Biographie

Johansen, Paul

Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
Beruf: Historiker
* 23. Dezember 1901 in Reval/Estland
† 19. April 1965 in Hamburg

Am 19. April 1965 erlag Prof. Dr. Paul Johansen im 64. Lebensjahr einem Krebsleiden. Er hatte den Lehrstuhl für osteuropäische und hansische Geschichte an der Hamburger Universität inne, war langjähriges Vorstandsmitglied des Hansischen Geschichtsvereins, Gründungsmitglied des J. G. Herder-Forschungsrates, führendes Mitglied der Baltischen Historischen Kommission, Korrespondierendes Mitglied der Finnischen und der Kgl. Schwedischen Akademie der Wissenschaften.

Paul Johansen wurde am 23. Dezember 1901 in Reval (heute Tallinn, Hauptstadt Estlands) geboren. Er war dänischer Herkunft, jedoch dem Deutschtum innigst verbunden. Schon als Vierzehnjähriger interessierte er sich für die Geschichte des Baltikums, seit 1921 widmete er sich in Leipzig dem Studium der Geschichte; der bekannte Siedlungshistoriker Rudolf Kötzschke promovierte ihn 1924 auf Grund einer Dissertation über „Siedlung und Agrarwesen der Esten im Mittelalter“ (Druck: Dorpat 1925) zum Dr. phil. Der junge Historiker fand sogleich am berühmten Archiv seiner Vaterstadt Reval eine Anstellung. Johansen entwickelte hier eine rege wissenschaftliche Tätigkeit; er publizierte und verarbeitete vor allem Revaler Quellen, erforschte aber auch gesamtestnische Themen und bezog bald danach Lettland in seinen Arbeitsbereich ein, so in seinem Beitrag „Siedlungsgeschichte der Deutschbalten“ zum Artikel „Deutschbalten und Baltische Lande“ im Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums (Bd. 2, Breslau 1936, S. 168-183). Die gewichtigste Publikation seiner Revaler Zeit ist „Die Estlandliste des Liber Census Daniae“ (Kopenhagen, Reval 1933, VIII, 1012 S., 28 Faksimiles), die umfassende siedlungs- und besitzgeschichtliche Untersuchung des dänischen Verzeichnisses von Dörfern, Besitzern und Besitztiteln in den estnischen Provinzen Harrien und Wierland aus dem 13. Jahrhundert.

Dieses hervorragende Werk ist auch in Deutschland stark beachtet worden und hat wohl dazu beigetragen, daß der Revaler Archivdirektor (seit 1934) bald nach der Umsiedlung der Deutschbalten ins Deutsche Reich an die Universität Hamburg berufen wurde (1940). Aber erst nach dem Kriege konnte Paul Johansen seine Lehrtätigkeit als Professor für osteuropäische und hansische Geschichte in Hamburg entfalten und einen kleinen, aber intensiv arbeitenden und dem Lehrer vertrauensvoll zugewandten Schülerkreis um sich sammeln. In seinen Forschungen blieb er vornehmlich dem baltischen Raum verhaftet, er verfolgte aber dabei oft in methodisch brillanten Abhandlungen die engen Beziehungen zwischen diesem östlichen Randgebiet der mittelalterlichen Hanse und deren west- und norddeutschem Kern, so schon 1941 in seinem Aufsatz „Die Bedeutung der Hanse für Livland“ (in: Hansische Geschichtsblätter 65/66, 1941, S. 1-55). In die Hanseforschung wurde Johansen fest eingebunden: 1947 wurde er Vorstandsmitglied des Hansischen Geschichtsvereins, 1951 Redakteur des Besprechungsteils der „Hansischen Geschichtsblätter“, 1953 Schriftleiter dieses Periodikums, das unter seiner umsichtigen Leitung zu einer international geschätzten Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte wurde. Sein eigener wichtigster Beitrag zur Geschichte der Hanse ist sein richtungweisender, Strukturen und Forschungsstand erfassender Aufsatz „Umrisse und Aufgaben der hansischen Siedlungsgeschichte und Kartographie“ (in: Hansische Geschichtsblätter 73,1955, S. 1-105). Manche der dort vorgelegten Erkenntnisse sind in seinen quellennah gestalteten Karten zu Hansegeschichte umgesetzt (in: Großer Historischer Weltatlas, hrsg. vom Bayerischen Schulbuch-Verlag, II. Teil: Mittelalter, 1. Aufl. München 1970, K. 123a und 123b mit Deckblättern; hierzu Erläuterungen, hrsg. von W. Zeeden, München 1983, Sp. 256-261). Johansens große Werke behandelten jedoch seine Heimat Estland und dort das Schicksal von nationalen Minderheiten bzw. von durch ihre soziale Stellung benachteiligten Bevölkerungsgruppen in seinem  Buch „Nordische Mission“ (Stockholm 1951, 405 S.) untersuchte er die Entwicklung der Schwedensiedlung im Estland bis um 1600, und in dem posthum veröffentlichten, zusammen mit Heinz von zur Mühlen verfaßten Werk „Deutsch und Undeutsch im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reval“ (Köln, Wien 1973, XXIV, 555 S.) stehen die Esten als Partner der Deutschen im Vordergrund. Paul Johansen setzte sich aber für die Erforschung der estnischen Sprache ein: dank seiner Bemühungen wurde 1959 an der Universität Hamburg ein Finnisch-Ugrisches Seminar eingerichtet, an dem neben dem Finnischen und den Ungarischen auch das verwandte Estnisch gepflegt wurde; Johansen wurde sein erster Direktor.

Das Bild Paul Johansens bliebe unvollständig, stellte man nicht neben dem Wissenschaftler den großartigen Menschen heraus: bescheiden und hilfsbereit, liebenswürdig und einen verhaltenen Charme ausbreitend, mit viel Verständnis für menschliche Unzulänglichkeiten, auf Ausgleich bedacht, jeder Rechthaberei abhold, aber in wesentlichen Fragen seine Überzeugungen standhaft vertretend. Paul Johansen wurde von seinen Schülern verehrt, von Kollegen im In- und Ausland hochgeschätzt.

Lit.: Rossica Externa. Studien zum 15.-17. Jahrhundert. Festgabe für Paul Johansen 60. Geburtstag, Red.: H. Weczerka, Marburg 1963 (mit Schriftenverz. bis 1961 und Bildnis); Art. P. Johansen in: Deutschbaltisches Biographisches Lexikon 1710-1960, hrsg. von W. Lenz, Köln, Wien 1970, S. 358; H. Weiss: Paul Johansen, in: NeueDeutsche Biographie, Bd. 10, Berlin 1974, S. 580-581; N. Angermann, W. Veenker,H. Weczerka: Gedenken zum 80. Geburtstag von Paul Johansen, in: Zeitschrift für Ostforschung 31 (1982), S. 559-592 (mit Schriften- und Nachrufeverz. 1962ff.).