Biographie

Hilgenreiner, Karl

Herkunft: Sudeten (Böhmen u. Mähren, österr. Schlesien)
Beruf: Kirchenrechtler
* 23. Februar 1867 in Friedberg/Hessen
† 9. Mai 1948 in Wien

Der Name Hilgenreiner ist vielen Sudetendeutschen noch wohl bekannt: Als Politiker in Prag, der Abgeordneter im tschechoslowakischen Senat war, als Vorsitzender der Deutschen Christlich-Sozialen Volkspartei, aber auch als Professor an der Theologischen Fakultät der Deutschen Universität, wo er Dekan und Rektor war. Aber viele Landsleute sind verwundert, wenn sie erfahren, dass der „Prager“ Hilgenreiner aus Hessen stammte.

Hilgenreiner schrieb noch in Prag 1941 seine Lebenserinnerungen, die 1971 im Band 2 des Archivs für Kirchengeschichte von Böhmen-Mähren-Schlesien in Königstein erschienen sind. Seine Lebenserinnerungen bieten die beste Gelegenheit, ihn kennenzulernen, seine tiefe Religiosität zu erfahren und seine Liebe zu allen Schützlingen zu spüren, sein soziales Engagement wertzuschätzen und seine Arbeit zu verstehen. Seine Erfahrungen gibt er ungeschminkt weiter und lässt den Leser daran teilhaben. Bei all seinen fruchtbringenden Diskussionen und Auseinandersetzungen auf religiösem und sozialen Gebiet, sei es in seinen Veröffentlichungen, bei Vorträgen, Veranstaltungen, an Katholikentagen und sozialen Kongressen, befolgt er einen Grundsatz: „Man muss Person und Sache scharf trennen und dem Gegner den gleichen guten Glauben zubilligen, den man für die eigene Meinung verlangt … die Gegner sollten fühlen, dass ihre Überzeugungen geachtet und ihre sachlichen Einwände behandelt wurden.“ Damit habe er gute Erfahrungen gemacht. Das bestätigt auch Emanuel J. Reichenberger, der 1938 ins Exil nach Amerika ging: „Wir hatten manche Auseinandersetzung, bei der es hart auf hart ging. Aber es gab kein gegenseitiges Nachtragen, jeder achtete die Überzeugung des andern, auch wenn er sie nicht teilen konnte.“ Dieses Wort Reichenbergers gilt selbst für das Jahr 1938. Um das Bild von Hilgenreiner abzurunden, sei noch ein Zitat von A. Huber angefügt, der ihn persönlich kannte: „Hilgenreiner war ein ausgezeichneter Redner, Stilist, der sich sehr leicht tat, aus einer Fülle an Wissen, Erfahrung und Begegnungen mit Menschen zu schöpfen und so seinen Gegenstand interessant zu machen.“  Dass Hilgenreiner aus Hessen kam und in Friedberg geboren wurde, bestätigt der Auszug des Geburts- und Taufprotokolls der katholischen Pfarrgemeinde St. Mariä. Die Vorfahren des Vaters kamen Anfang des 19. Jahrhunderts aus Bayern nach Seligenstadt, die Mutter stammte aus Alsfeld. Die Eltern wohnten auf „Permission“ in Friedberg. Doch seine unbeschwerte Kindheit erlebte Karl mit seinen vier Geschwistern im Böhmen, da der Vater eine feste Anstellung als Baumeister bei der fürstlichen Herrschaft Löwenstein-Wertheim-Rosenstein in Haid (Bor) fand.

