Biographie

Jacquemien, Rudolf

Herkunft: Ostpreußen
Beruf: Dichter, Schriftsteller
* 16. Februar 1908 in Köln
† 20. September 1992 in Königsberg i.Pr.

Viele Bundesbürger ahnen nicht, daß es selbst nach dem Exodus von über einer Million Rußlanddeutschen seit dem Umbruch im Ostblock von 1989 in der ehemaligen Sowjetunion noch immer über zwei Millionen Deutsche gibt, deren Vorfahren größtenteils schon vor 225 Jahren dem Ruf der Zarin Katharina II, einer gebürtigen Prinzessin von Anhalt-Zerbst, folgten und das durch den Siebenjährigen Krieg (1756-1763) verwüstete Deutschland verließen, um in den Steppengebieten an der Wolga und dem Schwarzen Meer Neuland unter den Pflug zu nehmen, blühende Dörfer und Städte zu errichten und ehemaliges Brachland in Kornkammern Rußlands zu verwandeln. Die Nachkommen leben heute vor allem in den G.U.S.-Nachfolgestaaten Rußland, Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan, und in der Ukraine.

Rudolf Jacquemien, aus einer Kölner Handwerkerfamilie gebürtig, war früh Waise geworden und hatte in einem Kloster-Waisenhaus eine streng katholische Erziehung erhalten. Er folgte 1932 als eine Art Nachkömmling dem deutschen Auswanderungszug nach Rußland, nicht zuletzt auch aus politischen Erwägungen heraus, da der heraufziehende Nationalsozialismus ihm, dem idealistischen deutschen KPD-Mitglied, diesen Weg nahelegte. 1936 wurde er eingebürgert. Er nahm sowjetischerseits am Finnlandfeldzug 1939 bis 1940 teil sowie am Zweiten Weltkrieg bis 1942. Von 1942 bis 1946 wurde er wie alle Sowjetdeutschen zum Arbeitsdienst, das heißt zur Arbeit an der Heimatfront, im Hinterland unter militärischer Bewachung abkommandiert, und 1946 erwischte es ihn dann besonders hart, als er auf Grund falscher Zeugenaussagen zu acht Jahren Freiheitsentzug und Zwangsarbeit verurteilt wurde, die er, wie er selbst in einer deutsch geschriebenen autobiographischen Skizze, veröffentlicht in der Moskauer WochenzeitungNeues Leben vom 17.2.1988, erzählt, „trotz zahlreicher Proteste und Eingaben ‘schön brav’ absitzen mußte.“

Doch auch dieser neuerliche Schicksalsschlag konnte Jacquemiens „rheinische Frohnatur“ nicht brechen. Er, der bis zu seiner Internierung deutsch geschrieben hatte – die „Sowjetdeutschen“ besaßen vor dem Zweiten Weltkrieg eine eigene Wolgadeutsche Autonome Republik mit einem regen Kulturleben –, begann nun im Lager russisch zu schreiben, da Deutsch dort nicht geduldet wurde. Später nützte ihm dies dann bei seinen zahlreichen Übersetzungen.

So kam Jacquemien in das typische Dilemma der „Volksdeutschen“, der Auslandsdeutschen, das der doppelten Loyalität: einerseits Loyalität dem neuen „stiefmütterlichen“ Vaterland gegenüber und andererseits gegenüber seiner eigenen Muttersprache, seiner eigenen nationalen Identität. Er suchte diesem Dilemma zu entgehen, indem er wie die meisten seiner Landsleute durch fleißige Arbeit dem „Vaterland“ von Nutzen war und durch Festhalten an der deutschen Sprache, an der deutschen kulturellen Tradition sich selbst gegenüber treu blieb.

1954 aus der Haft entlassen, wurde Jacquemien erst 1956 rehabilitiert, 1959 konnte er wieder veröffentlichen. Von 1966 bis1970 war er „Stilist“ bei der deutschsprachigen Zeitung Freundschaft in Zelinograd in Kasachstan, wohin 900.000 der weit über zwei Millionen Deutschen zwangsumgesiedelt worden waren. Hier leistete Rudolf Jacquemien der jungen sowjetdeutschen Journalistik unschätzbare Dienste, da er als ehemaliger „Reichsdeutscher“ die deutsche Sprache von Kindesbeinen an beherrschte und so den jungen „sowjetdeutschen“ Journalistenkollegen, die durch die Verbannung ihre nationalen Schulen verloren hatten und nun mühsam Hochdeutsch lernen mußten, zumal sie zuhause meist nur in einer deutschen Mundart (meist Hessisch und Schwäbisch) gesprochen hatten, auf die Sprünge helfen konnte. Er bearbeitete die journalistischen Arbeiten seiner Kollegen, und wenn es heute in Kasachstan noch immer eine deutschsprachige Zeitung gibt – Die Deutsche Allgemeine, die aus derFreundschaft hervorging –, so hat Rudolf Jacquemien einen beträchtlichen Anteil an der Existenz dieser einzigen deutschen Zeitung in dieser Region. Die beiden anderen deutschsprachigen Zeitungen sind das Neue Leben, eine ehemalige deutsche Ausgabe der Prawda in Moskau, die wöchentlich für die rußlanddeutsche Bevölkerung erscheint, und die ehemalige Rote Fahne aus Slawgorod im Altai, heuteFür Dich, eine Regionalzeitung, die außerhalb der Region leider kaum verbreitet ist.

