Biographie

Hippel, Theodor Gottlieb von

Herkunft: Ostpreußen
Beruf: Dichter, Dirigierender Bürgermeister von Königsberg
* 31. Januar 1741 in Gerdauen/Ostpr.
† 23. April 1796 in Königsberg i.Pr.

Mit dem Untergang Königsbergs im Frühjahr 1945 sank die Nacht des Vergessens auf eine siebenhundertjährige Kultur und Zivilisation. Und wenn nicht der Name Immanuel Kants und teils auch derjenige Johann Georg Hamanns gewesen wären, so wären weltweit das Interesse und das Wissen um die ehemalige Hauptstadt Ostpreußens seitdem wohlmehr oder weniger ganz verweht. Daß auch die Bedeutung des verdienstvollen Lokalpolitikers und einst vielgelesenen Dichters Hippel dem Bewußtsein der Historiker und Literaturforscher entschwand, gehört zu den bedauerlichen Folgen der Ereignisse.

Der in ärmlichen, streng pietistischen Verhältnissen geborene Sohn eines Gerdauer Schulrektors studierte ab 1756 an der Albertina in Königsberg unter schwierigsten Umständen Theologie und Jura. Nach einer erlebnisreichen Reise an den Zarenhof nach St. Petersburg und einer sentimentalen Tragödie, die sein ganzes künftiges Leben prägen sollten, wurde er ein erfolgreicher Advokat. Als Senkrechtstarter brachte er es nacheinander zum Meister vom Stuhl in der lokalen „Dreikronenloge“ (1768), zum Kriminalrat, Stadtrat, Hofhalsrichter sowie zu großem Reichtum und gesellschaftlichem Ansehen, bis ihn Ende 1780 Friedrich II. aufgrund seiner überdurchschnittlichen Intelligenz und organisatorischen Tüchtigkeit zum Dirigierenden Bürgermeister und Polizeidirektor der administrativ verkommenen Provinzhauptstadt ernannte. Schon in diesen Jahren des Aufstiegs versuchte er sich in vielseitigen dichterischen Versuchen, so als Mitarbeiter der seit 1764 erscheinenden Königsbergschen Gelehrten und PolitischenZeitungen, als Dichter der geistreich geschriebenen Komödien Der Mann nach der Uhr (1765, zu dem Kant oder dessen Freund Green , das Modell lieferten) und Die ungewöhnlichen Nebenbuhler (1768), als Verfasser von Freimaurerreden (1768) und Geistlichen Liedern (1772) sowie als Autor der avantgardistisch ausgerichteten humoristischen Abhandlung Über die Ehe (1774), die, da sie wie die meisten weiteren Schriften aus beruflichen Rücksichten anonym erschien, ein Bestseller wurde und bis zum Ende des Jahrhunderts ein verbissenes Ratespiel um die Identität des unbekannten Dichters in Gang brachte. Den Höhepunkt dieser landesweiten literarischen Aufregung provozierte Hippel mit dem von 1778 bis 1781 herausgegebenen vierbändigen Roman Lebensläufe nach aufsteigender Linie. Dieser überaus kunstvoll, aber in verwirrender Umständlichkeit nach der Erzählweise Sternes angelegte autobiographische Schlüsselroman ist heute ein einmaliges kulturhistorisches Dokument, da sich die Erlebnisse der Romanhelden mit eingehenden Lokalbetrachtungen und Sittengemälden ausschließlich im preußisch-baltischen Raum zutragen. Bereits vor Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft beurteilte Hippel darin u.a. unter den satirischen Zügen des „Professors vater“ die frühe Erkenntnisphilosophie Kants äußerst kritisch zugunsten der gefühlsbetonten Gottesergründung des wesensverwandten