Biographie

Heinz, Viktor

Herkunft: Rußland (Wolga- u. Schwarzmeer)
Beruf: Schriftsteller
* 10. Oktober 1937 in Nowoskatowka/Westsibirien
† 11. Juni 2013 in Göttingen

Im Jahre 1992 siedelte der damals 55-jährige russlanddeutsche Autor Viktor Heinz – ernüchtert vom Perestrojka-Traum einer neuen Autonomie der Russlanddeutschen an der Wolga – in die Bundesrepublik Deutschland über. Im selben Jahr noch war seine TheatertrilogieAuf den Wogen der Jahrhunderte, Menschen und Schicksaleund Jahre der Hoffnung über das mehr als 200 Jahre alte Schicksal der Russlanddeutschen seit ihrer Ansiedlung durch Katharina die Große bis zur Vernichtung der Autonomen Republik der Wolgadeutschen 1941 durch Stalin im Deutschen Theater von Alma Ata, der Hauptstadt Kasachstans, aufgeführt worden. Wie einst die Besucher der Premiere von Schillers Räubern, die sich die weinend in die Arme fielen, reagierten auch die Besucher dieser Aufführung, als sie zum ersten Mal ihr schweres Schicksal von Heinz dichterisch gestaltet auf den Brettern sahen, die für sie nun im wahrsten Sinne des Wortes „die Welt bedeuteten“.

Dieser Ausnahmeleistung der osteuropäischen deutschsprachigen Dramatik – weder die Ungarn- noch die Rumäniendeutschen haben etwas diesem Ebenbürtiges, trotz einiger beachtlicher Versuche etwa des Banaters Hans Kehrer mit dem Drama Versunkene Äcker, aufzuweisen – folgte nach fünf Jahren des Aufenthalts in der neuen Heimat Deutschland der Roman In der Sackgassse. Er ist Viktor Heinz’ bisher umfangreichste, am weitesten gespannte und ehrgeizigste Prosaarbeit. Mit der Gestalt des Willi Werner, gewissermaßen eines alter ego des Autors, versucht Heinz, eine Summe des Lebens in der alten Heimat zu ziehen. Dabei benutzt er für russlanddeutsche Autoren noch wenig gebräuchliche Techniken, wie Rückblenden und innere Monologe. Sein Hauptheld liegt im Krankenhaus und sieht sich durch diesen Umstand veranlasst, über seinen bisherigen Werdegang vor sich selbst Rechenschaft abzulegen.

Die stärksten Passagen des Buches bilden die Erinnerungen an die Kindheit: ein russlanddeutsches Kinderschicksal in der Verbannung, ohne Eltern, ganz auf die Großeltern angewiesen – ein Thema, das auch von anderen russlanddeutschen Autoren wie Hugo Wormsbecher in Unser Hof oder Robert Weber in Reise in die Erinnerung sowie von ihm selbst in Wo bist du Vater?! behandelt wird. Es gelingt Heinz, diese schwierige Zeit atmosphärisch dicht und bei aller Tragik stellenweise mit Humor durchzogen dem Leser vor Augen zu führen.

In den Schicksalen und vor allem in den Begegnungen des Romanhelden Willi Werner mit realen Persönlichkeiten spiegeln sich die Stationen des Lebenswegs von Viktor Heinz. Im Ort Nowoskatowska im Gebiet Omsk als Sohn eines Dorfschullehrers geboren, wurden er und seine vier Geschwister, da die Eltern in einem Arbeitslager interniert waren, der kränkelnden Großmutter überlassen, der es gelang, die Kinder über die schwere Kriegszeit zu retten.

Nach dem Abitur 1955 nahm Viktor Heinz 1959 ein Studium an der Pädagogischen Hochschule Nowosibirsk auf. Dort beeindruckte ihn Boris Brainin, Dichtername Sepp Österreicher, ein Autor jüdisch-österreichischer Herkunft, der nach der Machtergreifungder Nationalsozialisten Zuflucht in Stalins Sowjetunion gesucht hatte und gleichwohl als Deutscher für zehn Jahre in Lagerhaft kam. Rehabilitiert durfte Brainin später für russlanddeutsche Periodika arbeiten.

