nach dem Willen des Autors besitzen – ja, wenn das Beiwort nicht wäre! Dazu „etwas Empfangendes, weich Weibliches, Hingegebenes. Auch in der Art, wie sie sich trägt, gibt sich etwas Schmiegsames, Wiegsames.“ Sie ist ein Wesen wie aus einem Volkslied – wir hören sie das irische „Long, long ago“ singen, und Halbe stellt überdies Verse daraus seinem Drama als Motto voran –; aber auch den Volksliedern verschließt sich ja unsere Zeit. Ob es gelingt, den fernen Schatten doch noch ein wenig Leben einzuhauchen? Im Frühling des Jahres 1883 macht ein Abiturient aus der Danziger Weichselniederung, Georg Maximilian Halbe, auf seiner Reise zur Heidelberger Ruperto-Carola Station im nördlich von Thorn bei Culmsee gelegenen Pfarrhause von Griebenau. Dort begegnet er seiner gleichaltrigen Cousine Adele, der Nichte Onkel Rumpfs, des Pfarrers. Kurz bemessene Tage eines jungen Liebesglückes folgen, und ein Jahrzehnt später erkennt sich die Jugend der Jahrhundertwende in dieser Liebe wieder. Onkel Rumpf heißt jetzt Hoppe, aus Adele ist ein Annchen geworden, und Max erscheint als Hans Hartwig, „mit Ansätzen von Nervosität und Keimen eines Schnurrbarts“: „Alles in allem der Embryo eines modernen Stimmungsmenschen in der Verpuppung des ersten Fuchssemesters.“ Während aber Maxens Idyll in sanfter Abschiedsmelancholie ausklingt, endet das Bühnenstück balladesk, ja einer Moritat nicht unähnlich: Annchens eifersüchtiger Stiefbruder, ein Kretin und Caliban, den Halbe hinzuerfand, will Hans töten und erschießt seine Schwester, die sich schützend vor den Geliebten geworfen hat. Diese grelle Schlußdissonanz befremdete von jeher; aber Halbe stand zu ihr und bemühte sogar die nordische Mythologie, um sie zu rechtfertigen: Die Tat des Blödsinnigen sei der „Zufallstriumph des Tierischen über das Menschliche, der unterirdischen Mächte über das Licht und die Tageshelle, die Vernichtung Baldurs durch Hödur“.
„Meiner Jugend“, so lautet die Widmung des bei S. Fischer in Berlin verlegten Dramas. Seine Veröffentlichung im Jahre der Uraufführung bildete zwar nicht die Mitte der Lebensreise des Autors, den Danteschen mezzo del cammin di nostra vita, wohl aber die Scheitelhöhe seines Schaffens. Die nostalgisch beschworene Jugend lag hinter ihm und mit ihr erste dichterische Versuche sowie ein mit der Promotion abgeschlossenes Studium in Heidelberg, Berlin und München; vor sich sah er die Möglichkeit eines Lebens als freier Schriftsteller, dessen Kredit durch immer neue Hannchens, Hartwigs und Hoppes gesichert war. Seit 1895 lebte Halbe in München oder in seinem Landhaus in Burg bei Neuötting: die modernistische, ein wenig dekadente Fin-de-siecle-Nervosität seines alter ego Hans Hartwig löste sich in, zumindest äußerlich, beruhigter Bürgerlichkeit. Dazu gehörte nicht zuletzt eine über fünfzigjährige Ehe, der auch Kinder nicht fehlten. Halbe hat in seinem langen Leben viel geschrieben; immer wieder Dramen, aber auch Erzählungen und Romane. Ihr Publikum ist ihnen hinweggestorben. Zwei seiner Prosaschriften verlohnen aber auch heute noch eine Lektüre. Man sollte sich durch den etwas antiquierten Titel der ersten nicht vom Lesen abschrecken lassen. Gemeint ist seine Autobiographie mit den Bänden Scholle und Schicksal (1933) und Jahrhundertwende (1935). Hier schreibt jemand, der viel gesehen und erlebt hat und der ein wahrer Meister des Wortes ist. Anschaulich gemacht werden uns seine westpreußische Heimat sowie die Stätten seiner Jugend und frühen Mannesjahre. Von besonderem Dokumentationswert sind die Insider-Einblicke in die Literaturszenen von Berlin und München, denen nur noch die von Prag und Wien hinzuzufügen wären, damit ein Gesamtbild der vielfältigen, beneidenswert schöpferischen mitteleuropäischen Denk- und Sprachleistungen der Zeit um 1900 entstünde.
