Biographie

Hoetzsch, Otto

Beruf: Historiker
* 14. Februar 1876 in Leipzig
† 27. August 1946 in Berlin

Als Sohn eines Klempnermeisters wurde Otto Hoetzsch als ältestes von drei Kindern geboren. Trotz des frühen Todes seines Vaters ermöglichte es ihm die Familie, das renommierte Leipziger Thomasgymnasium zu besuchen, wo Hoetzsch eine humanistische Ausbildung erhielt. Seine geistig interessierte Mutter förderte die historischen, politischen und musischen Neigungen des Sohnes, der in der evangelisch-lutherischen Familie von der nationalen, kleindeutschen Reichsidee geprägt wurde. Nach der Reifeprüfung studierte er seit 1895 an der Universität Leipzig die Fächer Geschichte, Staatswissenschaften und Kunstgeschichte und wechselte im Jahre 1896 für ein Semester an die Universität München. Zu seinen wichtigsten akademischen Lehrern in Leipzig gehörte neben den Historikern Erich Marcks, Gerhard Seeliger und Erich Brandenburg auch Karl Lamprecht (1856-1915), bei dem er 1899 eine Dissertation über das Thema Besitzverteilung und wirtschaftlich-soziale Gliederung vornehmlich der ländlichen Bevölkerung des Meißnisch-Erzgebirgischen Kreises Kursachsens in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts aufgrund eines Landsteuerregisters anfertigte, die im folgenden Jahr veröffentlicht wurde. Nach seiner Promotion arbeitete Otto Hoetzsch zunächst als Bibliothekar am Historischen Seminar der Universität Leipzig und wechselte im Herbst des Jahres 1900 als Redakteur der Akademischen Blätter, des Organs des "Kyffhäuserverbandes der Vereine deutscher Studenten", nach Berlin. Neben seiner Tätigkeit für den konservativ-nationalen Kyffhäuserverband, in dem er im organisatorischen Bereich und in der Schulung des Nachwuchses bald eine prägende Stellung einnahm, gehörte er dem Flottenverein, dem Bund der Landwirte sowie dem Alldeutschen Verband an, in dessen Zeitschrift, den Alldeutschen Blättern, er häufig mit Beiträgen vertreten war.

Daneben standen Bemühungen Hoetzschs, seine akademische Laufbahn fortzusetzen. Unter dem Einfluß des Begründers der jüngeren historischen Schule der deutschen Nationalökonomie, Gustav Schmoller (1838-1917), dessen Schülers Otto Hintze (1861-1940) sowie des Ethnologen Kurt Breysig (1866-1940) wandte er sich seit dem Sommer 1901 als Mitarbeiter der Preußischen Akademie der Wissenschaften der brandenburgisch-preußischen Geschichte zu und stellte für die "Kommission zur Herausgabe der Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg" Unterlagen zur inneren Verwaltung des Herzogtums Cleve-Mark zusammen. Mit dieser bei Otto Hintze angefertigten, bis heute maßgeblichen Arbeit habilitierte sich Hoetzsch im Jahre 1906 und wurde zum Privatdozenten an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität ernannt.

Während seiner Berliner Zeit hatte Hoetzsch zusätzlich das Studium der osteuropäischen, insbesondere der russischen und polnischen Geschichte an dem erst 1902 unter Theodor Schiemann eingerichteten Seminar für osteuropäische Geschichte und Landeskunde aufgenommen. Daneben lernte er aus eigenem Antrieb Russisch und Polnisch und legte 1905 in beiden Sprachen die Dolmetscherprüfung ab. Auf eine spätere Frage, wie es zu dieser Interessenverschiebung von der Preußenforschung zur osteuropäischen Geschichte gekommen sei, antwortete Hoetzsch: "Von der Sprache her." Auf ausgedehnten Reisen in die preußischen Ostprovinzen, nach Galizien und in weite Teile Rußlands in den Jahren 1902 bis 1914 vertiefte Hoetzsch seine historischen Kenntnisse durch die unmittelbare Anschauung der russischen Gegenwartsprobleme. Dabei bahnten sich zahlreiche Kontakte zu führenden Repräsentanten des Zarenreiches wie dem Vizepräsidenten der Duma, Alexander von Meyendorff, an. In den Jahren 1910/11 bereitete Hoetzsch eine umfangreiche Veröffentlichung der diplomatischen Papiere Peter von Meyendorffs vor, der von 1839 bis 1854 Botschafter Rußlands in Berlin und Wien gewesen war. Ganz im Gegensatz zu seinem Lehrer Schiemann, dessen Rußlandbild von den Erfahrungen der Baltendeutschen mit der zaristischen Herrschaft und ihrer Russifizierungspolitik geprägt war, entwickelte Otto Hoetzsch schon früh eine eigene rußlandpolitische Konzeption, die von einer Interessengemeinschaft der preußisch-deutschen und russischen Politik seit den polnischen Teilungen ausging. Die Kontinentalmacht Rußland erschien ihm als der natürliche Verbündete und als Garant für die Machtstellung Deutschlands in Europa, was später während des Ersten Weltkrieges heftige publizistische Kontroversen auslöste.

