Biographie

Harnack, Theodosius

Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
Beruf: Theologe
* 3. Januar 1817 in Sankt Petersburg
† 11. September 1899 in Dorpat

Theodosius Harnack wurde als einziger Sohn eines der Erweckungsbewegung zugehörigen baltischen Schneidermeisters geboren. Der Vater widmete sich in materieller und ideeller Hinsicht mit großem Engagement der Bildung und Erziehung des begabten Sohnes. Die pietistisch herrnhutische Frömmigkeit, Betstunden und Andachtsversammlungen, bestimmten Harnacks Kindheit und Jugend. Auch während des Theologiestudiums in Dorpat blieb Harnack weitgehend dem Frömmigkeitsstil seiner Jugendzeit treu. Die Dorpater Fakultät, an der Harnack 1834-1837 studierte, war vom Rationalismus zu einem positiven Bi­bel­glauben zurückgekehrt. Früh galt Harnacks zentrales Interesse der Praktischen Theologie und einem bibeltreuen Schriftstudium. Luthers Theologie und die Aneignung der Kirchen- und Dogmengeschichte kamen hinzu.

Seine Studien erweiterte er an den Universitäten Berlin, Bonn und Erlangen. Eine längere Italienreise öffnete seinen Horizont auf Kultur und Kunst, ohne seine strenge Glaubensprägung nachhaltig zu beeinflussen. Prägend waren für ihn unter anderem der spätere Bischof Carl Christian Uhlmann und der Erweckungstheologe und christliche Schriftsteller Friedrich-Wil­helm Krummacher.

1848 erhielt Harnack eine Ordentliche Professur für Praktische Theologie an der Universität in Dorpat, die mit dem Amt des Universitätspredigers verbunden war. Der erweckliche, auf subjektive Frömmigkeit bezogene Glaube trat seither deutlich in den Hintergrund. Evangelisch-lutherische Konfessionalität und die Ob­jek­tivität des Bekenntnisses wurden dominant. In seinem Früh­werk Die Grundbekenntnisse der evangelischen Kirche (1845) tritt die Handschrift des profilierten Lutherischen Theologen bereits deutlich hervor bereits deutlich hervor. 1853 erhielt Harnack den Ruf nach Erlangen, wo er im Zentrum der positiven, lutherisch erneuerten Theologie wirksam werden konnte. Die Erlanger Jahre waren eine Zeit starker literarischer und akademischer Wirksamkeit. Harnack lehrte an einer Fakultät mit geistesverwandten Kollegen wie dem Systematiker Hofmann und dem Alttestamentler Delitzsch. Er verfasste in jener Zeit sein großes Werk über die Versöhnungs- und Erlösungslehre Luthers und die bedeutende Studie über Die Kirche, ihr Amt und Regiment (1862). Einige Generationen von Pfarrern und Theologen prägte er sowohl wissenschaftlich wie in ihrem Glaubensleben, und er wurde zu einem wichtigen Berater der Kirchenleitungen.

Doch schon mit 59 Jahren musste Harnack sein akademisches Lehramt in Folge seiner schwachen Gesundheit aufgeben. Er kehrte in die baltische Heimat zurück und arbeitete in der Stille weiter, wobei die Summe in seiner Theologie Luthers (1886) und der Praktischen Theologie (1877/78) gezogen wurde.

Harnack sah die neue Zeit und insbesondere den theologischen Liberalismus als Phänomen einer tiefgehenden Dekadenz. Er war seinen Schüler und seiner Familie gleichermaßen ein liebevoller Hausvater und Vorbild im Glauben und ein strenger Zuchtmeister. Die Rückkehr zu einem Lutherischen „Solum Verbum“ auch in einer Zeit, in der dies von der Mehrheit nicht geteilt wurde, hielt Harnack für unabdingbar.

Harnacks späte Jahre wurden durch den Streit mit seinem hochbegabten Sohn, Adolf, den späteren Großordinarius in Berlin, liberalen Kirchenhistoriker und Universaltheologen in der Folge Schleiermachers, nachhaltig getrübt. Wie in einem Brennglas brach die Differenz an der Bewertung Albrecht Ritschls auf, die zwischen Vater und Sohn kaum unterschiedlicher hätte sein können. Während der alte Harnack Ritschls Neuprotestantismus und die Lehre vom diesseitigen Reich Got­tes scharf kritisierte, wurde Ritschl für seinen Sohn zum leuchtenden Vorbild. Dessen furiosen akademischen und politischen Aufstieg erlebte der alte Harnack noch. Er kommentierte ihn aber kritisch oder schwieg dazu. Nur unzureichend wurde die Distanz dadurch überbrückt, dass Harnacks vier Söhne gemeinsam die Festschrift zu seinem 70. Geburtstag verantworteten.