Eingeschult wurde Hilgenreiner in Haid, er besuchte dann das bischöfliche Knabenseminar und das Gymnasium der Jesuiten in Mariaschein (Bohosudov). Dort erfuhr Hilgenreiner eine strenge Bildung, die die Grundlagen für sein späteres Wirken gelegt haben sollte.  Eine wichtige Erfahrung machte Hilgenreiner, als ein tschechischer Mitschüler von einem tschechischen Gymnasium nach Mariaschein wechselte. Die Jungs waren bald gute Kameraden, stellten aber schnell fest, welch eine Kluft sie in geschichtlichen Dingen trennte. Hilgenreiner hebt hervor, dass der tschechische Schüler von den böhmischen Herzögen und Königen viel mehr als von den deutschen Kaisern und Königen gewusst hätte: „Damals dämmerte mir, dass zwischen Tschechen und Deutschen mehr lag als die Sprache. Heute weiß ich, daß staatliche wie kirchliche Gemeinschaft zwischen beiden Ländern zwar Brücken geschlagen haben, daß sie aber einander im Herzen fremd geblieben sind.“

Mit dem Theologiestudium am Germanikum in Rom, erfüllte sich sein Wunsch, Priester zu werden. Die Verkündigung des Rundschreibens Rerum novarum, die er am 15. Mai 1891 in Rom erlebte, bezeichnete er als eine große Tat von Leo XIII. Er schreibt: „Ich gestehe offen, daß mein warmes Interesse für soziale Zeitfragen von diesem Rundschreiben Leos XIII. Rerum novarum den stärksten Antrieb erhielt. Damals konnte ich allerdings nicht wissen, daß ich einmal berufen sein sollte, vom Lehrstuhl diese Signale der sozialen Erneuerung weiterzugeben.“

1892 kehrte Hilgenreiner, als Priester geweiht, nach Böhmen zurück und trat seine erste Kaplanstelle in Eger (Cheb) an. Zu dieser Zeit wurde die Sozialdemokratie in Eger geweckt und Hilgenreiner bereits in seine erste Pressefehde verwickelt. 1894 wurde Hilgenreiner die Stelle des Direktors am erzbischöflichen Studentenkonvikt Mies (Stříbro) in Aussicht gestellt. Zuvor wurde er noch für ein halbes Jahr an der Lehrerinnenbildungsanstalt der Schwestern vom hl. Kreuz als „supplierender“ Religionsprofessor eingesetzt. Diese fünf Jahre in Mies waren eine besondere Zeit für Hilgenreiner. Er konnte sich seinen Studien widmen, „den Prager Doktorhut zum römischen dazu holen“ und fand sogar noch die Zeit, Mitarbeiter verschiedener theologischer Zeitungen zu werden. Mit Beginn des Wintersemesters 1899/1900 wurde Hilgenreiner Professor an der Theologischen Fakultät der Deutschen Universität in Prag. Seine Fächer waren: Kirchenrecht, Christliche Gesellschaftslehre (Soziologie) und Spekulative Dogmatik. 1901 nahm er anonym Stellung zur Vermehrung und sprachliche Abgrenzung der Bistümer in Böhmen. Diese Schrift: Zur Frage deutscher Bistümer in Böhmen zur Aufklärung und Beruhigung erhielt von deutscher Seite allgemein Zustimmung, von tschechischer Seite wurde sie meist abgelehnt.

Hilgenreiner hielt sich bei seinen Reisen vorwiegend in europäischen Ländern auf, nur einmal verließ er Europa und zwar nahm er 1926 am Eucharistischen Weltkongress in Chicago teil, um neben Kardinal Faulhaber und dem österreichischen Kanzler Seipel in der deutschen Sektion des Riesenkongresses einen religiösen Vortrag zu halten. Seit 1903 arbeitete er am zweibändigen Kirchlichen Handlexikon mit, das er mit Michael Buchberger 1907 herausgab.

Im Ersten Weltkrieg war Hilgenreiner Feldkurat und geistlicher Leiter der Feldspitäler. Hilgenreiner hatte nicht an den vollen Zusammenbruch bei Kriegsende gedacht „… Im Mai 1919 wurde unser Schicksal in Paris entschieden, wir waren auf absehbare Zeit einer feindlichen nationalen Mehrheit ausgeliefert, dazu bis zu den Wahlen im Frühjahr 1920 mundtot gemacht.“ Das waren die Gründe dafür, dass Hilgenreiner an die politische Front ging. Der Zusammenbruch 1918 und seine kirchenpolitischen Folgen veranlassten Hilgenreiner, sich immer mehr in die Politik einzuschalten. Da die Zentrale der Christlich Sozialen in Wien wegfiel, war es nötig, eine eigene Deutsche-Christlich-Soziale Partei in der Tschechoslowakischen Republik aufzubauen. Für das Programm und die Ausarbeitung engagierten sich Robert Mayer-Harting und Hilgenreiner.

