Biographie

Hintze, Otto

Herkunft: Pommern
Beruf: Historiker
* 27. August 1861 in Pyritz/Pommern
† 25. April 1940 in Berlin

Otto Hintze, von dessen wissenschaftlichem Oeuvre immer noch eine nachhaltige Wirkung ausgeht, stammt aus Pommern, wo er als Sohn eines mittleren Verwaltungsbeamten in Pyritz geboren wurde. In seiner Geburtsstadt absolvierte er das Gymnasium und bezog anschließend 1878 die Landesuniversität Greifswald, um Geschichte, deutsche Philologie und Philosophie zu studieren. Entscheidend für seine geistige Entwicklung wurde jedoch der 1880 vollzogene Wechsel an die Universität Berlin. Er löste ihn nicht nur äußerlich aus den heimatlichen Bindungen, vielmehr erhielt Hintze hier durch herausragende akademische Lehrer die entscheidenden Eindrücke, die seine wissenschaftlichen Interessen und Arbeitsweisen nachhaltig geprägt haben. Obwohl er 1884 bei dem Mediävisten Julius Weizsäcker mit einer Arbeit zur politischen Geschichte des 13. Jahrhunderts („Das Königtum Wilhelms von Holland") zum Dr. phil. promoviert wurde, sind seine eigentlichen Lehrer Johann Gustav Droysen und Wilhelm Dilthey gewesen. Damit geriet er unter den Einfluß der nationalpolitisch engagierten borussischen Geschichtsschreibung, die ihn auf das Themenfeld lenkte, das er sein Leben lang bearbeitet hat: die brandenburgisch-preußische Geschichte der frühen Neuzeit und besonders des 18. Jahrhunderts. Gleichzeitig jedoch legten diese beiden Lehrer, Droysen, der Verfasser der „Historik" und der Philosoph Wilhelm Dilthey, den Grund für die geschichtstheoretischen Interessen Hintzes. Juristisch-staatswissenschaftliche Studien folgten auf Anregung des Mediävisten Georg Waitz im Anschluß an die Promotion.

Ein weiteres Feld der Geschichtswissenschaft erschloß sich dem jungen Gelehrten, als Gustav Schmoller, der Hauptvertreter der historischen Schule der Nationalökonomie, ihn 1888 für die Mitarbeit an dem großen Quellenwerk der „Acta Borussica" gewann, das die Dokumente und Materialien zur Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte des Preußischen Staates der wissenschaftlichen Benutzung zugänglich machen sollte. Hintze hat in diesem Rahmen zunächst die Akten zur Entwicklung der preußischen Seidenindustrie in der Zeit Friedrich d. G. bearbeitet (1892) und anschließend das Aktenmaterial zur Entwicklung der preußischen Behördenorganisation von 1740 bis 1756 zusammen mit einer grundlegenden einleitenden Darstellung publiziert (1901-1910). Die Arbeit über die Seidenindustrie wurde auch die Grundlage für seine Habilitation an der Universität Berlin 1895, die ihm die akademische Laufbahn eröffnete. Die rasche Folge von Studien zur Wirtschafts- und Verwaltungsgeschichte Preußens begründete seine Ernennung zum außerordentlichen Professor an der Universität Berlin. Im Jahre 1899 und 1902 errichtete man dort für ihn ein persönliches Ordinariat für Verfassungs-, Verwaltungs-, Wirtschaftsgeschichte und Politik. Sein wissenschaftliches Oeuvre schien so sehr mit der Erforschung der Geschichte Preußens verbunden, daß man ihn zum 500jährigen Jubiläum des Herrschaftsantritts der Hohenzollern in der Mark Brandenburg 1915 mit der Abfassung der offiziellen Festschrift beauftragte, die unter dem Titel „Die Hohenzollern und ihr Werk" herauskam und noch heute als grundlegende Übersichtsdarstellung gelten darf.