Nach seiner Habilitation wurde Otto Hoetzsch als Historiker an die 1903 eröffnete Königliche Akademie in Posen berufen, behielt jedoch nebenbei seine Privatdozentur in Berlin. Im Jahre 1911 übernahm er als Nachfolger Schiemanns zusätzlich den Lehrstuhl für moderne Geschichte an der Kriegsakademie in Berlin. Sein politisches und publizistisches Engagement stellte Hoetzsch in den Dienst des Ostmarkenvereins, den er bereits nach kurzer Zeit durch die Übernahme verschiedener Funktionen und durch die Berufung in den Hauptvorstand im Jahre 1909 maßgeblich prägte.

Im Jahre 1913 erhielt Hoetzsch ein neugeschaffenes Extraordinariat für osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Universität Berlin, im gleichen Jahr veröffentlichte er ein umfangreiches Werk zur neueren Geschichte Rußlands, Rußland. Eine Einführung auf Grund seiner Geschichte von 1904 bis 1912, das seine Hinwendung zu Problemen der russischen Geschichte markierte und zugleich auch in der breiteren Öffentlichkeit seinen Ruf als Rußlandkenner begründete. Infolge des programmatischen Charakters dieser Arbeit kam es zum endgültigen Bruch, ja zu teilweise heftig ausgetragenen Kontroversen und zur offenen Feindschaft mit seinem früheren Lehrer und Mentor Theodor Schiemann, der politisch für einen Ausgleich mit England als Gegengewicht zur "russischen Gefahr" eintrat. Weitere Aufsätze über den Adel und das Lehenswesen in Rußland sowie zu staats- und verfassungspolitischen Problemen des "germanisch-slavischen Ostens" dokumentieren zugleich, wie Hoetzsch die von Otto Hintze entwickelten Methoden einer vergleichenden Verfassungsgeschichte auf die osteuropäischen Staaten anzuwenden wußte und Parallelen zwischen der Entwicklung in Brandenburg-Preußen, Polen und Rußland herausarbeitete. Dieses Bestreben, die Geschichte Osteuropas und Rußlands als Teil der gesamteuropäischen Geschichte zu erfassen, traf auf das seit Leopold von Ranke überlieferte Geschichtsbild, das den Nachweis des "asiatischen" Charakters der russischen Geschichte zu führen suchte. Daran und an der Interpretation der nationalen Frage im russischen Reich entzündete sich 1917 eine Kontroverse zwischen Hoetzsch und dem baltischen Historiker und Publizisten Johannes Haller (1865-1947), der aufgrund der Russifizierungsmaßnahmen im Baltikum 1890 nach Deutschland emigriert war.

