Biographie

Herder, Johann Gottfried

Herkunft: Ostbrandenburg
Beruf: Philosoph, Theologe, Schriftsteller, Aesthetiker
* 25. August 1744 in Mohrungen/Ostpr.
† 18. Dezember 1803 in Weimar

Johann Gottfried Herders umfangreiches und ungemein vielgestaltiges Werk gehört zu den großen Leistungen der Menschheitskultur, er selbst zu den bedeutendsten Anregern der Literatur und des wissenschaftlichen Denkens des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Als Philosoph der Geschichte und Kunst ist er hervorgetreten, als Sprachtheoretiker, als protestantischer Prediger und Pädagoge, als Dichter, Übersetzer, schließlich als bedeutender Sammler und Herausgeber von Volksliedern. Die dem zugrunde liegende Weite und Breite der Interessen mag eine der Ursachen dafür sein, daß selbst aus heutiger Perspektive eine geistesgeschichtliche Standortbestimmung des Autors Schwierigkeiten bereitet, ganz zu schweigen von seiner sehr komplexen und oft widersprüchlichen Wirkungsgeschichte. Schon bei den Zeitgenossen gab es Irritationen. Bekannt ist eine Bemerkung Jean Pauls, wonach Herder „kein Stern erster oder sonstiger Größe“ sei, sondern vielmehr „ein Bund von Sternen, aus welchem sich dann jeder ein beliebiges Sternbild buchstabiert“.

Geboren wurde Herder in dem ostpreußischen Ackerstädtchen Mohrungen, das zu jener Zeit etwa 1800 Einwohner zählte. Sein Vater, ein lutherischer Küster und Landschullehrer, lebte in ärmlichen Verhältnissen und war nicht in der Lage, dem Sohn eine wissenschaftliche Ausbildung zu ermöglichen. Erst durch die Unterstützung eines russischen Regimentsarztes, dem der Wissensdurst des Knaben aufgefallen war, konnte Herder die Universität Königsberg beziehen, um auf Anraten seines Gönners Medizin zu studieren. Nach der ersten anatomischen Sektion (die der Studiosus mit einem Ohnmachtsanfall quittierte) gab er das Medizinstudium auf und trat in die theologische Fakultät der Universität ein. Hier interessierte er sich hauptsächlich für Philosophie und Literatur. Bevorzugter Lehrer wurde der „vorkritische“ Kant, der den Hochbegabten unentgeltlich an seinen Vorlesungen teilnehmen ließ. Rousseaulektüre wie auch die Freundschaft mit dem pietistischen Philosophen Johann Georg Hamann machten den jungen Herder mit freiheitlichen Ideen, mit dem Volkslied, der Sagenwelt des Ossian, der englischen Sprache und mit Shakespeares Hamlet vertraut.

Von 1764 an war Herder als Lehrer, Kritiker und Domprediger in Riga tätig, wo er vor allem wegen seiner hinreißenden Beredsamkeit geschätzt wurde. Hier begann auch seine intensive schriftstellerische Tätigkeit. Neben zahllosen kleineren Artikeln und Kritiken entstanden die ersten umfangreicheren Werke, die – obwohl zunächst anonym erschienen – den Verfasser schnell berühmt machten: die Fragmente Über die neueste deutsche Literatur und die Kritischen Wälder.