Prägend wurde für Viktor Heinz in Nowosibirsk aber insbesondere die Begegnung mit Viktor Klein, dem Lehrstuhlinhaber für deutsche Sprache und Literatur, der das literarische Talent des Studenten erkannte und ihn entscheidend förderte. Viktor Klein war für die russlanddeutsche Kultur wegweisend, indem er jungen Autoren Mut machte, trotz aller Widrigkeiten deutsch zu schreiben und ihre Werke auch zu veröffentlichen, um so nach Jahrzehnten des Schweigens wieder eine deutschsprachige literarische Öffentlichkeit herzustellen. Er lehrte daher die deutsche Sprache und Literatur unter aktuellen Gesichtspunkten und betonte immer wieder, dass deutsch die Sprache von Goethe, Schiller, Heine und Karl Marx – ohne den nun einmal im damaligen sowjetischen System nichts ging – und sie von den Nationalsozialisten lediglich missbraucht und verhunzt worden sei. Um die Sprache wieder in ihrer alten Pracht erstrahlen zu lassen, griff Viktor Klein auf das deutsche Volkslied zurück, das bei den Russlanddeutschen der älteren Generation noch lebendig geblieben war. Klein schrieb auch selbst, obwohl meist für die Schublade, da er auf bessere Zeiten wartete, die er indes nicht mehr erleben sollte, da er 1975 starb. Dem Psychoterror der Verhöre nicht mehr gewachsen, verbrannte damals die Witwe Kleins die Manuskripte von dessen beiden letzten, das Schicksal der Russlanddeutschen in der Verbannung behandelnden Romanen. Nur ein Kapitel, Der letzte Grabhügel, konnte gerettet und später als eigenständige Erzählung publiziert werden. Seine Schüler errichteten ihm in Nowosibirsk – wohl ein einmaliger Vorgang – ein Denkmal.

Dem Vorbild von Viktor Klein sollte Viktor Heinz in seinem weiteren Leben und Wirken verpflichtet sein. Nach Abschluss des germanistischen Studiums in Nowosibirsk 1963 ging er als Dozent an das Pädagogische Institut in Omsk. Dort wurde er 1971 mit einer Dissertation zum Thema Das Lautsystem der oberhessischen Mundarten im Gebiet Omskpromoviert. 1974 erhielt er den Ruf an die Pädagogische Hochschule in Petropawlowsk in Nordkasachstan, wo er als Inhaber des Lehrstuhls für Fremdsprachen tätig sein sollte. 1984 wechselte er in die Literaturredaktion der russlanddeutschen ZeitschriftFreundschaft in Alma Ata, arbeitete zudem alsRedakteur der Literaturseite der Wochenzeitung „Deutsche Allgemeine“. Heinz, der als Verfasser lyrischer, erzählerischer und dramatischer Werkeden russlanddeutschen Lesern bekannt war,widmete sich aber auch weiterhin intensiv der Förderung junger literarischer Talente.

Mit Willi Werner, dem Helden des Romans In der Sackgasse, zieht Viktor Heinz selbst eine nüchterne Bilanz seiner Tätigkeit in der Sowjetunion: Zwar war er innerlich gegen vieles im System eingestellt, hat er sich gelegentlich auch aus manchem heraushalten können, doch offenkundigen Widerstand hat er nicht geleistet. So endet dieser großangelegte Schicksalsroman über die Russlanddeutschen der Vorwendezeit letztlich selbstkritisch und glaubwürdig. Hier liegen vielleicht die Chancen der russlanddeutschen Literatur, die Komplexität der Verhältnisse nicht zu vereinfachen und sich auf eine allgemeine Opferhaltung zurückzuziehen, sondern im ehrlichen Eingeständnis der mehr oder minder starken Verstrickung in die Mechanismen eines totalitären Regimes mit einem perfektionierten Überwachungsapparat.

Der wichtigen Aufgabe der Fortentwicklung der russlanddeutschen Literatur und insbesondere der Förderung junger Autoren blieb Heinz nach der Ausreise 1992 auch in seiner neuen Wirkungsstätte in Göttingen verpflichtet. Gemeinsam mit Agnes Giesbrecht und zwölf weiteren Autoren gründete er 1995 den Literaturkreis der Deutschen aus Russland, der heute ca. 90 Mitglieder zählt und ihn anlässlich des 70. Geburtstages im Jahre 2007 zum Ehrenmitglied ernannte. Als treusorgend, solide und umgänglich wird von seinen Schülern und Freunden der„Vater der russlanddeutschen Autoren“ geschildert.

Im Jahre 2002 wurde Viktor Heinz für seine in Deutschland und Russland veröffentlichten, in besonderer Weise die Befindlichkeiten der Russlanddeutschen wiedergebenden literarischen Werke die Ehrengabe des Russlanddeutschen Literaturpreises überreicht.

Ingmar Brantsch