Biographie

Heynicke, Kurt

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Dichter, Lyriker
* 20. September 1891 in Liegnitz/Schlesien
† 18. März 1985 in Merzhausen bei Freiburg/Breisgau

Die Forschung wie die kulturelle Öffentlichkeit haben Person und Werk Kurt Heynickes bislang immer nur punktuell wahrgenommen. Wir besitzen bis dato nicht einmal eine zuverlässig registrierende Bestandsaufnahme seines umfangreichen Oeuvres; ganz zu schweigen von einer halbwegs adäquaten Darstellung auch nur von Teilen seiner Dichtung. Dabei sind den Aktivitäten wie den Abstandnahmen dieses 93 Jahre währenden Lebens interessante Aufschlüsse zu entnehmen. Schon Herkunft und beruflicher Werdegang heben sich augenfällig von den Lebensläufen der meisten namhaften Expressionisten ab, denen Heynicke üblicherweise zugezählt wird. Im Unterschied zu Benn, Heym, Stramm, van Hoddis oder Stadler stammt Heynicke aus einer Arbeiterfamilie, weist keine akademische Ausbildung auf und schlägt sich zunächst als kaufmännischer Angestellter durch. (Wie prekär die Situation der Angestellten damals war, wissen wir aus der gleichnamigen, 1929 erschienenen Studie Siegfried Kracauers.) Den Ersten Weltkrieg erlebt er in seiner vollen Länge an der Front. Diese vier Soldatenjahre hinterlassen eine nachhaltige, nicht zum wenigsten in den ersten Lyrikbüchern unmißverständlich durchschlagende Wirkung. Nach dem Krieg wechselt Heynicke nach Düsseldorf zur Bühne. Seit 1923 versucht er sich hier – Autodidakt wie eh und je – im Fach des Dramaturgen, von 1926 bis 1928 auch als Spielleiter. Ab 1932 arbeitet er in Berlin, der unbestrittenen Medienmetropole der Zwischenkriegszeit, für Rundfunk und Film, auch als Drehbuchautor der Ufa. Von 1943 bis zu seinem Tode 1985 lebt Kurt Heynicke als freier Schridtsteller im südbadischen Merzhausen bei Freiburg. (Geehrt mit dem Hörspielpreis des Süddeutschen Rundfunks, 1952; dem Schleussner-Schüller-Preis des Hessischen Rundfunks, 1958; dem Reinhold-Schneider-Preis, 1968; dem Andreas-Gryphius-Preis, 1970; dem Eichendorff-Literaturpreis, 1973; und dem Professorentitel des Landes Baden-Württemberg, 1974).