Für die Deutsche Christlich-Soziale Partei wurde er bei den ersten Wahlen 1920 für den Wahlkreis Pilsen-Budweis in den Senat gewählt, wo er den Wahlkreis bis 1935 vertrat, dann war er Senator für den Wahlkreis Böhmisch Leipa. In seinen 18 Parlamentsjahren meldete er sich im Senat oft zu Wort. Einige seiner Reden dokumentierte er auch in seinen Erinnerungen. Über die Zeit zwischen 1918 und 1938 und seinem Versuch einer Mitgestaltung der Politik sind wir gut unterrichtet, da Hilgenreiner schon 1915 vom Kloster Emaus in Prag die Schriftleitung der Bonifatius-Korrespondenz übernommen hat­te, für die er seit dem ersten Jahrgang 1907 regelmäßig Beiträge schrieb. Nach dem Ende des Krieges wurde ihr Titel in Katholiken-Korrespondenz geändert als Zeichenwächter für gebildete Katholiken. Alle Jahrgänge sind in der Bibliothek des Hauses Königstein in Nidda zugänglich, ebenso die Ausgaben des Deutschen Klerusblattes für die ČSR und der einzigen katholischen Tageszeitung in Prag, der Prager Neue Presse. Hilgenreiner sah seine publizistische Tätigkeit als „neue Lehrkanzel“, von der aus er Tausende erreichte.

1936/37 wurde Hilgenreiner Rektor an der Deutschen Universität. Staatspräsident Beneš sprach sich ihm gegenüber für einen Neubau der dürftig untergebrachten Deutschen Universität aus. Interessant ist die Rechtfertigung Hilgenreiners in seinen Memoiren für das Jahr 1938, als es zum Zwist mit Reichenberger kam, der eine Schrift Judas über Sudetenland anonym veröffentlicht hatte. Reichenberger war gegen die Eingliederung der Christlich-Sozialen-Partei in die SdP von Konrad Henlein. Über seine Gründe für sein Handeln 1938 schrieb Hilgenreiner am 7. November 1945 im Lager Modřany in einem Anhang zu seinen Erinnerungen, dass er die Verantwortung trage: „Es ist mir eine Genugtuung, daß ich in monatelanger harter Polizeihaft meine Überzeugung öffentlich bekunden konnte, daß ich mit dem Nazismus wie mit jedem undemokratischen Gewaltregiment nicht übereinstimmen kann. Ich bin und bleibe stets christlichsozial.“

Er war schon 1939 von den Nationalsozialisten für kurze Zeit verhaftet worden, ein zweites Mal 1944. 1945 verhafteten ihn die Tschechen. Er kam in das Arbeitslager Modřany bei Prag. 1946 durfte Hilgenreiner ausreisen und kam nach Wien, wo er Kaplan an der Karlskirche wurde. Auch hier war er unermüdlich in der Seelsorge und als Schriftsteller tätig. Fast völlig erblindet hielt er seine letzte Fastenpredigt. Am 14. Mai 1948 verstarb er in Wien.

Er schrieb noch ein Jahr vor seinem Tod an seine von ihm ausgebildeten Priester: „Bleibt treu eurem Priesterberuf, Bleibt treu eurem Volk, Bleibt treu unserer Heimat.“

Lit.: K. Hilgenreiner, Erinnerungen. Mit einem Anhang Die Christlich Sozialen und die SdP 1938, in: AKBMS II (1971). – K. A. Huber, Hilgenreiner, Karl, in: NDB 9 (1972). – K. A. Huber, Das Jahr 1938 in den Priesterseminaren in der Tschechoslowakei, in: AKBMS VII (1985). – Bonifatius Korrespondenz, seit 1919 Katholiken-Korres­pon­denz, Prag 1907-1938.

Bild: Herder Verlag – Der Große Herder, Band 5.

Angelika Steinhauer