Biographie

Hassell, Ulrich von

Herkunft: Pommern
Beruf: Diplomat
* 12. November 1881 in Anklam
† 8. September 1944 in Berlin

Ulrich von Hassell war einer der führenden Köpfe im Widerstand gegen Hitler und die nationalsozialistische Gewaltherrschaft in Deutschland. Während des Zweiten Weltkrieges bereitete er gemeinsam mit Generaloberst z. V. Ludwig Beck, Oberbürgermeister a.D. Carl Goerdeler und wenigen anderen Persönlichkeiten politisch und geistig die Beseitigung des NS-Regimes vor. In diesem zentralen Kreis der Widerstandsbewegung hatte sein Wort dank seiner langjährigen Erfahrungen als Diplomat, zuletzt von 1932 bis 1938 als Botschafter in Rom, und seiner hohen geistigen Fähigkeiten großes Gewicht. Unablässig bemühte er sich um Informationen zur Lage im In- und Ausland, in zahlreichen Publikationen versuchte er, zu ihrer vernünftigen Beurteilung in der Öffentlichkeit beizutragen. Durch Teilnahme an den Beratungen des engsten Kreises der Verschwörung setzte er im vollen Bewußtsein der Gefährdung seiner Person und seiner Familie sein Leben ein – gegen den als Unrechtssystem erkannten Staat, gegen eine in den Abgrund führende Außen- und Kriegspolitik, für ein „anderes Deutschland“. Als der Umsturzversuch am 20. Juli 1944 gescheitert war, traf auch ihn die unnachsichtige Verfolgung der damaligen Machthaber.

Dem in einer pommerschen Garnisonstadt des Vaters geborenen Hassell war es nicht „an der Wiege gesungen“ worden, daß er einmal ein Attentat auf das Staatsoberhaupt fordern und den Sturz einer Regierung betreiben werde. Er entstammte einer protestantisch geprägten alten Familie, die dem Staat Juristen in hoher Verantwortung und Offiziere gestellt hatte. So bedurfte es tiefgreifender Veränderungen der staatlichen Struktur, in der Führung des Reichs und den sittlichen Grundlagen ihres Handelns, ehe ein Mann seiner Herkunft und Bildung sich, in seinem Gewissen erschüttert, dazu entschloß, die überkommenen Bindungen zu lösen. Aufgewachsen in den Anfangsjahrzehnten des neuen Deutschen Reichs, hatte sich Ulrich von Hassell frühzeitig die Lebensaufgabe gestellt, Deutschland als Diplomat zu dienen. Dem entsprachen sein Streben nach einer umfassenden humanistischen Bildung, sein Jurastudium in Lausanne, Tübingen und Berlin, Sprachstudien in London und Paris und ein einjähriger Dienst am Amtsgericht Tsingtau im deutschen Pachtgebiet Kiautschou. Vor Eintritt in die diplomatische Laufbahn, die ihn zunächst als Vizekonsul nach Genua führte, heiratete er Ilse von Tirpitz, die Tochter des Staatssekretärs des Reichsmarineamtes und Großadmirals Alfred von Tirpitz. Auf seinen zahlreichen diplomatischen Außenposten war sie ihm eine verständnisvolle Helferin, in den Jahren des Widerstands stand sie überzeugt und mutig an seiner Seite. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs als Reserveoffizier des 2. Garderegiments zu Fuß einberufen, wurde er am 8. September 1914 in der Marneschlacht durch Herzschuß schwer verwundet. Nach langer Genesungszeit trat er für die Dauer des Krieges in die innere Verwaltung ein und übernahm 1916 als Direktor des Verbandes der preußischen Landkreise eine Aufgabe, durch die er sich gute Kenntnisse der östlichen Provinzen des Reichs und der Grundlagen des preußischen Staats erarbeiten konnte. Der Zusammenbruch im November 1918 veranlaßte ihn, als „junger Konservativer“ am Aufbau des neuen Staates mitzuarbeiten, publizistisch und in der neugegründeten Deutschnationalen Volkspartei. Doch kehrte er, als ihm bei der Wiedererrichtung des Auswärtigen Dienstes der Aufbau einer neuen Vertretung in Rom angeboten wurde, in den Beruf zurück, für den er besonders begabt war. Bei der Wiedereinführung des besiegten Reichs in die europäische Staaten weit galt es vor allem, das Vertrauen der Gastländer wiederzugewinnen, andererseits für die Rechte der deutschen Minderheiten entschlosseneinzutreten. Zunächst als Botschaftsrat und Geschäftsträger in Rom, dann als Generalkonsul in Barcelona und als Gesandter in Kopenhagen und Belgrad vertrat er das Reich mit Erfolg. Dabei kennzeichnet es seine Einstellung zu seiner Aufgabe, daß er sich auch stets um gründliche Kenntnisse der Landessprache bemühte. Mit der Übernahme der Botschaft in Rom trat er im Herbst 1932 in die erste Reihe der deutschen Diplomaten, doch erhielt mit der Machtübernahme Hitlers dieser Posten angesichts der vermeintlichen Nähe der politischen Systeme noch besondere Bedeutung. Es gelang, das ursprünglich gespannte Verhältnis der beiden Diktatoren zueinander schrittweise zu verbessern, so daß bei einem etwaigen Anschluß Österreichs an das Reich seit 1936 nicht mehr mit einem Einspruch Mussolinis gerechnet werden mußte. Größte Gefahr für den künftigen Frieden erblickte Hassell jedoch darin, daß Hitler auf Rat seines Außenministers Ribbentrop den Eintritt Italiens in den Antikominternpakt mit Deutschland und Japan erreichte. Dem Außenminister Freiherr von Neurath schrieb er, diese „Neuorientierung“ der deutschen Politik fasse offenbar einen Konflikt mit den Westmächten bewußt ins Auge – eine Entwicklung, der Hassell 1933 durch den Viermächtepakt zwischen Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien vorzubeugen vergeblich versucht hatte. Da Hassell offensichtlich die Außenpolitik Hitlers nicht mehr mittrug, wurde er am 18. Februar 1938 aus Rom abberufen, ohne daß eine Wiederverwendung in Aussicht gestellt wurde.

