Nicolai Hartmann wurde als Sohn des Ingenieurs Carl August Hartmann und der Pastorentochter Helene Hackmann geboren. Die erste Schulzeit war geprägt durch die Russifizierungspolitik in Livland und überschattet durch Schwierigkeiten mit der russischen Sprache. Seit 1902 studierte Hartmann in Dorpat Medizin und wechselte 1903 zum Studium der Philosophie und der Klassischen Philologie nach St. Petersburg. Die politischen Wirren der Revolution von 1905, denen er, der zeitlebens Unpolitische, sympathetisch doch reserviert gegenüberstand, bewogen ihn zu einer Fortführung seiner Studien in Marburg. 1907 wurde er dort mit einer Arbeit über Das Seinsproblem in der griechischen Philosophie vor Plato promoviert, die Habilitation erfolgte zwei Jahre später.
Bereits in den Schriften vor dem Ersten Weltkrieg ließ der Natorp-Schüler Hartmann zu dem transzendentalen Idealismus des Marburger Neukantianismus eine Distanz erkennen: in der Dialektik Hegels und in der deskriptiven Phänomenologie sah er einen Weg, um aus der Verkürzung von Philosophie auf Erkenntnistheorie herauszugelangen. Den Ersten Weltkrieg verbrachte Hartmann als Dolmetscher und ab Mai 1918 als Leutnant in der Nachrichtenabteilung der Obersten Heeresleitung (OHL) und war, soweit sich dies rekonstruieren läßt, an den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk als Assistent mitbeteiligt. Von 1919 bis 1925 datiert Hartmanns zweite Marburger Phase, nun zunächst als Außerordentlicher Professor und seit 1922 als Nachfolger Natorps. Ein Bruch zum Marburger Neukantianismus wurde in Hartmanns Arbeiten der nächsten Jahre offenkundig: er wandte sich der Ontologie und der Frage nach den Aufbaukategorien des realen Seins zu. Gegenüber den idealistischen Ansätzen seiner Lehrer verwies er auf die Realität der Außenwelt. Dies führte aber keineswegs zu einer Preisgabe der erkenntnistheoretischen und transzendentalenFragestellung in der Folge Kants: die Kantische Grundfrage nach der „Bedingung der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori” schrieb Hartmann vielmehr ausdrücklich fest. Bereits in dem Werk Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis (1921) läßt sich der Grundriß seiner Philosophie weitgehend erkennen.
Die Marburger Jahre brachten schließlich die Konfrontation mit Heidegger, der dort 1923 zum Außerordentlichen Professor berufen worden war; gegensätzliche Lebensweisen, eine sehr unterschiedliche Radikalität der Fragestellung indes verhinderten eine tiefergehende Debatte. Unstrittig ließ Heideggers große Anziehungskraft Hartmann in der Marburger Studentenschaft zunehmend ins Abseits geraten: eine Erfahrung, die für ihn nicht ohne Bitterkeit war. Er wechselte im Jahr 1925 nach Köln, wo es zu einer Begegnung mit Max Scheler kam: in seiner eigenen Ethik (1926) führte Hartmann die Ansätze einer materialen Werteethik weiter, die sich Scheler verdanken. Daneben galten die Kölner Jahre der subtilen Ausarbeitung seiner Ontologie: auf die Grundlegung(1935), einer Klärung des Seinsbegriffes und einer an Aristoteles orientierten Analyse von Seinsweisen, folgte 1938 mit Möglichkeit und Wirklichkeit die Analyse der Modalbegriffe ‚Möglichkeit‘ und ‚Wirklichkeit‘, und im dritten Band, dem Aufbau der realen Welt, mündete das Opus magnum in eine universale Kategorienlehre ein. Neben Aristoteles ist der Hegel der „Logik”, die Hartmann als Realdialektik versteht, sein großer Gewährsmann aus der Tradition.