Freundes Hamann. Dazu präsentiert er sich mit der Einführung der vampirhaften Figur des sogenannten „Sterbegrafen“ und der Schilderung zahlloser unterschiedlich erfolgender Sterbefälle als Vater der modernen Todespoesie im Roman. Letztere fand in Jean Paul, Goethe, Zacharias Werner, Stifter und Raabe gelehrige Nachahmer. In den achtziger Jahren widmete sich der im Privatleben vereinsamende und einer krankhaft hypochondrischen Verfassung verfallende Hagestolz mit harter Hand dem Wiederaufbau der zerrütteten Stadtverwaltung. Hippels bedeutendste Leistungen waren diesbezüglich die Reorganisation der Polizei und des Feuerlöschwesens, die Verbesserung des Waisen- und Armenwesens sowie eine ansatzweise in die Wege geleitete Stipendienpolitik zugunsten begabter unbemittelter Studenten, wobei er Kant wertvolle Hilfe leistete. Wiederholt nutzte die Zentralregierung in Berlin seine Erfahrung selbst außerhalb Ostpreußens, so anläßlich der Neueinrichtung der nacheinander annektierten polnischen Gebiete. Auch arbeitete er für die Berliner Minister Carmer und Hertzberg an der Reform des „Allgemeinen Preußischen Landrechts“ mit. In Kants Tischkreis wie auch in den glänzenden Salons der Gräfin Keyserling genoß er als faszinierender Gesellschafter den Ehrenplatz. Friedrich Wilhelm II. bedachte ihn für seine Verdienste mit dem Titel eines (Stadtpräsidenten und einer Ehrenmedaille, und um 1790 verlieh er ihm den begehrten Adel. In den neunziger Jahren erschlafften jedoch mit schweren Krankheiten die physischen und geistigen Kräfte. Dennoch gelang es dem unermüdlich Weiterarbeitenden, die Vollendung zahlreicher literarischer Entwürfe zu betreiben. So erschienen neben den an Rousseau orientierten Handzeichnungen nach der Natur und der Satirre Zimmermann der I. und Friedrich der II. (beide 1790) die auf lokale Fragen bezogenen Essays Das Königsbergsche Stapelrecht (1791), Über die Mittel gegen die Verletzung öffentlicher Anlagen und Zierathenund Nachricht, die v. K*sche Untersuchung betreffend (1792), letztere eine Rechtfertigung der Todesstrafe in Ausnahmefällen. Zwei für die Zeit kühne Einsätze zugunsten der Frauenemanzipation in modernem Sinn: eine völlig umgestaltete Fassung des Buchs Über die Ehe (1792f.) und die Abhandlung Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (1792), belebten aufs neue die Frage nach der immer noch versteckten Autorschaft. Ein anderer, großangelegter, dem politischen Gedankengut Rousseaus und Montesquieus verpflichteter Entwurf Über Gesetzgebung und Staatenwohl wurde postum gedruckt (1804). Schließlich veröffentlichte Hippel noch einen weiteren satirischen Schlüsselroman unter dem Titel Kreuz- und Querzüge des Ritters A bis Z (1793-94), der in kraus verschnörkelten Paragraphenkapiteln die Verirrungen deutscher Geheimbünde verspottete und nach dem bewährten Muster Cervantes‘ und Sternes einmal mehr der Frage nach den letzten Wahrheiten nachgeht. Dann überaschte ihn, der wie kein anderer Dichter der deutschen Literatur den Tod gefürchtet hatte, das Ende am 23. April 1796. Kant verteidigte ihn übers Grab hinaus gegen späte verbale und literarische Racheakte vormaliger Gegner.

