Biographie

Irtel, Ernst

Herkunft: Siebenbürgen
Beruf: Musikpädagoge, Komponist
* 9. Februar 1917 in Mühlbach/ Siebenbürgen
† 8. Juli 2008 in Schloss Horneck in Gundelsheim

Der aus Mühlbach stammende Komponist und Lehrer Ernst Irtel wirkte über Siebenbürgen hinaus und verband musikalische Praxis, Bildung und Forschung zu einem sich gegenseitig befruchtenden Ganzen. In diesem Beitrag werden einige wenige Momente aus seinem Leben beleuchtet. Sie können kaum das Wesen der Musikerpersönlichkeit in Gänze würdigen, sollen jedoch ein möglichst umfassendes Bild seines pädagogischen Wirkens und seines künstlerischen Schaffens vermitteln.

Ernst Irtel wurde in den Zeiten der Wirren des Ersten Weltkrieges geboren. Die Quellen für seine biographische Entwicklung zum Musiker reichen weit in die Kindheit zurück. Friederike Irtel, die zweite Frau des Großvaters Josef Irtel, sang ihm ganze Arien aus Messias, Schöpfung, Jahreszeiten, Elias, und Lieder von Schubert vor. Irtel berichtet insgesamt von einer glücklichen und harmonischen frühen Kindheit, die ganz natürlich in die eigene Schulzeit münden konnte. Er notiert dazu in seinen autobiographischen Aufzeichnungen: „Mein Leben erhielt ein neues Gesicht, es bekam eine geregelte Ordnung: 8-12 Unterricht, ab 1 Uhr Schulaufgaben; nachmittags 1-2 Mal Gesang und Handfertigkeit. Meine Freizeit? Noch keine Musikmanifestationen festzustellen.“

Einschneidend werden für den Grundschüler Irtel vor allem künstlerische Impulse: Musik und Theater. Dazu zählten insbesondere über Rundfunkwellen übertragene und mittels eines Radios mit Kopfhörern empfangene Rundfunkkonzerte. Im Jahr 1923 fand in Deutschland das erste Radiokonzert statt. Irtels Vater – stets fortschrittlich – konstruierte aus gekauften elektrischen Bestandteilen ein Radio. Der Sohn notiert in den Erinnerungen: „Ort: Tatas Studierzimmer, Eintritt verboten, nicht einmal Mama durfte hinein: Überraschung! Der für mich historische Augenblick dann: der Tata setzte mir den Kopfhörer auf und ich hörte ganz nahe das feine Ticken einer Weckeruhr. Das ist der Wiener Wecker, das Pausenzeichen von Radio Wien! (mein Vater). … Und dann die Ansage: Hallo … wir übertragen aus der Wiener Staatsoper die Zauberflöte… Und dann erklang die Musik – wie aus einer anderen Welt. Nie erlebter Zauber – Verzauberung! … Musik über Musik hörten wir, ein traumhafter Reichtum tat sich mir auf und näherte mich siebenjährigen Jungen meinem Vater.“ Es folgten die ersten Klavierstunden bei Elsa Heitz und die Aufführungen des Musikvereins unter der Leitung von Musikdirektor Prof. C. Münch. Bach lernte er in der Kirche kennen, wenn er dem Organisten Prof. Münch die Notenblätter umdrehen durfte und sich bemühte, die komplizierte Musik mitzulesen.

Das Interesse des jungen Ernst Irtel setzt sich erkennbar zum Musikalischen hin fort. In den ersten Wochen des Beethoven-Jahres 1927, zu dessen 100. Todestag, erlebt er auf im Auditorium des Mühlbacher Gymnasiums die Proben zu Beethovens Klavierkonzert in G-Dur. „Als die Musik begann, überschüttete es mich … bald heiß, bald kalt, wie in nie gekannten Schauern – wahrscheinlich mein erstes bewusstes Musik-Erlebnis.“

