Mit Viktor Hehn, der am 21. März 1890 in Berlin gestorben ist, würdigen wir einen vielseitigen deutsch-baltischen Gelehrten und Schriftsteller, den biographische Nachschlagewerke als Schriftsteller schlechthin zu bezeichnen pflegen, wo man dann erst bei genauerem Nachlesen auf die vielseitigen Leistungen des Gelehrten, des Kulturphilosophen, des Goethe-Forschers, des Kenners russischen Volkstums aufmerksam wird.
Viktor Hehn entstammt einem fränkischen Geschlecht. Sein Großvater Johann Martin Hehn, Sohn eines Bauern und Schultheißen, wurde am 31. August 1743 in Römershofen in Franken geboren; er besuchte das Gymnasium in Coburg, studierte in Halle und ging nach Dorpat, der estländischen Universitätsstadt, wo er von 1766 bis 1769 Rektor der vereinigten Krons- und Stadtschule und von 1769 bis 1776 Diakon an der St. Johannis-Kirche, danach Pastor in Odenpäh war, wo er am 16. Juni 1793 gestorben ist. Aus seiner Ehe mit Louise Dorothea Gadebusch stammt Gustav Heinrich Hehn, Landgerichtssekretär und Advokat in Dorpat, verheiratet mit Amalie Wilde – Vater und Mutter Viktor Hehns, der am 26. September 1813 in Dorpat geboren wurde, wo er häuslichen Unterricht erhielt und von 1822 bis 1830 das Gymnasium besuchte. Er studierte anschließend von 1830 bis 1835 in Dorpat Philosophie und schloß sein Studium mit dem cand. phil. ab.
Nach dem Studium wurde Viktor Hehn Hauslehrer, 1835/1836 in Wilna, 1837 bis 1838 in Livland. Er begab sich anschließend nach Berlin und bereiste in den Jahren 1839 und 1840 Deutschland, Frankreich und Italien. Nach seiner Rückkehr in die Heimat war er von 1841 bis 1846 als Oberlehrer an der Höheren Kreisschule in Pernau tätig. Hier erschien im Jahre 1844 als Programmschrift der Pernauer Kreisschule seine Arbeit „Über die Physiognomie der italienischen Landschaft“. Im Jahre 1846 ging Hehn als Lektor der deutschen Sprache an die Universität in Dorpat, wo er Gelegenheit fand, seine Fähigkeiten und Kenntnisse unter Beweis zu stellen und einen beachtlichen Einfluß auf seine Hörer auszuüben. Die Beschäftigung mit der deutschen Literatur führte ihn zu einem besonderen Verhältnis zu Goethe. Daß beider Ahnen aus fränkischem Gebiet stammten, galt für Hehn als gewichtiger Grund für sein enges Verhältnis zu Goethe, das in mehreren Schriften Hehns seinen Niederschlag gefunden hat. Wir nennen hier Hehns „Gedanken über Goethe“ (1887), „Über Goethes Hermann und Dorothea“, herausgegeben von A. Leitzmann und Th. Schiemann (1893), und „Über Goethes Gedichte“, aus dem Nachlaß, herausgegeben von E. v. d. Hellen (1901).
Viktor Hehn war auf seiner Auslandsreise mit dem modernen Liberalismus in Berührung gekommen und hat Beziehungen von damals später nicht abreißen lassen. Hinzu kam eine briefliche Verbindung zur Freifrau Méry von Bruiningk, die sich seit einer Kurreise 1848 in Frankfurt unter dem Eindruck der Nationalversammlung für die deutschen Einheits- und Freiheitsideen begeisterte und neben Arndt, Freiligrath und Geibel auch den Professor der Kunstge-hichte, Gottfried Kinkel, einen aktiven Teilnehmer an der Revolution von 1848, kennengelernt hatte. Dies alles erschien den politischen Aufsichtsbeamten Kaiser Nikolaus I. nicht geheuer, ja staatsgefährlich. Hehns Tätigkeit als Dozent in Dorpat fand ein abruptes ide. Er wurde (1851) nach Tula verbannt. Es war ein Verhängnis, vielleicht aber auch eine glückliche Fügung, daß er auf administrativem Wege nach Tula verbannt worden war, wo er sich als Hauslehrer in Brot erwarb, denn in der Einsamkeit seiner Verbannung durch die Beobachtung der russischen Volksseele erwarb er volkspsychologische Kenntnisse und legte bereits dort die Grundlagen zu seinem Werk „De moribus Ruthenorum. Zur Charakteristik der russischen Volksseele. Tagebuchblätter aus den Jahren 1857-1873“. Herausgeben von seinem baltischen Landsmann Theodor Schiemann, erschien es im Jahre 1892 – zwei Jahre nach dem Tode Hehns. Es wurde diesem Buch bescheinigt, es sei, bei aller scharfen Kritik des Russentums, über den Tag hinaus einer der ganz wenigen Wegweiser für die Beurteilung des russischen Menschen.
