Biographie

Kantorowicz, Hermann Ulrich

Herkunft: Posener Land
Beruf: Jurist, Politiker, Publizist
* 18. November 1877 in Posen
† 12. Februar 1940 in Cambridge

Der 1877 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Posen geborene Hermann Ulrich Kantorowicz studierte ab 1897 in Berlin, Genf und München Rechtswissenschaft, Philosophie und Nationalökonomie. In Berlin lernte er dabei im kriminalistischen Seminar Franz v. Liszts den späteren Strafrechtler, Rechtsphilosophenund Reichsjustizminister Gustav Radbruch kennen, dem er lebenslang freundschaftlich verbunden bleiben sollte. Nach Ablegung des Referendarexamens in Berlin (1903) und der Promotion in Heidelberg (1904) wechselte Kantorowicz nach Freiburg i.Br., wo er sich bei Richard Schmidt mit einer Arbeit über „Albertus Gandinus und das Strafrecht der Scholastik“ für die Fächer Strafrecht, Geschichte der Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie habilitierte (1907). Diese Arbeit, in der Kantorowicz anhand ausgewählter Strafprozeßakten des 13. Jahrhunderts die Aktentechnik dieser Zeit untersuchte, sollte sich in doppelter Hinsicht als typisch für sein gesamtes Lebenswerk erweisen: zum einen durch die Behandlung rechtstheoretischer Fragestellungen auf der Grundlage penibler rechtsgeschichtlicher Quellenarbeit, zum anderen, indem das Werk, trotz des Erscheinens eines zweiten Bandes 1926, letztlich unvollendet blieb. Bereits im Jahr vor seiner Habilitation (1906) veröffentlichte der zu dieser Zeit meist in Italien lebende Kantorowicz, zunächst unter dem Pseudonym Gnaeus Flavius, die Schrift„Der Kampf um die Rechtswissenschaft“, mit der er maßgeblich zur Verbreitung der von ihm mitbegründeten Freirechtslehre beitrug und zu einer ihrer führenden Vertreter wurde, auch wenn er sich später von einigen der dort vertretenen Gedanken distanzierte.

Im Anschluß an seine Habilitation lehrte der politisch engagierte und oft unbequeme Kantorowicz in Freiburg zwanzig Jahre lang, unterbrochen nur von seinen Jahren als Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg, zunächst als Privatdozent, seit 1913 als Titularprofessor, schließlich ab 1923 als außerordentlicher Professor Strafrecht, Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie. Neben zahlreichen Untersuchungen zur mittelalterlichen Rechtsgeschichte beschäftigten ihn in dieser Zeit vor allem politische Fragen. So verfaßte der abgesehen von einer alsbald wieder beendeten Mitgliedschaft in der SPD (1903) parteilose Kantorowicz zwei Denkschriften über den staatsrechtlichen Status von Elsaß-Lothringen (1917), gutachtete zur Kriegsschuldfrage (1924) und trat nach 1918 vehement für eine Republikanisierung der deutschen Justiz, den Völkerbund sowie zunehmend auch für pazifistische Ideen ein. Diese Aktivitäten erwiesen sich für seine universitäre Karriere trotz aller Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen als ausgesprochen hinderlich. So blieb ihm ein Ordinariat in Freiburg bis zuletzt verwehrt. Aber auch noch als die Kieler Juristische Fakultät sich nach dem Weggang Radbruchs 1927 für Kantorowicz als Nachfolger entschied, bedurfte es zweijähriger zäher Verhandlungen und massiver Interventionen seines alten Freundes und Amtsvorgängers, bevor der Kieler Strafrechtslehrstuhl tatsächlich mit Kantorowicz besetzt werden konnte.

