Biographie

Helbig, Louis Ferdinand

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Literaturwissenschaftler
* 2. September 1935 in Liegnitz(/ Niederschlesien
† 2. Dezember 1919 in Berlin

Liegnitz/ Niederschlesien, wo Louis Ferdinand Helbig geboren wurde, ist bekannt für das schlesische Weihnachtsgebäck „Liegnitzer Bomben“. Er besuchte die Volksschule in Sagan am Bober. Zum Kriegsende 1945 floh er mit Eltern und drei Geschwistern nach Heidelberg, wo er das 1835 gegründete Helmholtz-Gymnasium besuchte und 1955 das Abitur ablegte. Nach einer Ausbildung zum Großkaufmann in Ludwigshafen am Rhein wanderte er 1958, im Alter von 23 Jahren, nach Kanada aus, wo er zunächst in seinem erlernten Beruf in der Industrie arbeitete. Nachdem er ein Zertifikat über gutes Englisch erworben hatte, nahm er 1963 an der University von Edmonton, der Hauptstadt der kanadischen Provinz Alberta, ein Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie auf, dort bestand er auch 1966 und 1967 die Examina für die Qualifikationen „Bachelor of Arts“ und „Master of Arts“. Der Doktortitel wurde ihm 1969 von der University of  Waterloo in der Provinz Ontario für eine Dissertation über Das Geschichtsdrama Georg Büchners (Buchfassung 1973) verliehen.

Von Kanada siedelte Louis F. Helbig in die Vereinigten Staaten über, wo er an der Indiana University in Bloomington/ Indiana als Germanistikprofessor arbeitete und für zehn Jahre das von der Volkswagen-Stiftung in Wolfsburg/ Niedersachsen finanzierte „Institute of German Studies“ leitete. Nachdem sein Vertrag ausgelaufen war, wechselte er 1990 an die University of Arizona in Tucson, wo er fünf Jahre unterrichtete. Er war in erster Ehe mit einer Oberschlesierin verheiratet und lebte mit seiner zweiten Frau seit 1995 in Les Echelles/Frankreich, wo er bis 2000 an der Université de Savoie in Chanberry unterrichtete. Von 2000 bis 2004 war er Gastprofessor am Germanistischen Institut der Universität von Zielona Góra/ Grünberg in Schlesien. Er starb am 3. Dezember 2019 in Berlin, wo er eine Zweitwohnung besaß.

Wenn man sein umfangreiches Werkverzeichnis durchsieht, stößt man ständig auf Aufsätze und Rezensionen zu Autoren, die aus dem historischen Ostdeutschland stammen und über Flucht und Vertreibung geschrieben haben. Um sie dem Alter nach zu nennen: der Niederschlesier Friedrich Bischoff (1896-1976) aus Neumarkt bei Breslau, der 1925 in Breslau literarischer Leiter der „Schlesischen Funkstunde“ wurde; der Theologe und Pfarrer Kurt Ihlenfeld (1901-1997), der mit seinem schlesischen Vertreibungsroman Wintergewitter (1951) berühmt wurde; die Erzählerin Ruth Storm (1905-1993) aus Kattowitz in Oberschlesien; der schlesische Lyriker Ernst Günther Bleisch (1914-2003), der nach dem Krieg in München lebte; der aus dem böhmischen Riesengebirge stammende Franz Fühmann (1922-1984) mit seiner vertreibungskritischen Erzählung Böhmen am Meer (1962); der oberschlesische Lyriker Heinz Piontek (1925-2003) aus Kreuzburg, der 1993 einen Roman über Goethes schlesische Reise 1790 veröffentlicht hat; die 1929 in Auspitz/ Südmähren geborene, heute in Wien lebende Ilse Tielsch mit ihrer mährischen Romantrilogie 1980/88; die jenseits der Oder, in Landsberg an der Warthe, geborene Christa Wolf (1929-2011), die ihre Flucht als 15-jährige Schülerin im Januar 1945 im Roman Kindheitsmuster (1976) verarbeitet hat; Horst Bienek (1930-1990) aus Gleiwitz/Oberschlesien mit dem Gedichtband Gleiwitzer Kindheit (1976) und seiner oberschlesischen Romantetralogie (1975/82); der ostpreußische Erzähler Arno Surminski (1934) mit seiner Romantrilogie 1974/80, die im fiktiven Dorf Jokehnen beginnt und in Kanada endet; und schließlich der Schlesier Harald Gerlach (1940-2001), der nach der Flucht in Thüringen aufgewachsen ist und mit seinem Gedichtband Sprung ins Hafermeer (1973) und dem Roman Windstimmen (1997) an die alte Heimat erinnerte.

Bei dieser Fülle von Veröffentlichungen zu einem Thema, das von der westdeutschen Universitätsgermanistik weitgehend ignoriert wurde, war es abzusehen, dass Louis Ferdinand Helbig eines Tages auch eine Synthese seiner literaturwissenschaftlichen Bemühungen vorlegen würde. Das Buch erschien 1888 unter dem Titel Der ungeheure Verlust. Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit (296 Seiten) und liegt inzwischen auch als Taschenbuch vor. Die Entstehung dieses Buches, das in seiner wissenschaftlichen Strenge nur mit einer deutschen Habilitationsschrift zu vergleichen ist, basiert auf zehnjähriger Forschungsarbeit, deren Stationen in einer Vielzahl von Aufsätzen und Rezensionen dokumentiert sind. Der Forschungsbericht Das Flucht- und Vertreibungsgeschehen in Belletristik und Literaturforschung 1945-1985 (1986) ist wohl die gewichtigste Vorarbeit zu diesem Buch. Der Titel geht auf das Tagebuch 1946-1949 (1950) des Schweizer Schriftstellers Max Frisch (1911-1991) zurück, der während eines Besuchs im nunmehr polnisch gewordenen Breslau notierte, dass Schlesien für die Nachkriegspolen ein „ungeheures Geschenk“ gewesen sei. Der Verfasser griff dieses Wort auf und interpretierte die Abtrennung Schlesiens und der deutschen Ostgebiete überhaupt als „ungeheuren Verlust“ für die Deutschen.

Zu würdigen ist auch, dass er den Blick auf die DDR-Literatur, wo es anderthalb Dutzend Autoren mit ostdeutscher Biografie gab, nicht aussparte und damit dem weitverbreiteten Vorurteil widersprach, im SED-Staat hätte es keine literarische Aufarbeitung von Flucht und Vertreibung gegeben. Bei solchen Verdiensten fragt man sich, warum der Autor „nur“ mit dem „Georg-Dehio-Preis“, nicht aber mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde. Zum 70. Geburtstag erschien unter dem Titel Zwischen Verlust und Fülle (2005) eine Festschrift, die man noch heute mit Gewinn und Vergnügen liest.

Werke: Der ungeheure Verlust, Wiesbaden 1988. – Das Flucht- und Vertreibungsgeschehen in Belletristik und Literaturforschung 1945-1985, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau, Band 27/1986, Seite 223-278.

Bild: Privatarchiv des Autors.

 

Jörg Bernhard Bilke