Ein weiteres prägendes Ereignis, um das Jahr 1928, in seinen ersten Gymnasiumjahren, verdankt er seinem Deutschlehrer Al­fred Möckel, der Goethes Balladen Der Erlkönig und Der Fischer mit seinen Schülern im Unterricht „gewissenhaft durchgearbeitet“ hatte. Der Lehrer sang, sich begleitend, die Schubert-Vertonungen der beiden Balladen vor und, so notiert Irtel später, „machte uns u.a. auf die Klavierbegleitung aufmerksam, also die illustrierende Rolle des Instruments: der rasende Ritt, das Wiegen und Werben (Erlkönig), die zunehmende Steigerung, die jedesmalige Dissonanz bei mein Vater…, etc., die Pause, Ende des Rittes… Mit dieser fast schon anatomischen Analyse der beiden Schubert-Goethe-Lieder … hat er mir einen ersten Blick eröffnet in den inneren Bau einer Komposition. Vorgebildet war ich ja schon durch die regelmäßigen Klavierstunden, nun kam, angeregt durch diese analytische Stunde das bewusste Hören eines musikalischen Werkes.“

Ernst Irtel studierte von 1934 bis 1939 an der Musikakademie in Klausenburg und wurde dann Musiklehrer an den Gymnasien von Mühlbach, Hermannstadt, Schäßburg und Mediasch. Er führte über weit mehr als ein halbes Jahrhundert Schüler und Zuhörer seiner zahlreichen Vorträge und „Komponistenstunden“ an die klassische Musik heran und begeisterte Generationen in feinfühlend erschließender Art für kulturelle Werte. Er baute herausragende Schülerchöre auf, die in Siebenbürgen und darüber hinaus Anerkennung fanden. Ebenfalls entdeckte und förderte er junge Talente.

Als Musiker war er mit der Menschheit übergreifend und überzeitlich verbunden. Irtel war es bewusst, dass gegenwärtiges Denken und Bewusstsein in gleichem Maß der Welt entfremdet werden, wie sie sich selbst mehr und mehr vom lebendigen und ganzheitlichen Weltzusammenhang verstehend emanzipieren wollen. Das Künstlerische war daher für ihn eine Antithese jenseits der „abhebenden“ Hierarchisierung des Wissens. Irtel fragte in seinem künstlerischen Schaffen als Musiker und Pädagoge nach der (möglichst elementaren) Referenz für das menschliche Handeln, Denken und Verstehen, in der Hoffnung, der Menschlichkeit überhaupt auf die Spur zu kommen. Literatur und Musik gaben für ihn etwas preis, was man als Wesensbegegnung bezeichnen könnte.

Als Pädagoge stellte der Musiker Irtel für seine Schüler musikalische Lerninseln her, die tiefen Eindruck hinterlassen konnten. Besonders Kinder und Jugendliche trennen nicht zwischen Poesie und Suche nach Erkenntnis. Sie verfügen über primär unkonventionelle Ansatzpunkte, die innerhalb der Lebensverhältnisse dort vorkommen, wo neue, überraschende Entdeckungen gemacht werden. Das Weltverstehen zeigt sich als ein individualisierter Prozess und wesentlich als Prinzip der Aneignung. Die Fähigkeitsbildung des Einzelnen wurde dabei in Irtels Unterricht nicht ausschöpfend eingelöst, auch nicht Wochen danach. Keime waren es vor allem, deren Wirkungen sogar noch viel später im Leben zu Quellen menschlicher Entwicklung wurden. Man wusste gleichsam erst im weiteren Verlauf der Biographie, was Irtels künstlerische Ansätze in einem bewirkt haben. So gesehen mutete Ernst Irtel seinen Schülern doch einiges „Zukünftige“ zu. Was im Sinne Irtels ein Anbinden können an Musik ermöglicht, ist die an sich künstlerisch verstandene, durchaus freilassende Anleitung bzw. ein „Entzünden“ des musikalischen Gespürs. Die Musik gibt (nicht nur) den Jugendlichen Anschlussmöglichkeiten, damit sie in ästhetischer Weise ihre Erkenntnisbestrebungen in Korrelation mit dem eigenen Tun und Wollen erleben: „Musik / der stärkste Traum / beginnt in Einem fort / von vorn“, schrieb Irtels Schüler Dieter Schlesak in dem Gedicht Meinem Lehrer Ernst Irtel zum Abschied.