Als die Nationalsozialisten Anfang 1933 die Regierung übernahmen, gehörte der linksliberale Pazifist jüdischer Abstammung Kantorowicz dann zu den fünfundzwanzig erstenProfessoren, die in Deutschland aus politischen Gründen aus ihrem Amt entlassen wurden. An seine Stelle trat der Radbruch-Schüler Georg Dahm, einer der Hauptvertreter der späteren Kieler Schule. Anders als vielen Kollegen, die in dieser Zeit ein ähnliches Schicksal erlitten, gelang es dem stets international orientierten Kantorowicz jedoch, seine Arbeit im Ausland nahtlos und fast erfolgreicher als zuvor in Deutschland fortzusetzen: Nach einem kurzen Aufenthalt in Cambridge, das ihm von verschiedenen Vortragsreisen in der Weimarer Zeit vertraut war, lehnte er ein Angebot der London School of Economics ab, um statt dessen zunächst 1933/34 in New York am Aufbau der Faculty in Exile der New School for Social Research mitzuwirken. Gleichzeitig lehrte er Rechtsphilosophie am New Yorker City College. Berühmt wurde aus dieser Zeit vor allem sein an der Columbia University gehaltener Vortrag „Some rationalism about realism“(1934), eine ebenso pointierte wie kritische Abrechnung mit dem „legal realism“, einer radikaleren Variante der Freirechtslehre. 1934 kehrte Kantorowicz nach Großbritannien zurück, wo er bis 1935 erst an der London School of Economics, dann in Cambridge – 1937 zum Assistant Director of Research in Law bestellt – sowie am All Souls College in Oxford und an der Universität von Glasgow lehrte. Sein wissenschaftliches Werk dieser Zeit spiegelt diesen wechselhaften Lebenslauf: Seiner wichtigsten strafrechtlichen Arbeit, „Tat und Schuld“ (1933), einer Art Lehrbuch zum Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs, stellte Kantorowicz den Hinweis voran, dieses sei in Italien gedruckt, in England korrigiert und in der Schweiz verlegt worden. Für die deutsche Rechtsentwicklung erwies sich vor allem die in dieser Untersuchung gegen die herrschende zeitgenössische Lehre herausgearbeitete Charakterisierung der Schuld als Täter- statt als Tatmerkmal als wegweisend, die die Bestrafung des Teilnehmers einer Straftat auch dann ermöglichte, wenn deren Haupttäter schuldlos gehandelt hatte (also etwa die Bestrafung eines Erwachsenen, der ein Kind zu einer Straftat angestiftet hatte). Dieser sog. „Grundsatz der limitierten Akzessorietät“ ist heute in §  29 des Strafgesetzbuchs festgeschrieben. 1938 veröffentlichte Kantorowicz gemeinsam mit dem Romanisten W.W. Buckland die „Studies in the Glossators of the Roman law“, in denen er sich erneut mit mittelalterlichen Rechtsquellen beschäftigte. Im selben Jahr begannen die Vorarbeiten für die auf drei Bände angelegte „Oxford History of Legal Science“, eine mit einer rechtsphilosophischen Einleitung versehene Universalgeschichte der Rechtswissenschaft vom Altertum bis ins 20. Jahrhundert, die Kantorowicz zusammen mit dem Oxforder Rechtshistoriker Francis de Zulueta und unter Mitwirkung zahlreicher internationaler Juristen, darunter auch Gustav Radbruch, herausgeben sollte. Nachdem bereits der Kriegsausbruch und das im selben Jahr von nationalsozialistischer Seite an die deutschen Mitarbeiter ergangene Verbot der Mitwirkung an diesem Projekt dessen Fortgang erheblich beeinträchtigt hatten, kamen die Arbeiten hieran nach dem Tod von Kantorowicz 1940 in Cambridge endgültig zum Erliegen. Lediglich ein von ihm noch zuvor fertiggestellter Teil der Einleitung dieses Werks, „The Definition of Law“, eine rechtstheoretische, eng mit detaillierter quellenkritischer Forschung verbundene Studie, die wieder an den methodischen Ansatz seiner Habilitationsschrift anknüpfte, konnte posthum erscheinen. Der dadurch fragmentarisch gebliebene Charakter seines Werks schmälert jedoch nicht den nachhaltigen Einfluß, den Kantorowicz als einer der letzten universellen deutschen Juristen, Vermittler zwischen den westlichen Rechtskulturen, Mediävist, Rechtstheoretiker, Rechtsphilosoph, Strafrechtsdogmatiker und rechtspolitischer Streiter auf die Rechtsentwicklung Deutschlands im 20. Jahrhundert zu nehmen vermochte.

Lit.: K. Muscheler: Hermann Ulrich Kantorowicz. Eine Biographie, 1984. – M. Frommel: Hermann Ulrich Kantorowicz (1877–1940). Ein streitbarer Relativist, in: Kritische Justiz (Hrsg.), Streitbare Juristen, 1988, S. 243–253. – Dies., Hermann Ulrich Kantorowicz (1877–1940). Ein Rechtstheoretiker zwischen allen Stühlen, in: H. Heinrichs/H. Franzki/K. Schmalz/M.Stolleis (Hrsg.): Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 631–641. – A. Berger: In memoriam Hermann Ulrich Kantorowicz, in: ZRG (RA) 68 (1951), S. 624–633. – T. Raiser: Hermann Ulrich Kantorowicz, in: M. Lutter (Hrsg.), Der Einfluß deutscher Emigranten auf die Rechtsentwicklung in den USA und in Deutschland, 1993, S. 365–381. – G. Kleinheyer/J. Schröder (Hrsg.): Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4. Auflage, 1996.

Bild: Helmut Heinrichs (Hrsg.): Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993, S. 632.

Ina Ebert