Doch Hintze selbst hat sich keineswegs ausschließlich als Historiker Preußens verstanden. In der Rede, die er 1914 anläßlich seiner Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften hielt, bezeichnete er als das eigentliche Ziel seiner wissenschaftlichen Bemühungen „eine allgemeine vergleichende Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der neueren Staatenwelt, namentlich der romanischen und germanischen Völker". Aus „vergleichenden, verfassungsgeschichtlichen Studien" wollte er „ein typisches Bild des modernen Staates in seinen gleichförmigen Grundzügen und Entwicklungstendenzen, wie in seinen verschiedenen historischen Phasen und individuellen Ausgestaltungen" gewinnen. Diese Konzeption wollte er ausdrücklich als Ergänzung zum „großen Lebenswerk Rankes" mit seinem Primat der politischen Geschichtsschreibung verstanden wissen.

In der Tat ist die Preußische Geschichte mehr und mehr nur das Ausgangsparadigma für solche allgemeine Studien geworden, die eine Synthese von empirisch-historischer Forschung und theoretischer Durchdringung unter Rezeption der sich neu entwickelnden Soziologie darstellen. Längsschnittstudien, wie die Aufsätze zur Entstehung der modernen Staatsministerien oder über den „Commissarius" und seine Bedeutung in der allgemeinen Verwaltungsgeschichte, stehen neben typologischen Arbeiten wie „Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung" (1911), „Wesen und Verbreitung des Feudalismus" (1929) oder „Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes" (1930). Auf eine knappe Formel gebracht: Sein Oeuvre untersuchte die Verstaatlichung der Gesellschaft in der modernen Zeit.

Otto Hintze ist stets auch ein homo politicus gewesen, ohne sich, wie andere seiner Kollegen, aktiv in der Tagespolitik zu betätigen. Im äußeren Habitus am Preußentum orientiert, dem gemäßigten Kathedersozialismus nahestehend, aus liberal-konservativer Haltung sich demokratischen Reformen mit der Zeit öffnend, traf ihn die Niederlage von 1918 und der Zusammenbruch der Monarchie tief. Krankheit trat hinzu, und 1920 ließ er sich vorzeitig in den Ruhestand versetzen, ohne die wissenschaftliche Forschung aufzugeben. Dem Nationalsozialismus stand er ablehnend gegenüber. Schon 1933 brach er mit der Schriftleitung der „Historischen Zeitschrift" und trat 1938 aus der Preußischen Akademie der Wissenschaften aus. Seine Frau Hedwig Hintze, ebenfalls promovierte und habilitierte Historikerin, die einer jüdischen Bankiersfamilie entstammte und politisch der deutschen Linken verbunden war, mußte 1938 ins niederländische Exil gehen, wo sie sich unter deutscher Besatzung 1942 das Leben nahm. Otto Hintze selbst ist 1940 vereinsamt gestorben. Sein Werk, dem in der deutschen Geschichtsforschung der ersten Jahrhunderthälfte eher eine Außenseiterposition zukam, ist seit den 60er Jahren neu ediert worden und hat bei der zunehmenden Hinwendung zu einer theoretisch fundierten Sozial- und Verfassungsgeschichte starke Impulse ausgeübt.

Lit.: Jürgen Kocka, Otto Hintze, in: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Historiker, Bd. III, Göttingen 1972, S. 41-64; Pierangelo Schiera, Otto Hintze, Napoli 1974; Otto Busch/Michael Erbe, Otto Hintze und die moderne Geschichtswissenschaft, Berlin 1983; Wolfgang Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Frankfurt/Main 1984, S. 241 f.; Otto Hintze, Gesammelte Abhandlungen, Bd. I-III, hg. von Gerhard Oestreich, Göttingen 1962-1967 (mit Schriftenverzeichnis in Bd. I, S. 567-586); Winfried Schulze, Otto Hintze und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1950/Pierangelo Schiera, Otto Hintze und die Krise des modernen Staates, in: Notker Hammerstein (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Wiesbaden-Stuttgart 1988, S. 323-355.