Auch in den Chorproben Irtels ging es um ein Ringen des übenden Menschen zwischen seinem inneren Sein und der „objektiven“ (künstlerischen) Welt. Eigentlich war das Üben ein fortwährendes Überwinden jeder vermeintlichen Subjekt-Objekt-Spaltung. Der schöpferische Dynamismus beim Schüler in seiner Begegnung mit Musik und dem Lehrer wurde zudem relevant. Irtel verwirklichte in dieser stets spannenden und neu zu greifenden Konstellation den Anspruch einer Pädagogik als Erziehungskunst, indem er aus Begeisterung und Verinnerlichung seine Phantasiekräfte für immer neue Unterrichtskonzepte aktivieren konnte. Das künstlerische Handeln war für ihn ein Gegenpol zum weitverbreiteten Nützlichkeitsprinzip. Er lebte seinen Schülern intuitiv eine „bewusste“ Integrierung des Künstlerischen in den Fortgang des Lebens vor (Gegenwartsoffenheit). Sein Wirken war menschlich, da es alle Wesensglieder des Lebendigen im musikalischen Prozess ansprach. Viele seiner Schüler beschreiben ihre Berührung mit Musik als ein Wachwerden. Irtel ließ offen, in welcher Weise man sich zur Musik stellen solle, da er selbst Erforscher der Musik war, der in einer Tagebuchnotiz bekennt. „Und immer wieder Zweifel [beim Komponieren]. Die Melodie singt so weltverlassen daher, so bang. Trotzdem tiefes Glück über das Schaffen können, das führt heraus aus allen Wirrnissen der Seele.“

Irtel lebte nach seiner Ausreise aus Mediasch (Siebenbürgen) seit 1987 bis zu seinem Tod im Jahr 2003 auf Schloss Horneck in Gundelsheim, wo er bis in die letzten Lebenstage hinein seine unermüdliche musikerzieherische Vortragstätigkeit fortsetzte.

Irtels kompositorisches Schaffen umfasst Chöre, Lieder für Singstimme und Klavier, Klaviermusik sowie Instrumental-Miniaturen für Violoncello und Klavier. In den Jahren 1996 und 1997 fanden zwei besonders eindrückliche Uraufführungen mehrerer Werke von Ernst Irtel statt. Die Niederschrift der dafür vorgesehenen Notenfassungen nahm ihn voll und ganz in Anspruch. Sie befeuerte ihn während zweier Jahre zu außergewöhnlicher schöpferischen Wirksamkeit.

Am 4. Dezember 1996 erlebten rund 120 Zuhörer im Festsaal von Schloss Horneck in Gundelsheim am Neckar die Uraufführung des kammermusikalischen Zyklus Vierzehn Miniaturen für Violoncello und Klavier. Darin zeigte sich eindrucksvoll das bedeutende Künstlertum Irtels. Seine Miniaturen erwiesen sich als eine Einheit, und zwar nicht nur wegen der Transkription für Violoncello und Klavier, die Irtel aus Begeisterung für die Kunst der Interpreten (Elisabeth Ramsay am Cello und Christoph Roos, Klavier) vorgenommen hat, sondern gerade weil das improvisatorische Element dem gemeinsamen Liedcharakter der einzelnen Miniaturen unterworfen wurde.

Kaum fünf Monate später, am 27. April 1997, durfte Irtel erneut seine Aufgabe als Schirmherr eines Konzertabends auf Schloss Horneck wahrnehmen. Die Sopranistin Marlene Mild und der Pianist Torsten Kaldewei boten als junge Künstler rund hundert Zuhörern eine Reise durch die Welt des Gesangs. Einige von Irtels hier vorgetragenen Kompositionen hinterließen einen besonderen Eindruck. Sie wollen in allen Teilen, mit den Stimmen des Klaviers und der der Sängerin, am Reichtum des zugrunde liegenden Textes teilnehmen. Jedes Licht und jeder Schatten, jede Regung der Seele spiegelt sich auf diese Weise im Antlitz der Musik, als regiere ein Gesetz der Textempfindlichkeit, das in der tönenden Melodie den musikalischen Wahrheitssucher Irtel nicht nur zum Meister des Ausdrucksliedes macht, sondern das auch die Rätsel und den Gehalt der Dichtungen offen legt.