Während der Anschluß Österreichs und die Eingliederung der sudetendeutschen Gebiete ins Reich im Oktober 1938 im Sinne des anerkannten Selbstbestimmungsrechts der Völker gelegen hatten, wurde mit der Zerschlagung des restlichen tschechoslowakischen Staates im März 1939 im Urteil Hassells der Rubikon überschritten. Würden die Westmächte, die Verhandlungen über weitere Revisionsschritte durchaus zugänglich gewesen waren, Hitlers „zielstrebige Brutalität“ auf die Dauer hinnehmen? Wenige Monate später, nach Abschluß des Hitler-Stalin-Pakts, bestand akute Kriegsgefahr. Gemeinsam mit dem ihm seit Belgrad bekannten britischen Botschafter Henderson versuchte Hassell, durch Einwirkung auf Göring zu verhindern, daß der Konflikt mit Polen leichtfertig verschärft und ein großer Krieg unausweichlich wurde. Seine ursprünglich fachliche Kritik an einer für Europa wie für Deutschland als verhängnisvoll angesehenen Politik erweiterte sich nun insGrundsätzliche. Sie verband sich mit der Empörung über den Verfall der ethischen Grundlagen des Staats, der in den Morden im Zusammenhang mit dem sogenannten Röhm-Putsch und in der Entrechtung jüdischer Staatsbürger, ihrer Verfolgung in der „Reichskristallnacht“ sichtbar geworden war. Obwohl Hassell seinen Beruf gerne wieder ausgeübt hätte, hatte er schon am 17. September 1938 in seinem Tagebuch geschrieben, er frage sich, „ob man einem so unmoralischen System überhaupt dienen darf“. Anderseits war er sich im klaren darüber, daß „die geringe Chance, überhaupt etwas zu machen“, sich vermindere, „wenn man ,draußen‘ ist“.