1769 verließ Herder Riga. Nach einer Seereise, die ihn in mehrere europäische Länder führte, trat er ein Jahr später in den Dienst desFürstbischofs zu Lübeck, dessen Sohn, den Erbprinzen, er auf Reisen begleitete. Nachdem er sich in Darmstadt, wo er Karoline Flachsland, seiner späteren Frau, begegnete, von der Reisegesellschaft getrennt hatte, verbrachte er den Winter 1770/71 in Straßburg. Hier fand die bedeutungsvolle Begegnung mit Goethe statt. Goethe verdankte Herder – wie die gesamte Sturm-und-Drang-Bewegung – wesentliche Anregungen. Nicht akademische Bildung und pedantisches Regelwerk, so das Herdersche Credo, sondern tiefe Empfindung, Unmittelbarkeit und Wahrhaftigkeit mache den Dichter wie überhaupt die Poesie. Herders eigene Sammlung von Volksliedern. Nebst untermischten Stücken (erst 1807 erschien sie unter dem berühmten Titel Stimmen der Völker in Liedern) sollte gleichsam vor Augen führen, daß Dichtung in allen Weltgegenden ebenso wie in allen Ständen und Schichten der Gesellschaft zu Hause sei. In ihr hat Herder sich zugleich als einfühlsamer Nachdichter ausländischer, vor allem auch slawischer und baltischer Folklore erwiesen und damit einer positiven Beurteilung der kulturellen Leistungen der osteuropäischen Völker Vorschub geleistet. Im Frühjahr 1771 nahm Herder die Stelle eines Hofpredigers in Bückeburg an, eine der zahlreichen Zwergresidenzen Deutschlands. Anders als in der neuen Ideen gegenüber aufgeschlossenen patrizischen Hansestadt Riga stieß der freigeistige Theologe – wie später noch oft in seinem Leben – auf den Widerstand der lutherischen Orthodoxie, litt er unter der Enge der Verhältnisse, denen er unter allen Umständen zu entkommen trachtete. Seine wiederholten Bemühungen um eine Professur in Göttingen scheiterten am Mißtrauen der konservativ eingestellten kirchlichen Behörde. Ohnehin betrieb Herder solche Versuche nur halbherzig. Allzu bewußt war ihm der Gegensatz zwischen seinen Überzeugungen und Wirkungsabsichten und der herrschenden Lehrmeinung und -praxis. Da kam ein Angebot Goethes gerade recht, der seinen Mentor aus der Straßburger Zeit nach Weimar holte. Fast drei Jahrzehnte war Herder nun in dem thüringischen Herzogtum in höchsten – dennoch schlecht bezahlten – geistlichen Ämtern tätig: 1776 wurde er Generalsuperintendent, Oberhofprediger, Vizepräsident, dann Präsident des Oberkonsistoriums. Hier bot sich durchaus Raum für eine erzieherisch-praktische Tätigkeit; Herder erwarb sich Verdienste um die Verbesserung des Schulwesens, einige kirchliche Reformen wurden durchgeführt. Zweifellos war Herders Weimarer Periode – fast identisch mit seiner zweiten Lebenshälfte – die bei weitem produktivste und ertragreichste. Neue Verbindungen wurden geknüpft, neue Freundschaften geschlossen; es fehlte nicht an Ehrungen und Anerkennung. So arbeitete der Vielbeschäftigte an Wielands Teutschem Merkur, später an Schillers Horen mit. Auf einer Hamburgreise machte er die Bekanntschaft Klopstocks; Jean Paul verkehrte im Hause Herders. Er war Mitglied der Berliner Akademie geworden. Von den weitgefächerten publizistischen Aktivitäten sind vor allem die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit hervorzuheben, Herdes Opus magnum, ein großartiger Versuch, die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft anhand von Untersuchungen über Natur und Geschichte, über Kunst, Religion und Sitten als einen naturgeschichtlichen Prozeß darzustellen. Mit seiner historisch-genetischen Betrachtungsweise hat Herder geschichts- und religionsphilosophischen Entwicklungen vorgearbeitet, die sich erst im 19. Jahrhundert, namentlich bei Schelling und Hegel, entfalteten. Und als unabgegolten in ihren Ideengehalt haben sich auch die Briefe zur Beförderung der Humanität erwiesen. In ihnen hat Herder die klassische Humanitätsauffassung am eindrucksvollsten dargelegt. Humanität wird als höchste Bestimmung der menschlichen Natur definiert, die Wechselwirkung von demokratischem Patriotismus und „Weltbürgertum“ untersucht und der Friede als unabdingbare Voraussetzung für das Glück der Menschheit gepriesen.

Gleichwohl blieben die Weimarer Jahre nicht ungetrübt. Querelen mit den Amtskollegen, die Gleichgültigkeit des Hofes gegenüber seinen kirchenreformerischen und volkserzieherischen Ambitionen, ständige finanzielle Nöte, die immer wieder zu schriftstellerischen „Brotarbeiten“ zwangen – all das verbitterte den ehrgeizigen, zugleich ehrempfindlichen und reizbaren Mann. Nicht zuletzt verdroß ihn auch die außerordentliche Bevorzugung, die der fünf Jahre jüngere Goethe als Günstling Karl Augusts genoß. Aber auch weltanschauliche und literarästhetische Divergenzen führten zu Spannungen. So war Herder nicht bereit, die Ausschließlichkeit eines am Modell der Antike orientierten klassizistischen Kunstkonzepts zu akzeptieren, wie es Goethe in enger Zusammenarbeit mit Schiller entwickelt und in den mitneunziger Jahren programmatisch ausgebaut hatte. Ein produktiver Dialog kam nicht zustande. Um die Jahrhundertwende häuften sich negative Urteile Herders über die Literaturentwicklung, von der er meinte, daß sie sich von Grundpositionen der Aufklärung entferne. In diesem Zusammenhang muß auch sein mit ungewöhnlicher Heftigkeit geführter Kampf gegen die Transzendentalphilosophie seines ehemaligen Lehrers Kant gesehen werden, vornehmlich in den Streitschriften Metakritik und Kalligone. Kants spekulativ-“übersinnlicher“ Ästhetik wurde – ohne freilich den Intentionen des Königsbergers gerecht zu werden – eine am Leben und der Wirklichkeit orientierte Philosophie der sinnlichen Wahrnehmung entgegengesetzt. Die starken Aversionen gegen Kants abstrakten Intellektualismus sind auch deshalb aufschlußreich, weil sie die Triebkräfte und psychologischen Voraussetzungen des Autors Herder noch einmal ins Licht rückte. Denn stets war es ihm um anschauliche Lebendigkeit gegangen, jede Art von „System“ wurde als Erstarrung, als Zwang und Einengung empfunden. Immer wieder hat er die Trennung von Verstand und Gefühl bekämpft, den Blick ins Weite gesucht über alle Grenzen und Grenzziehungen hinweg, um gerade auf dieseWeise der Totalität und Vielgestaltigkeit einer in Entwicklung und Veränderung gedachten Welt auf die Spur zu kommen. Die letzten Lebensjahre Herders waren von Krankheit, materiellen Sorgen um seine kinderreiche Familie und fast vollständiger Zurückgezogenheit gekennzeichnet. Dennoch ist er weiter unermüdlich tätig gewesen, er blieb aufgeschlossen für alles menschlich Bedeutsame und Wertvolle. Kurz vor seinem Tode hat er noch eine Nachdichtung des spanischen Nationalepos Der Cid herausgegeben.