Dabei haben Irtels Lieder eigene Ausmaße. Sie brauchen unab­hängige Bewegungsräume, in denen der ans Licht drän­gende musikalische Formsinn sich entfalten und verklingen kann. Erst dann gliedert und gestaltet der melodische Einfall das Gedicht zu dem beabsichtigten klanglich verbundenen Ereignis. Im Spie­­gel­bild der Irtelschen Lieder erblickt sich jeder mit seinem eigenen Geheimnis. Es findet sich das mensch­lich Übergrei­fende umgeben von der Selbstverständ­lichkeit, dass nicht alle Lieder in der allgemeinen Wertung gleich sind und sein wollen.

Die Uraufführungen bildeten einen Höhepunkt in Irtels kom­po­sitorischem Leben. Sie fanden wenige Jahre nach der Veröf­fentlichung (1993) seines Werkes über das kurze Leben des siebenbürgischen Ausnahmepianisten (und Lieblings­schülers von Chopin) Carl Filtsch statt, in dem er sich als feinsinniger und gründlicher Forscher und Autor zeigte.

Der Humor und zugleich seine innerliche Tiefe und künst­lerische Kraft ließen uns zu ihm aufblicken. Dabei ver­ehrte Ernst Irtel das künstlerische und kulturelle Schaffen und Po­tenzial des Menschen am meisten von uns allen. Dieses beson­dere Aufschauen in die Welt hat er seinen Schülern un­aus­gesprochen vermittelt. Nie sind wir der Größe der Musik und des Künstlerischen unmittelbarer innegeworden als durch ihn.

Im Jahr 2002 wurde Ernst Irtel, der wie kein anderer „groß­zügig den Sinngewinn aus reicher Kunsterfahrung verschenkt“ hat, für seine kulturellen Verdienste mit der Stephan-Ludwig-Roth-Medaille ausgezeichnet. Diese Verdienste sind in seinem höheren Verstehen dessen begründet, was Bruno Walter zum klingenden Universum ausführt: „Sehen wir ab von dem, was die Musik ausdrückt, wenden wir unseren Blick auf sie selbst, auf ihr Wesen, auf die hohe Ordnung in dem klingenden, be­wegten Universum, das wir Musik nennen, in dem unver­kennbar ein schaffendes Geistiges wirkt und sich offenbart, so erscheint sie uns als ein Gleichnis zur Schöpfung selber, in der der Logos waltet. Ich glaube sogar, dass dem Menschen kein unmittelbarerer Zugang zum Erahnen des Logos und seines Wirkens gegeben ist als durch die Musik, die von seinem göttlich schöpferischen und ordnenden Wesen tönende Kunde gibt.“

Werke: Partituren der Kompositionen: Kompositionen Teil I, Chöre; Kom­positionen Teil II, Lieder für Singstimme und Klavier; Kom­positionen Teil III, Instrumental-Miniaturen (Violoncello und Kla­vier); Kompositionen Teil III, Instrumental-Miniatutn (Violoncello und Viola). Hrsg. Frieder Latzina, MusikNoten-Verlag Latzina, Karls­ruhe 2003. – Sechs Miniaturen für Orgel von Ernst Irtel (Musik aus Siebenbürgen, Teil 12), hrsg. von Ursula Philippi, Schiller Verlag, Hermannstadt/ Bonn 2013.

Lit.: Carl Filtsch, Ein Lebensbild von Ernst Irtel, hrsg. vom Kulturreferat der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in Deutschland e.V. mit Förderung des Bundesministeriums des Inneren, München 1993. – Aus Anlass der 100. Wiederkehr des Geburtstags von Ernst Irtel erschien 2017 im Schiller Verlag Hermannstadt/ Bonn das Buch von Prof. Walter Hutter, Vom Geistigen in der Musik. Ernst Irtel als Pädagoge und Komponist.

Walter Hutter/Hansotto Drotloff