In seinem Werk wies Theodosius Harnack eine enzyklopädische Weite, verbunden mit scharfer theologischer Urteilskraft auf. Er war ein herausragender Lutherforscher, widmete sich von früh an biblischen Studien und war in Dorpat zeitweise zugleich auf dem Lehrstuhl für Systematische Theologie tätig. Mit dem Lebensvollzug der Kirche war er lebenslang verbunden. Die Wirklichkeit der Kirche in seiner Zeit registrierte er wach und aufmerksam. Bemerkenswert ist, wie stark er die Kirche der Reformation im Gesamtraum des Magnus Consensus der Kirchengeschichte sah. So wurde er zum Lehrer eines Lutherischen mittleren Weges, gleichweit entfernt vom Kulturprotestantismus und einem eingekapselten protestantischen Klerikalismus. Er unterschied klar die Kirche „als Organisation“ von ihrer Selbsterbauung und -legitimation als innerer Leib Christi. Kirche und „Kirchentum“, eben die Organisation, sind nicht identisch. Letzteres kann Reformen unterliegen, die aber das Kriterium der biblischen und bekenntnishaften Wahrheit nicht verwischen dürfen.

Aus diesen Grundlagen kritisierte Harnack die zementierte Lutherische Landeskirchenstruktur und zielte auf eine freie lutherische Volkskirche, in Übereinstimmung mit lutherischen Reformtheologen wie dem Erlanger Kollegen Hofmann und Wilhelm Löhe. Dem reformatorischen Selbstverständnis der Kirche als „ecclesia semper reformanda“ (immer im Werden, in permanenter Reformation gegenüber ihren Deformationen) schloss sich Harnack an. Empirie müsse immer durch einen geschichtlichen Sinn erweitert und korrigiert werden, da sie sonst, zumal in der Praktischen Theologie Gefahr laufe, sich auf einzelne bestimmte Formen und Gestalten der Kirchlichkeit zu fixieren. Gegenstand der Praktischen Theologie sei die „auf Grund ihrer ganzen Vergangenheit und ihrer Gegenwart sich in ihre Zukunft hineinbildende, sich selbst erbauende Kirche“ (Praktische Theologie I, 23).

Dem Pietismus und der Erweckungsbewegung verpflichtet, ist vor allem der starke Akzent, den Harnack auf das „Pro me“, die Bedeutung der Gnade für die einzelne Person legt; auch ein bis heute praktisch-theologisch hoch aktuelles Feld, die Oikodomik (Gemeindebau) wird von Harnack markant und tiefschürfend bearbeitet. Dabei unterscheidet er ein intensives von einem extensiven Wachstum: Ersteres zielt eher nach außen, letzteres nach innen, in die Festigung und Vertiefung des Glaubens. Zusammenwirken müssen dabei auch das Zeugnis der Liebe und das Heilshandeln Gottes selbst, in Wort und Sakrament.

Harnacks Monographie Luthers Theologie fand in der Nachwelt noch starke Beachtung, vor allem aufgrund der eindeutigen und starken christozentrischen Ausrichtung. Selbstverständlich entgingen den folgenden Forschergenerationen auch nicht die Schwächen, vor allem das begrenzte Verständnis Harnacks für Mystik, Mönchtum und katholische Theologie.

Das Nachleben des Theologen Theodosius Harnack stand insgesamt lange Zeit im Schatten seines Sohnes Adolf. An den verschiedenen Auflagen der Theologischen Realenzyklopädie und von Religion in Geschichte und Gegenwart lässt sich der Bedeutungsverlust ablesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg rückte der alte Harnack wieder stärker in den Fokus des Interesses. Zu einer wirklichen Wiederentdeckung kam es allerdings nicht. Sie könnte aber, wie Manfred Seitz und Michael Herbst einmal bemerkten, „der geistlichen Formung der Kirche mehr dienen, als eine Flut sich gegenseitig störender Gemeindeerneuerungskonzepte, die der Empirie mehr als der Lehre der Kirche und deren Bekenntnissen verpflichtet sind“.

Lit.: Agnes von Zahn-Harnack, Adolf von Harnack. Berlin 21951. – Bernd Schroeder, Die Wissenschaft der sich selbst erbauenden Kirche – Theodosius Harnack, in: Christian Grethlein/ Michael Meyer-Blanck: Geschichte der Praktischen Theologie. Dargestellt anhand ihrer Klassiker, Leipzig 2000, S. 151-206. – Timothy C.J. Quill, An examination of the contributions of Theodosius Harnack to the renewal of the Lutheran liturgy in the nineteenth century, Madison, Drew University, Thesis (Ph. D.), 2002.

Bild: Wikipedia Commons/ Gemeinfrei.

Harald Seubert