1931 folgte Hartmann dann der Berufung auf jenes Berliner Ordinariat, das Heidegger zuvor abgelehnt hatte. Hartmann bekleidete es bis 1945 und erntete hier einen vorher nicht gekannten Ruhm. Allerdings konnte er auch in Berlin keinen festen Schülerkreis um sich versammeln. Ein Grundzug des Verhältnisses von Leben und Werk bei Hartmann trat in den Jahren des Nationalsozialismus besonders scharf hervor: die stoische Distanziertheit des Philosophen zur Zeitgeschichte. Er war einerseits für die Ideologie nicht anfällig, andererseits ignorierte er die Zeitläufte weitgehend. Wie seine Briefwechsel, vor allem jener mit dem Freund Heinz Heimsoeth, belegen, ging es ihm darum, sich und seine wenigen Schüler „durchzubringen”. Aufgrund der Berliner Unsicherheiten wechselte Hartmann 1945 nach Göttingen, wo er eine legendäre Einführung in die Philosophie vortrug, die in einer autorisierten Nachschrift 1949 veröffentlicht wurde. Die letzten Lebensjahre galten der Ausarbeitung einer Philosophie der Natur (1950) und einer eigenständigenÄsthetik (1953), die sich unter dem Problemtitel ‚das Schöne als Akt und Gegenstand‘ darum bemüht, subjektives Erlebnis und objektive Verfassung des ästhetischen Gegenstandes denkerisch zusammenzuführen. Im Sommer 1950 erlitt Hartmann einen ersten Schlaganfall, die zielsichere Überarbeitung und der Abschluß der Ästhetik waren ihm noch vergönnt, bevor er im Herbst desselben Jahres einem zweiten Gehirnschlag erlag.
Es zeigt sich bei näherem Hinsehen nicht nur, daß die Zeitumstände kaum Eingang fanden in Hartmanns Denken, auch die Grundstruktur seiner Philosophie änderte sich seit der Metaphysik der Erkenntniskaum mehr. Hartmanns ‚Schichtenontologie‘ kennt vier Seinsweisen: physisches, organisches, seelisches und geistiges Sein, wobei sich das geistige Sein wiederum – wie Hartmann in begrifflicher Anlehnung und Modifikation gegenüber Hegel und Dilthey festhält – in personalem, objektivem, d.h.: geschichtlich sich wandelndem und objektiviertem Geist manifestiert. Die Perspektive eines Diesseits von Idealismus und Realismus, wie sie Hartmann vor Augen hatte, wird in der Verbindung von objektivem und objektiviertem Geist gewonnen: letzterer nämlich ist als die objektive Wirklichkeit zu bestimmen, die sich ein Subjekt zum Gegenstand seiner Erkenntnis macht. Hinsichtlich des modalontologischen Grundverhältnisses von Möglichkeit und Wirklichkeit vertrat Hartmann rigide den Vorrang der Wirklichkeit: „Es gibt im Realen keine freischwebende, abgelöste Möglichkeit, die nicht die eines Wirklichen wäre.” Deshalb sind in der Schichtenontologie die jeweils höheren Seinsstufen von dem Wirklichsein der jeweils niedrigeren abhängig; sie können von diesen aber nicht determiniert werden. Diese Grundkonstellation macht es verständlich, daß der Ontologe Hartmann sehr wohl metaphysikkritisch argumentierten konnte: am nachhaltigsten geschah dies vielleicht in seiner Auseinandersetzung mit einem fehlgehenden Teleologische(n) Denken (1951).
Hartmanns Lehre ist methodisch am Aristotelischen Grundsatz des ‚mehrfachen Sagens‘ (pollachos legetai) orientiert. Er kennt vier Stufen philosophischer Analyse, die zeigen, daß sein Verfahren primär induktiv angelegt sein soll. Die Hierarchie der Seinsweisen wiederholt sich also auf der methodischen Ebene: die Philosophie beginnt nach Hartmann mit dem doxographischen Blick auf die Positionen der philosophischen Tradition zu einem Sachgebiet. Dem schließt sich die beschreibende Phänomenologie an, die aber – anders als beim späten Husserl – auf den Realismus einer natürlichen Weltsicht – mit Hartmann: die ‚intentio recta‘ – bezogen ist, nicht auf die Konstitution der Phänomene im Bewußtsein. Eine wichtige Rolle kommt sodann der Aporetik zu, und an letzter und höchster Stufe steht die Theoriebildung im streng systematischen Sinn.
Sucht man Hartmanns Rang aus dem Rückblick auf die Denkgeschichte des 20. Jahrhunderts zu bestimmen, so erbrachte er unstrittig einen bedeutenden Beitrag zu jenem Neuaufbruch der Philosophie um 1920, der mit Heideggers Fundamentalontologie und Schelers Wertedenken ungleich radikalere Ausprägungen fand. Hartmann verstand sich primär als systematischen Philosophen, wobei systematisches Philosophieren für ihn – durchaus kantianisch – Problemdenken hieß. Auch wenn sein Oevure grundlegende Werke zu den klassischen DisziplinenErkenntnistheorie, Ontologie, Naturphilosophie, Ethik und Ästhetikumfaßt und durchaus konzise geplant ist, verstand er dieses Lebenswerk doch nicht in der Nachfolge der großen idealistischen Systeme, sondern als Problementfaltung.