Während des Ersten Weltkrieges betätigte sich Hoetzsch vor allem als außenpolitischer Kommentator der Kreuzzeitung an der Kriegszieldiskussion, in der er auch nach der Revolution von 1917 als Anwalt eines Ausgleiches mit Rußland hervortrat. Die innenpolitischen Veränderungen des Jahres 1918 bewogen Hoetzsch, der seit 1910 der Deutschkonservativen Partei angehörte, sein bis dahin auf den Bereich der Publizistik beschränktes politisches Engagement zu intensivieren und in die neugegründete Deutschnationale Volkspartei (DNVP) überzutreten, für die er ein Jahr später in die preußische Landesversammlung und 1920 in den Reichstag gewählt wurde. Bis 1929 war Hoetzsch Mitglied und Schriftführer des Außenpolitischen Ausschusses, zeitweise auch Mitglied der deutschen Völkerbundsdelegation in Genf. Nach einigem Zögern und gegen den teilweise scharfen Widerstand innerhalb seiner Partei warnte er davor, das neue Regime der Sowjetunion zu unterschätzen und trat für den Ausbau der kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen mit ihr ein. Auf verschiedenen Reisen in die Sowjetunion in den Jahren 1923 bis 1934 konnte er zahlreiche Verbindungen zu wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Institutionen knüpfen. Mit der Einrichtung eines zweiten, für ihn eingerichteten Ordinariats im Jahre 1920 erreichte Hoetzsch den Höhepunkt seiner akademischen Karriere. Zusammen mit Karl Stählin (1865-1939), der zum Nachfolger Theodor Schiemanns berufen worden war, oblag ihm die Leitung des Seminars für osteuropäische Geschichte und Landeskunde, wo er einen großen Schülerkreis aufbaute. Zudem war er, jenseits der Grenzen seiner Fachwissenschaft, an der Gründung eines eigenen Seminars für wissenschaftliche Außenpolitik im Jahre 1928 beteiligt. Seit 1925 erschien unter seiner Leitung die MonatsschriftOsteuropa (bis 1939), die im Geiste der Rapallopolitik zum führenden Organ aller an der Ostforschung Beteiligten wurde.

Nachdem die DNVP im Jahre 1929 ihre –  wenn auch reservierte  –  Mitarbeit im Weimarer Staat aufgekündigt hatte, erklärte Hoetzsch seinen Austritt und zog sich nach dem gescheiterten Versuch der Gründung einer Konservativen Volkspartei resigniert aus der Politik zurück und widmete sich wieder verstärkt seinen Aufgaben als Hochschullehrer. Bereits 1928 übernahm er die Herausgabe einer umfangreichen, mit sowjetischen Wissenschaftlern erarbeiteten Aktenpublikation zur Geschichte Rußlands während des Ersten Weltkrieges, deren bis zum Jahre 1943 erschienene Bände zur bedeutendsten Leistung von Hoetzsch gerechnet werden müssen. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde er als "Salon- und Kulturbolschewist" zur Zielscheibe heftiger Angriffe. Im Mai 1935 wurde Hoetzsch vom Lehrkörper der Berliner Universität ausgeschlossen und zwangspensioniert. Nach einer Diffamierungskampagne legte er alle seine Ämter nieder und lebte zurückgezogen in Berlin. Seine gesellschaftlichen und persönlichen Kontakte reichten jedoch bis zu Vertretern einzelner Widerstandsgruppen. Der Verlust seiner Bibliothek und seiner persönlichen Aufzeichnungen durch einen Bombenangriff 1943 und der Tod seiner Frau im April 1945 trafen ihn schwer. Trotz seines angeschlagenen Gesundheitszustandes versagte sich Hoetzsch der Wiedereinsetzung in sein Lehramt durch die Philosophische Fakultät nicht, konnte aber nur noch mit größter Mühe seinen Lehrverpflichtungen nachkommen. Am 27. August 1946 verstarb Hoetzsch an Kräfteverfall und Lungenschwindsucht und wurde an der Seite seiner Frau auf dem Berliner Invalidenfriedhof beigesetzt.

Hoetzsch war "Pionier der deutschen Ostforschung" (Jutta Unser). Wenn zeitweise seine politische Arbeit die des Historikers überlagerte und partiell in sein Werk einfloß, so lag das darin begründet, daß der Sinn historischer Arbeit sich für ihn letztlich in der unmittelbaren Verwertung für die Politik ergab.

Werke: Ein vollständiges, bislang noch nicht erarbeitetes Verzeichnis aller Publikationen von Otto Hoetzsch würde ca. 1200 Titel umfassen, darunter zahlreiche Artikel aus Zeitungen und Zeitschriften. Die selbständigen Arbeiten, Aufsätze und Miszellen sowie die herausgeberische Tätigkeit Hoetzschs verzeichnet eine Auswahlbibliographie bei Voigt (1978), S. 351-366.