1963 wurde Rudolf Jacquemien in den Schriftstellerverband der damaligen UdSSR aufgenommen und war somit einer der20 deutschen Verbandsmitglieder dieser kulturpolitisch so wichtigen Vereinigung. Bei der Herausgabe der ersten großen Anthologie der sowjetdeutschen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg 1981 in drei Bänden in Alma Ata – heute Almaty – in Kasachstan hat Rudolf Jacquemien federführend mitgewirkt, indem er die Verantwortung für den zweiten Band, der die sowjetdeutschen Lyrik beinhaltet, übernahm.

Rudolf Jacquemien schrieb selbst viele Gedichte, die teilweise etwas plakativ, oberflächlich optimistisch anmuten. Erst in letzter Zeit sind ihm auch differenziertere Aussagen, kritische Anspielungen gelungen. In seiner Prosa allerdings war Rudolf Jacquemien schon lange vor „Perestroyka“ und „Glasnost“ ein Pionier der sowjetdeutschen Literatur. Als einer der ersten veröffentlichte er wissenschaftlich-phantastische Prosa, so Troni der Roboter. Dieser Titel ist in Band 3 der genannten Anthologie der sowjetdeutschen Literatur erschienen, der die Prosa umfaßt. Sogar eine Art wissenschaftlich-phantastischer Roman, Ronak, der letzte der Marsianer, erschienen 1976 in Alma Ata in Kasachstan, stammt von ihm.

In der wissenschaftlich-phantastischen Prosa, wo er seinerPhantasie die Zügel schießen lassen konnte, überwandt Jacquemien seine etwas einseitige, fast engstirnige Auffassung vom realistischen Schreiben, das nicht einfach ein Abbild, eine Kopie der Wirklichkeit sein darf, wie es stellenweise besonders in einigen Anfangswerken rußlanddeutscher Schriftsteller anzutreffen ist. Jacquemiens phantastische Literatur bleibt immer gegegenwartsbezogen und ist im Grunde genommen nichts anderes als eine Art erweiterter, von Dogmen unbelasteter Realität.

Rentner seit 1970, lebte Jacquemien, inzwischen zur Vertrauensperson geworden, als einer der ganz wenigen Deutschen in Königsberg-Kaliningrad und wurde anläßlich seines 80. Geburtstages am 16. Februar 1988 vom Vorstand des Schriftstellerverbandes der UdSSR und der Kommission für sowjetdeutsche Literatur in der Presse beglückwünscht.

Schade war nur, daß Jacquemien so „abseits“ leben mußte, tausende von Kilometern von den heutigen Siedlungen der Sowjetdeutschen in Kasachstan und Westsibirien entfernt, wo er mit seinem ausgezeichneten, lebendigen Deutsch so dringend gebraucht worden wäre. Denn gerade nach dem Umbruch ist der Bedarf an Deutschlehrern, an deutschen Journalisten und überhaupt an des Deutschen Kundigen noch viel größer als früher, als die rußlanddeutsche Kultur vernachlässigt wurde.

In einem seiner letzten Gedichte, veröffentlicht im Neuen Leben vom 15.6.1988, klingt das Bestreben an, sich für die Wiederherstellung einer rußlanddeutschen Autonomie an der Wolga einzusetzen. In dem Gedicht „Gemeinsamkeit der Völkerfreundschaft“ heißt es unter anderem:

„Gemeinsamkeit der Völkerfreundschaft“:

Gemeinsam haben wir die Last getragen,

die unverdiente Schuld, das „Feinde“-sein,

geächtet und beschimpft, doch ohne Klagen,

die Deutschen von der Wolga, der vom Rhein.

 

Gemeinsam wollen wir, daß unsere Sprache

den fernsten Nachkommen erhalten bleibt,

daß sie nicht wird zur ungenutzten Brache

und nichts sie je aus Herz und Sinn vertreibt.“

Die Völkerfreundschaft ist die hehre Fahne,

die uns voran auf allen Wegen geht,

und die bei allem, was wir tun und planen,

sieghaft und stolz zu unsern Häupten weht.

Rudolf Jacquemien hoffte, daß die Sowjetdeutschen, wie die anderen „Sowjetvölker“ auch, wieder ihre kulturelle Autonomie im Sinne einer echten und gerechten Völkerfreundschaft erhalten würden, wozu auch sein Werk und sein Wirken ein nicht zu übersehender Beitrag sein sollten.

Es war ihm nicht vergönnt, seine Heimatstadt am Rhein, Köln, heute die Partnerstadt Wolgograds, als Gast, als Partner, als „Spätheimkehrer“ wiederzusehen. Ehe es dazu kommen konnte, nahm der Tod diesem trotz aller schweren Schicksalsschläge fröhlich gebliebenen rheinländischen Rußlanddeutschen die Feder für immer aus der Hand, jedoch nicht bevor seine alte Heimat Köln (1989 in der KulturzeitschriftNeues Rheinland, Februarausgabe Nr. 2) in einem Aufsatz ihres (doch) nicht verlorenen Sohnes gedachte.

 

    Ingmar Brantsch