Nicolai Hartmanns Wirkung war mit jener Schelers oder gar Heideggers oder der Frankfurter Schule niemals vergleichbar. Dennoch wird er von so unterschiedlichen Autoren aufgenommen wie dem späten Lukaćs, dessen Studien über das gesellschaftliche Sein auf die Schichtenontologie zurückgreifen, und Neuscholastikern wie Johannes Baptist Lotz. Der eigene systematische Anspruch sollte allerdings keinesfalls übersehen lassen, daß Hartmann ein nicht unbedeutender Kenner der antiken Philosophie war: seine Kleinen Schriften geben dies eindrucksvoll zu erkennen, und seine Auseinandersetzung mit Hegel führte zu dem Nebenprodukt einer Gesamtdarstellung der Philosophie des deutschen Idealismus (1923/1929), die sich durchaus neben der Gesamtdarstellung von Richard Kroner Von Hegel zu Nietzsche behaupten kann und noch heute mit Gewinn zu studieren ist.
Hartmanns Absenz gegenüber der historischen Wirklichkeit indes bleibt verwunderlich, umso mehr, als seine Vita nur vordergründig geradlinig verlief: 1926 zerbrach die erste (1911 geschlossene) Ehe mit Alice Stephanitz, der Tochter eines Petersburger Architekturprofessors, und es kam 1929 zu einer zweiten Eheschließung mit Frida Rosenfeld. Hartmann verlor in den späten Kriegswirren große Manuskriptbestände. Auch dem Typus des deutschen Professors entspricht Hartmanns Lebensform kaum: ihm, der zu Geselligkeit neigte und nachts arbeitete, waren eher bohèmehafte Züge eigen. Auch seine Affinität zu Literatur, zur Musik, und – schon seit früher Jugend – zur Astronomie ist vielfach bezeugt. Gelehrsamkeit und Lebenskunst mochten das Fundament eines philosophischen Werks abgeben, dessen Unbeirrbarkeit und Konsistenz erinnerungswürdig bleibt, dessen ontologische Kraft gegenüber manchen Verkürzungen heutiger Philosophie in sprachanalytischer oder hermeneutischer Perspektive ein Korrektiv sein könnte und dessen problemerkennende Genauigkeit noch immer Maßstäbe setzen kann.
Werke: Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis (1921), Berlin 51965. – Ethik (1926), Berlin 41962. – Philosophie des deutschen Idealismus. I. Teil: Fichte. Schelling und die Romantik (1923); II. Teil: Hegel (1929). Berlin 31974. – Möglichkeit und Wirklichkeit (1938), Berlin 31966. – Neue Wege der Ontologie (1942). Stuttgart31949. – Philosophie der Natur. Abriß der speziellen Kategorienlehre (1950). Berlin 21980. – Teleologisches Denken. Berlin 1951. – Ästhetik (1953). Berlin21966. – Nicolai Hartmann und Heinz Heimsoeth im Briefwechsel, hg. von F. Hartmann und R. Heimsoeth. Bonn 1978.
Lit.: Nicolai Hartmann: Selbstdarstellung, in: Handwörterbuch der Philosophie nach Personen, hrsg. von W. Ziegenfuß. Bd. 1, Berlin 1949, S. 454-471. – Nicolai Hartmann. 1882-1982, hg. von A.J. Buch, Bonn 1982. – Symposium zum Gedenken an Nicolai Hartmann (1882-1950), hg. von G. Patzig, Göttingen 1982. – Baumgartner, H.M.: Die Unbedingtheit des Sittlichen. Eine Auseinandersetzung mit Nicolai Hartmann, München 1962. – Becker, S.: Geschichtlicher Geist und politisches Individuum bei Nicolai Hartmann, Bonn 1990. – Morgenstern, M.: Nicolai Hartmann zur Einführung, Hamburg 1997. – Stallmach, J.: Ansichsein und Seinsverstehen. Neue Wege der Ontologie bei Nicolai Hartmann und Martin Heidegger, Bonn 1987. – Wolandt, G.: Idealismus und Faktizität, Berlin, New York 1984, insbes. S. 113-156. – ders.: Nicolai Hartmann: Ontologie als Grundlehre, in: Grundprobleme der großen Philosophen, Philosophie der Gegenwart, Band VI, hrsg. von J. Specht, Stuttgart 1984, S. 113-156.
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