In seiner beruflichen und literarischen Vielseitigkeit wie in seinem widerspruchsvollen, zwischen gefühlsbetontem Glaubensbedürfnis und kritisch untersuchender Vernunft hin und her gerissenen Wesen war der Freund Kants und Hamanns ein typischer Vertreter des ausklingenden aufgeklärten Jahrhunderts. Aber Hippels Blick richtete sich zugleich mit seltener Originalität in die Zukunft. Durch seine mustergültigen Leistungen im Dienst seiner Stadt und seiner Regierung, mit seinen eigenwilligen Auseinandersetzungen mit philosophischen, religiösen, freimaurerischen und politischen Fragen, mit seiner Experimentierfreude in Sachen dichterischer Ästhetik und seinem meisterhaften aphoristischen Stil und nicht zuletzt als erster Vorkämpfer der Frauenemanzipation in Deutschland nahm er viele Erkenntnisse unserer Zeit vorweg. Er ist der einzige wahrhaft große Dichter gewesen, den Königsberg hervorgebracht hat.

Werke: Der Mann nach der Uhr, oder der ordentliche Mann, Königsberg 1765 ff. – DieUngewöhnlichen Nebenbuhler, Kgbg. 1768. – Geistliche Lieder, Berlin 1772. – Über dieEhe,Berlin 1774 (Erweiterte u. umgeänderte Ausgabe, 1792f.). – Lebensläufe nachAufsteigender Linie nebst Beylagen A, B, C. 3 Theile, 4 Bde., Berlin 1778-81. – Handzeichnungen nach der Natur, Berlin 1790. – Zimmermann der I. und Friedrich der II., Berlin (1790). – Nachricht, die v. K*sche Untersuchung betreffend, Königsberg 1792. –Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber, Berlin (1792). – Kreuz- und Querzüge desRitters A bis Z. 2 Bde., Berlin 1793 f. – Biographie des Kgl. Preuß. Geheimen Kriegsrathszu Königsberg Theodor Gottlieb von Hippel, Gotha 1801. – Über Gesetzgebung und Staatenwohl, Berlin 1804. – Sämtliche Werke. 14 Bde. (Bd. 13-14 = Briefwechsel Hippel-Scheffner), Berlin 1827-39 (Reprint, Berlin-New York 1978).

Lit.: Hamilton H. H. Beck: Hippel and the eigtheenth Century novel. Cornell University 1980. – Ders.: The Elusive „I” in the Novel. Hippel, Sterne, Diderot, Kant. New York, Bern, Frankfurt a. M., Paris 1987. – Uwe Grund: Studien zur Sprachgestaltung in Theodor Gottlieb von Hippels Roman „Lebensläufe nach aufsteigender Linie nebst Beilagen A.B.C.“, Berlin 1970. – Joseph Kohnen: Theodor Gottlieb von Hippel. 1741-1796. L’homme et l’oeuvre. 2 Bde. Bern, Frankfurt a.M., New York, Nancy 1983. – Ders.: Theodor Gottlieb von Hippel. Eine zentrale Persönlichkeit der Königsberger Geistesgeschichte. Biographie und Bibliographie, Lüneburg 1987. – Ders.: Ehe-Streit unter Freunden. Johann Georg Hamann als „Korrektor“ des Buchs „Über die Ehe“, in: Recherches Germaniques 18, Strasbourg 1988, S. 47-65. – Ders.: „Kreuz- und Querzüge des Ritters A bis Z." Theodor Gottlieb von Hippel als Kritiker der Geheimen Gesellschaften des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts, in: Aufklärung, Jg. 3, H. l, 1988, S. 49-72. – Ders.: Sterbe- und Grabespoesie im deutschen Roman. Zur intertextuellen Überlieferung des, Themas von Martin Miller bis Wilhelm Raabe. Bern, Frankfurt a.M., New York, Paris 1989. – Robert Losno: Theodor Gottlieb von Hippel. 1741-1796, Thése d’État, Paris 1981. – Paul Peterken: Gesellschaft und fiktionale Identität. Eine Studie zu Theodor Gottlieb von Hippels „Lebensläufen“, Stuttgart 1981. – Ursula Schröder: Theodor Gottlieb von Hippels„Kreuz- und Querzüge des Ritters A bis Z“, Hamburg 1972.

Bild: Nach einem anonymen Gemälde (bis zur Zerstörung Königsbergs im Prussia-Museum. Vorlage: J. Kohnen.