Über Hassells politisches Denken und Handeln aufgrund dieser Erfahrungen geben seine Tagebücher bis zum 13. Juli 1944 in menschlich beeindruckender Weise Aufschluß, sie sind ein für diese Zeit einzigartiges Zeugnis zur Entstehung der deutschen Opposition gegen Hitler wie zur Geschichte Deutschlands in fünf Kriegsjahren. Wie nur wenige andere blieb Hassell auch im Augenblick größter Erfolge Hitlers, so 1940 nach demWestfeldzug, nüchtern: „Niemand wird die Größe des von Hitler Erreichten bestreiten. Aber das ändert nichts am inneren Charakter seiner Erscheinung und seiner Taten und an den grauenhaften Gefahren, denen nun alle höheren Werte ausgesetzt sind.“ Die Suche nach Gefährten auf dem Weg zu dem als notwendig erkannten Umsturz, vor allem die Schwierigkeit, für gewaltsame Aktionen unentbehrliche Inhaber militärischer Kommandostellen, aber auch hohe Beamte und Wirtschaftsführer zu gewinnen, zeigte Hassell den korrumpierenden Einfluß der bisherigen Erfolge Hitlers, zugleich die bindende Kraft des Fahneneids, die nur durch den Tod Hitlers, der selbst den Eid vielfältig gebrochen hatte, überwunden werden konnte. So wurde Hassell früh ein Verfechter der Attentatspläne. Daß die Aburteilung aller durch Deutsche begangenen Verbrechen und die künftige staatliche Ordnung nicht Sache der Sieger sei, sondern allein den Deutschen zustehe, war ein von ihm bis zuletzt vertretener Grundsatz. Das Versagen der Parteien am Ende der Weimarer Republik gehörte zu Hassells und sein Generation Erfahrung, so daß sie eine Überprüfung des parlamentarischen Systems für erforderlich hielten; die Mitwirkung der Regierten an allen wesentlichen Entscheidungen stand für ihn, ein Verfechter des Selbstverwaltungsgedankens, jedoch nie in Frage.

Bei der nach nüchterner Analyse befürchteten NiederlageReichs mußte eine handlungsfähige deutsche Regierung bereitstehen. Ein Umsturz war daher gegen ein Ausnutzen der deutschen Schwäche durch die Kriegsgegner abzusichern; doch scheiterten entsprechende Fühlungnahmen mit den Westalliierten, an denen auch Hassell beteiligt war, an der verständnislosen, ja abweisenden Haltung Churchills und Roosevelts.

Der erfahrene Diplomat von Hassell war als Außenminister einer Regierung nach dem Umsturz oder für eine andere hohe Position vorgesehen. So sind seine Vorstellungen für eine künftige Ordnung Europas eine der wesentlichen Grundlagen für eine Beurteilung seines historischen Wirkens. In zahlreichen – oft unter „Eiertänzen“ geschriebenen, weil die Zensur berücksichtigenden – Aufsätzen zeichnete er das Bild gleichberechtigter größerer und kleinerer, in wirtschaftlichem und kulturellem Austausch stehender Staaten, so etwa 1942, auf dem scheinbaren Höhepunkt Hitlerscher Machtentfaltung und im Gegensatz zu dem damals verbreiteten Hegomonialanspruch und der entsprechenden Praxis, am Beispiel der Niederlande. In demselben Sinne förderte er als Mitglied des Mitteleuropäischen Wirtschaftstags die südosteuropäischen Staaten. Als im Frühsommer 1944 die Bedrohung des Reichs aus dem Osten immer stärker und zugleich im Westen die Invasion erwartet wurde, schrieb Hassell in einem nicht mehr veröffentlichten Aufsatz Deutschland zwischen West und Ost, Europa könne nicht leben „ohne ein starkes deutsches Herz“. Mit dieser These appellierte er gleichzeitig an die Einsicht der die Aufteilung Deutschlands erwägenden Kriegsgegner und an die Zuversicht der um ihre Zukunft besorgten Deutschen. Es war ein Bild, meilenweit entfernt von der Vorstellung einer gewaltsam zu behauptenden Vorherrschaft über die europäischen Nachbarn, und zugleich ein Bekenntnis zu den der kulturellen und wirtschaftlichen Kraft des deutschen Volkes entsprechenden Aufgaben des „anderen Deutschland“.

Werke: Vom andern Deutschland (Tagebücher 1938 – 1944), Zürich und Freiburg 1946; Taschenbuchausgabe mit einem Geleitwort von Hans Rothfels, Frankfurt/M. 1964; erweiterte und revidierte Neuausgabe: Die Hassell-Tagebücher 1938 – 1944; unter Mitarbeit von Kl. P. Reiß herausgegeben von Fr. Frhr. Hiller v. Gaertringen. Berlin 1988,31989; auch als Goldmann-Taschenbuch 1991. – Im Wandel der Außenpolitik. München 1939, 41943. – Europäische Lebensfragen im Lichte der Gegenwart (Aufsatzsammlung). Berlin 1943. – Pyrrhus (aus dem Nachlaß hrsg.). Berlin 1947.

Lit.: Gregor Schöllgen: Ulrich von Hassell 1881 – 1944. Ein Konservativer in der Opposition. München 1990 (mit ausführlichem Verzeichnis der Schriften Hassells,darunter 60 Aufsätzen, und der Literatur). – Peter Hoffmann: Widerstand – Staatsstreich – Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler. München 41985.

Bild: Ulrich von Hassell vor dem Volksgerichtshof im Jahre 1944.