Lit.: Einen nahezu vollständigen Überblick über das umfangreiche Herder-Schrifttum bei K. Goedecke: Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung. Dresden 1916. Bd. IV, 1.3. Aufl., S. 695 – 740,1154 – 1159, und daran anschließend die Zusammenstellung von D. Berger: Herder-Schrifttum 1916 – 1953, in: Im Geiste Herders. Gesammelte Aufsätze zum 150. Todestage J. G. Herders, hrsg. von E. Keyser: Kitzingen am Main 1953, S. 268 – 305. Fortsetzung von D. Berger: Herder-Schrifttum 1953 -1957 mit Nachträgen aus früheren Jahren, in: Herder-Studien, Hrsg. v. W. Wiora. Marburger Ostforschungen Bd. 10, Würzburg 1960, S. 121 – 135. Vgl. ferner die Bibliographien zur deutschen Klassik, in: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für deutsche Literaturgeschichte. Weimar 1955 ff.

Werke und Briefe:Herders Sämtliche Werke. Bd. l – 33, hrsg. v. B. Suphan, Berlin 1877 bis 1913. – J. G. Herder. Werke. 10 Bände, hrsg. v. Wolfgang Pross, Jürgen Brummack u.a. Deutscher Klassiker Verlag, Bd. 1: Frankfurt a. Main 1985; Bd. 3: Frankfurt a. Main 1990; Bd. 6: Frankfurt a. Main 1989; Bd. 7: Frankfurt a. Main 1991; übrige Bände in Vorbereitung. – J. G. Herder. Werke in zwei Bänden, hrsg. v. Karl-Gustav Gerold, München 1953. – J. G. Herder. Mensch und Geschichte. Sein Werk imGrundriß. Hrsg. v. Willi A. Koch. Stuttgart 1957 (Kröners Taschenbuchausgabe Bd. 136). – J. G. Herder. Über den Ursprung der Sprache, hrsg. v. Claus Träger, 1959. – Herders Briefe in einem Band. Ausgew. u. erl. von Regine Otto. Berlin u. Weimar 1983. – Herder. Briefe. Gesamtausgabe 1763 – 1793, 8 Bde., hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, Weimar 1977 -1984.

Gesamtdarstellungen: Berger, F.: Menschenbild und Menschenbildung. Die philosophisch-pädagogische Anthropologie J. G. Herders, Stuttgart 1933. – Dobbek, W: J. G. Herders Humanitätsidee als Ausdruck seines Weltbildes und seiner Persönlichkeit, Braunschweig 1949. – Gulyga, Arseni.: J. G. Herder. Eine Einführung in seine Philosophie, Leipzig 1978. – Haym, R.: Herder nach seinem Leben und seinen Werken, 2 Bde., Berlin 1880/1885, 2. Aufl. Berlin-Darmstadt 1954. – Kantzenbach, F. W: J.G. Herder. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg 1970. 5. Aufl. 1992 (rowohlts monographien). – Knorr, F.: Das Problem der menschlichen Philosophie bei J. G. Herder, Diss. Marburg 1931. – Rasch, W: Herder. Sein Leben und sein Werk im Umriß, Halle a. S. 1938. – Ruprecht, E. J.: J. G. Herder. Mensch und Welt. Eine Zusammenfassung des Gesamtwerks. Jena 1949. – Stadelmann, R.: Der historische Sinn bei Herder, Halle a. S. 1928. – Vesterling, H.: Herders Humanitätsprinzip, Diss. Halle 1890.

Bild: Herder nach einem Ölgemälde von Friedrich Rehberg; Stiftung Weimarer Klassik Weimar.