Bei aller noch ausstehenden Bewertung des Gesamtwerks Kurt Heynickes ist kaum zu erwarten, daß die Mindereinschätzung seines Prosaschaffens oder der zahlreichen Hörspiele gegenüber seiner Lyrik je korrigiert werden müßte. Sie ist auch am besten ediert in der dreibändigen Gesamtausgabe von 1974 (Das lyrische Werk).  Wie charakteristisch für expressionistisches Selbstverständnis die frühe Lyrik Heynickes von maßgeblichen Repräsentanten der Zeit eingeschätzt wurde, zeigt die Aufnahme von zwölf Gedichten in Kurt Pinthus‘ berühmte Anthologie Menschheitsdämmerung  von 1919. Die Weichen für den jungen Lyriker hatte jedoch Herwarth Waiden gestellt, der den noch Unbekannten einige Jahre zuvor unter seine Jünger um die erste große expressionistische Zeitschrift Der Sturm nahm. Eine ausgesprochene „Entdeckung“ wie August Stramm, der Waldens Wortkunst-Theorie auf anspruchsvollem Niveau verwirklichte, war Kurt Heynicke wohl nicht. Doch darf er daneben, zusammen mit Kurt Schwitters, als bemerkenswertester Vertreter der von Stramm beispielhaft repräsentierten neuen Wortkunst gelten. Die (in der ersten Jahrhunderthälfte wichtigste) Bestätigung seines dichterischen Ranges erfolgt bereits 1919 mit der Verleihung des Kleist-Preises für seinen dritten Gedichtband Das namenlose Angesicht.  Die bis ins hohe Alter anhaltende Lyrik-Produktion gibt zentrale Positionen der frühen Zeit nicht auf, wovon man sich im letzten, 1969 veröffentlichten Gedichtband Alle Finsternisse sind schlafendes Licht überzeugen kann. Dort heißt es: „In die Paradiese der Selbstsucht bricht Liebe ein.“ Heynickes Besonderheit innerhalb der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts liegt nicht zum wenigsten darin, daß er die im Expressionismus vehement aufgebrochenen Anstrengungen, Güte und Liebe als das eigentlich Menschliche im Menschen freizulegen, bis ins achte Jahrzehnt dieses Jahrhunderts weitergeführt hat. Es ist allerdings nicht leicht, seine Anschauungen von Menschheit und Menschlichkeit zu orten. Doch ist zumindest anthroposophischer Einfluß unverkennbar. In Heynickes erstem Drama Der Kreis. Ein Spiel über den Sinnen (1920) finden sich deutliche Spuren von Rudolf Steiners Denken. Noch ausführlicher artikuliert Heynicke seine diesbezüglichen Vorstellungen in der SchriftDer Weg zum Ich. Die Eroberung der inneren Welt (1922). Wenn sich Heynicke 1935 mit zwei Stücken (Neurode und Der Weg ins Reich)an der massenweise produzierten Volkstheatergattung des Thingspiels beteiligt, sind nicht zuletzt solche Aspekte kollektiven Glücks von und in Volk und Gemeinschaft mit im Spiele. Eine alles in allem unter den bestehenden und sich rapide verschärfenden Verhältnissen eher unpolitische Position. Es scheint so, als habe Heynicke vor dem sich immer eindeutiger formierenden Nazi-Regime eine Ausweichmöglichkeit in der Gattung des anspruchsvolleren Unterhaltungsromans gesehen. Jedenfalls erscheinen ab 1938 in rascher Folge vor allem heiter-humoristische Romane, die große Publikumserfolge werden. Etwa Herz, wo liegst du im Quartier? (1938) oder Rosen blühen auch im Herbst (1942). Am Beispiel solcher Texte lassen sich aufschlußreiche Einsichten in die Funktion von Unterhaltung in bedrückender Zeit gewinnen. Der Autor selbst, den man nicht ohne gediegene Text- und Kontextkenntnisse wohin auch immer „einordnen“ sollte, ist in der unmittelbaren Nachkriegszeit wie auch in den fast vier Jahrzehnten der Bundesrepublik, die er miterlebte, völlig unauffällig geblieben. Neue literarische Formen sind nicht mehr in sein Blickfeld getreten. Der Sicherheit, die Walter Jens in seinem Glückwunschschreiben zum 90. Geburtstag Kurt Heynickes im Blick auf den P.E.N.-Club beseelte, wird man heute wohl mit leisen Zweifeln begegnen dürfen: „gewiß kein einziger, der nicht zumindest ein Gedicht, ein Spiel, einen Roman von Ihnen kennte“.

Lit.: Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch. Begründet von Wilhelm Kosen. Dritte, völlig neu bearbeitete Auflage. Band 7, Bern, München 1979, Sp.1140f. – Hier nicht verzeichnete Werke: Frau im Haus. Lustspiel in drei Aufzügen. Berlin 1937; Die Partei der Anständigen. Das Lächeln der Apostel. Hörspiele. Worms 1968. – Fraunz Lennartz: Deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts im Spiegel der Kritik. Stuttgart 1984, Bd. II, S. 750ff.; Johannes Klein: Heynicke. In: Herbert Wiesner (Hg.): Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München 1981, S. 217ff.; Walter Dimter: Kurt Heynicke. In: Karl-Heinz Habersetzer (Hg.): Deutsche Schriftsteller im Porträt 6. München 1984, S. 78f.; Ulrich Keicher/Werner F. Bonin (Hg.): Alles Gelebte ist Leihgab. Kurt Heynicke zum neunzigsten Geburtstag. Leonberg o.J. (1981).

Bild: Foto Bulmer, Wangen/Allgäu