Nach vierjährigem Aufenthalt in Tula im Jahre 1855 amnestiert, ging Hehn nach St. Petersburg, wo er von 1856 bis 1873 als Oberbibliothekar an der Kaiserlichen öffentlichen Bibliothek tätig gewesen ist. In jenen Jahren schrieb er sein Buch „Kulturpflanzen und Haustiere in ihrem Übergang aus Asien nach Griechenland und Italien, sowie in das übrige Europa. Historisch-linguistische Skizzen“ (1870), das wohl zum bekanntesten seiner Werke geworden ist und mehrere Auflagen erlebt hat. Wenn seine Theorien sich spätere Korrekturen haben gefallen lassen müssen, so war doch mit seinen Gedanken der erste Schlüssel zu einer systematischen Kulturforschung und Kulturgeschichte gegeben, der seine Geltung behielt. Hehn schwebte eine Kulturgeschichte Europas auf sprachwissenschaftlicher Grundlage vor. Er gehörte zu den Repräsentanten einer kulturmorphologischen Linie, mit einem weit über den engen Heimathorizont reichenden, die europäische Geistesgeschichte umspannenden Blick, geistiger Erbe eines Herder und Goethe, Bahnbrecher für eine Natur und Kultur verbindende Geschichte der Menschheit. Natur und Geist, um diesen Gegensatz kreisten Erörterung wie Gedanken. Und sein Landsmann Georg Dehio hat Hehn mit folgenden Worten gewürdigt: „Viktor Hehn gehört als Schriftsteller der deutschen Literatur, als Gelehrter der Welt. Wir haben ein Recht, mit Freude und Stolz ihn den unsrigen zu nennen. Bis in die Wahl seiner wissenschaftlichen Lieblingsthemata, wie in seinem ganzen Urteil über Welt und Menschen, blieb dieser wurzelechte Sohn seiner Heimat zeitlebens von dem unzerstörbaren Etwas abhängig, das dieselbe ihm mit Saft und Blut mitgegeben hatte.“
Nach seiner Pensionierung im Rang eines Wirklichen Staatsrats verabschiedet, entschloß sich Hehn im Alter von 60 Jahren St. Petersburg zu verlassen und nach Berlin überzusiedeln. Von zeitweiligen Aufenthalten in Italien abgesehen, blieb er in Berlin. Im Jahre 1876 wurde er mit der Dorpater Prämie der Robert Heimbürgerschen Stiftung für seine „Kulturpflanzen und Haustiere“ ausgezeichnet, wobei es in der Begründung hieß: „Das auf dem Wege der Linguistik gewonnene Material hat Hehn zu einer Reihe lebendiger Kulturbilder verarbeitet, die geeignet sind, uns das Leben ganzer Epochen in neuem Licht zu zeigen. Namentlich für die älteste Geschichte der Indogermanen hat er wichtige Ergebnisse gewonnen. Die Resultate, die er gezogen, sind von höchster Bedeutung. Auf der einen Seite gewinnen wir einen Überblick auf den allgemeinen Gang des Fortschritts der menschlichen Kultur. Auf der anderen Seite bringen die historischen Erörterungen die wichtige Frage der Lösung beträchtlich näher, ob die Mittelmeerländer wirklich in Folge jahrtausendealter Kultur dem Verfall entgegeneilen, und die allgemeinere, ob die Zivilisation sich wirklich ihr eigenes Grab grabe. Alle derartigen Aufstellungen hat der Verfasser gründlichst widerlegt.“ Seitens der Universitäten Dorpat und Marburg mit der Ehrendoktorwürde der Philosophie ausgezeichnet (1888), starb Viktor Hehn am 21. März 1890 in Berlin.
Lit.: Allgemeine Deutsche Biographie, 50 (Th. Schiemann); Neue Deutsche Biographie, 8 (K. Deichgräber); Deutsch-Baltisches Biographisches Lexikon 1710-1960. Köln/Wien 1970; O. Schrader: Viktor Hehn, ein Bild seines Lebens und seiner Werke. Berlin 1891; Th(eodor) Schiemann: Viktor Hehn, ein Lebensbild. Stuttgart 1894; O,v. Petersen: Herder und Hehn. Riga 1931; Viktor Hehn. In: Deutsche Männer des baltischen Ostens, hrsg, v. Arved v. Taube. Berlin 1943; Theodor Heuss: Viktor Hehn. In: Deutsche Gestalten. Stuttgart/Tübingen 1951; K. Deichgräber (Hrsg.): Aus Viktor Hehns Nachlaß. Wiesbaden 1951.