Einzelne Werke in chronologischer Reihenfolge: Die wirtschaftliche und soziale Gliederung vornehmlich der ländlichen Bevölkerung im Meißnisch-Erzgebirgischen Kreise Kursachsens. Auf Grund eines Landsteuerregisters aus der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts (Leipziger Studien aus dem Gebiet der Geschichte, Bd. 6, Heft 4). Leipzig 1900.  –  Stände und Verwaltung von Cleve und Mark in der Zeit von 1666 bis 1697 (Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte der inneren Politik des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Zweiter Teil) Leipzig 1908. –  Staatenbildung und Verfassungsentwicklung in der Geschichte des germanisch-slavischen Ostens, in: Zeitschrift für osteuropäische Geschichte 1, 1911, S. 363-417. –  Adel und Lehenswesen in Rußland und Polen und ihr Verhältnis zur deutschen Entwicklung, in: HZ 108, 1912, S. 541-592. –  Rußland. Eine Einführung auf Grund seiner Geschichte von 1904 bis 1912. Berlin 1913 [2., überarbeitete Auflage 1917]. –  Politik im Weltkrieg. Historisch-politische Aufsätze. Bielefeld/Leipzig 1916. –  Peter von Meyendorff. Ein russischer Diplomat an den Höfen von Berlin und Wien. Politischer und privater Briefwechsel 1826-1863. Herausgegeben und eingeleitet von Otto Hoetzsch. 3 Bde. Berlin/Leipzig 1923. –  Osteuropa und Deutscher Osten. Kleine Schriften zu ihrer Geschichte. Königsberg/Berlin 1934.

Posthum wurden veröffentlicht: Grundzüge der Geschichte Rußlands. Herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Bernhard Stasiewski. Stuttgart 1949 (1970) [Engl. Übers. New York 1966]. –  Rußland in Asien. Geschichte einer Expansion. Mit einem Vorwort von Klaus Mehnert (Schriftenreihe Osteuropa, 5). Stuttgart 1966.

Lit.: Neue Deutsche Biographie 9, S. 371 f. –  B[ernd] F[aulenbach]: Otto Hoetzsch, in: Rüdiger vom Bruch/Rainer A. Müller (Hrsg.): Historikerlexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert (Beck’sche Reihe 405). München 1991, S. 140 f. –  Fritz T. Epstein: Otto Hoetzsch und sein "Osteuropa" 1925-1930, in: Osteuropa 25, 1975, S. 541-554. – Hans von Heppe: Erinnerungen an Otto Hoetzsch, in: ebda. 75, 1975, S. 622-630. – Friedrich Kuebart: Otto Hoetzsch – Historiker, Publizist, Politiker. Eine kritische biographische Studie, in: ebda. 25, 1975, S. 603-621. –  Leo Loewenson: Otto Hoetzsch. A Note, in: The Slavonic and East European Review 30, 1951/1952, S. 549-551. –  Klaus Mehnert: Ein Deutscher in der Welt. Erinnerungen 1906-1981. Stuttgart 1981. – A. Meyendorff: Otto Hoetzsch, 1876-1946. Some Recollections, in: The Slavonic and East European Review 25, 1946/1947, S. 496-507.  –  W. Philipp: Otto Hoetzsch, in: HZ 169, 1949, S. 666 f. [Nachruf]. –  Wilhelm von Pochhammer: Mein Nachbar Hoetzsch, in: Osteuropa 25, 1975, S. 631 f. –  Hans Schleier: Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik, Berlin [Ost] 1975. –  Robert Stupperich: Otto Hoetzsch in memoriam, in: ebda. 25, 1975, S. 633-635. – Gerd Voigt: Otto Hoetzsch 1876-1946. Wissenschaft und Politik im Leben eines deutschen Historikers (Akademie der Wissenschaften der DDR/Zentralinstitut für Geschichte, Quellen und Studien zur Geschichte Osteuropas, Bd. XXI). Berlin [Ost] 1978. –  ders.: Otto Hoetzsch –  eine biographische Skizze, in: Der Antikommunismus in Theorie und Praxis des deutschen Imperialismus. Sonderband der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg 1963, S. 143-156. –  Wolfgang Weber: Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Frankfurt/Main u.a. 1984, S. 249 f.

 

    Johannes Schellakowsky