Auch die Jahre der Niederschrift, die denen der Veröffentlichung unmittelbar vorangingen, spiegeln sich in diesen Erinnerungen. Und da zeigt es sich, daß der nach außen hin ganz normalbürgerlich lebende alte Herr keineswegs zum stumpfen Philister herabgesunken ist, sondern klarsichtig die signatura temporis entziffert. So findet er im Jahre 1932 Worte, die sich auch uns noch, zwei Generationen später, formen könnten und die Halbe denn doch, bei allem Zeitgebundenen seines Werkes, als Lebendigen erweisen. „Die Wellen des Rundfunks eilen in Sekunden um den Erdball; schon schickt sich das Fernsehen an, dem Fernhören den Rang abzulaufen. Weltbedeutende Entdeckungen, Erfindungen überstürzen sich und bedrohen durch die Entfesselung nachtgeborener Naturkräfte das Menschengeschlecht mit dem Schicksal des Zauberlehrlings. Immer hastiger, fiebernder schmieden wir Waffen, erdenken wir Formeln, um Unkultur und Barbarei niederzukämpfen und sie dem Abgrund zu überantworten. Aber diese Formeln, diese Waffen kehren ihre Schneide gegen uns selbst. Das alte Chaos, das wir mit den Mitteln unseres alle Fesseln sprengenden Menschengeistes für immer gebannt zu haben glaubten, scheint vielmehr durch eben diese Mittel aus der Tiefe heraufbeschworen zu werden und uns Vernichtung anzukündigen. Vernehmen wir sein unterirdisches Donnerrollen nicht schon nah und näher unter unseren Füßen, unseren Wohnstätten, unseren Fabriken, Kaufhäusern, Kinos, Wolkenkratzern? Wer Ohren hat, der höre! Menschheit! Horche auf die Stimmen der Tiefe! Ein apokalyptisches Zeitalter von ungeheuerlicher Perspektive: so empfinden wir im fröstelnden Gebein von Schauern überlaufen, die gegenwärtige Erdenstunde.“
Werke: Sämtliche Werke. 14 Bde. Salzburg: Verlag „Das Bergland-Buch“, 1945-50. – Lieferbar ist gegenwärtig nur Halbes Drama „Der Strom“. Ditzingen: Reclams Universal-Bibliothek 8976.
Lit.: Ernst Alker: Geschichte der deutschen Literatur von Goethes Tod bis zur Gegenwart. Bd. 2. Stuttgart: Cotta 1950, S. 228, 250f., 321. – 2., veränderte und verb. Aufl. u.d.T. Die deutsche Literatur im 19. Jahrhundert. Stuttgart: Kröners Taschenausg. Bd. 339, 1962,S. 666, 692 f., 75 1, 762 f.- Wolfgang Rudorff: Aspekte einer Typologie der Personen im dramatischen Werk Max Halbes. Diss. Freiburg/Br. 1961. – Max Halbe zum 100. Geburtstag. Hg. Stadtbibliothek München 1965 (ersch. 1966)
Bild: Max Halbe als Heidelberger Student. Photographie, reproduziert aus: Max Halbe: Scholle und Schicksal. Neue, durchges. u. überarbeitete Ausg. Salzburg: Verlag „Das Bergland-Buch“, 1940, neben S. 240.