An Hochschätzung hat es Rudolf Kassner vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nicht gefehlt. Maßgebliche Dichtergestalten, wie Hofmannsthal oder Rilke, mit denen er eng befreundet war, bezeugen unmissverständlich seinen Rang. So sieht Hofmannsthal bereits 1904 in ihm „die Möglichkeit des bedeutendsten Kulturschriftstellers, den wir in Deutschland je hatten“ und charakterisiert ihn als „eine höchst seltene, von einem heroischen Glanz umwitterte Persönlichkeit.“ Rilke, der ihm später seine achte Duineser Elegie widmen wird, nennt ihn 1911 „vielleicht den wichtigsten von uns allen Schreibenden und Aussprechenden.“ Und Klaus Günther Just bezeichnet ihn in seiner Literaturgeschichte der letzten hundert Jahre „als die zentrale Gestalt der Essayistik des wilhelminischen Zeitalters.“ (Von der Gründerzeit bis zur Gegenwart. Bern/ München 1973, S. 208). In der literarisch interessierten Öffentlichkeit Deutschlands allerdings findet Kassners Werk schon jahrzehntelang kaum noch Widerhall. Wie ist dieser auffallende Kontrast zu erklären?
Der in der alten Donaumonarchie geborene Südmähre Kassner ist von altösterreichischem Geist geprägt. Noch 1938 hält er in seinem Buch der Erinnerungen (1954 erneut aufgelegt) fest: „Mähren war das österreichischste unter allen Kronländern der alten, auf verbrecherische Weise zerstörten Monarchie, Südmähren hatte vollends nach Wien gravitiert.“ (VII, 39). Den dieses Kaiserreich tragenden Menschenschlag zeichnen vor allem zwei Eigenschaften aus: „eine sehr bedeutende Musikalität“ und „eine ganz bestimmte österreichische Humanität.“ Aus seiner Schulzeit am Nikolsburger Gymnasium erinnert er sich: „Es gab viele, die vier Instrumente mit Virtuosität beherrschten.“ Die andere Fähigkeit indes „überwog entschieden Parteigesinnungen wie die deutschnationale, die christlichsoziale, vollends den Sozialismus. Ich glaube, es gab in der ganzen Stadt nur einen einzigen Sozialisten, den späteren ersten Kanzler der österreichischen Republik, Karl Renner. Der geläufigste Ausdruck dieser Humanität war ein aus der Antike und der Klassik stammendes, ein wenig zu allgemeines Pathos, das sehr gut mit österreichischem Patriotismus und einem Gefühl für das Kaiserhaus zusammenging.“ Diese Einstellung dürfte der eigenen Befindlichkeit der beiden großen Altersgenossen Hofmannsthal und Rilke weitgehend entsprochen haben. Von daher ist ihre Empathie für Kassner nicht verwunderlich; die Echolosigkeit im binnendeutschen Bereich hingegen auch nicht ganz unverständlich. Das grundlegende Rezeptionsproblem liegt aber wohl in der eigenartigen Gedankenführung Kassners und der daraus resultierenden Darstellungsweise. Sein Denken ist philosophisch, aber nicht systematisch. Er denkt in Bildern, nicht in Begriffen. Er schaut und bestimmt nicht (im Sinne von definieren). Das ist sein Habitus von Anfang an.
Im Erinnerungsbuch erwähnt Kassner gegen Ende des ersten, „Meine Lehrer“ überschriebenen Kapitels einen zwei Klassen vor ihm stehenden Schüler: eine „der anmutigsten, ja lieblichsten Erscheinungen, die mir je im Leben begegnet sind. Wenn ich mir Platons Charmides vorzustellen versuche, so schwebt mir B. vor.“ Ein bezeichnender Episodenbeginn! Gleich im zweiten Satz geht er sozusagen zur Wesensschau über: Platon. Die Alltäglichkeiten interessieren ihn kaum. Nur das Bedeutungsvolle kann von Anfang an auf seine Aufmerksamkeit zählen: die außergewöhnliche Schönheit des älteren Mitschülers, seine hervorstechende Intelligenz (Klassenbester) und sein katastrophales Ende; denn er hatte nach der Matura „den Soldatenstand als Beruf“ gewählt, war aber nach einer glänzenden Laufbahn auf die schiefe Bahn geraten und kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs dem Hörensagen nach „an einer bösen Krankheit gestorben.“ Dieses Schicksal des jungen B. bringt Kassner in Zusammenhang mit den oben genannten zwei österreichischen Eigentümlichkeiten, die ihm fehlten, wodurch sein Untergang zu einer österreichischen Tragödie wird.„Vielleicht war der letzte, sozusagen metaphysische Grund der Tragödie des jungen B. ein Fehlen des Musischen. Das Außerordentliche, Vollkommene, glücklich Gefügte zerriss und kam zu einem ganz schlechten Ende, weil da ein Musisches, Musik gefehlt hatte. Mit ein wenig Musikalität würde er möglicherweise die ‚Streberei‘ des Lebens leichter hingenommen haben. Das war es. Darum nenne ich seine Tragödie eine Österreichische, weil mir das bei den Menschen meiner Heimat zusammenzugehören scheint: eben die Musikalität und der Umstand, dass einer, der etwas wollte, leicht für einen Streber galt und sich auch selber dafür hielt.“ (VII, 42). Kein Wunder, dass gerade die anspruchsvollsten Dichter um 1900 auf Kassners Seite treten. Wer über keinen genuinen Zugang zu derartigen Gedankengängen verfügt, dem bieten die autobiographischen Bücher – neben dem Buch der Erinnerung auch Die zweite Fahrt (1946) – die bequemste Einstiegsmöglichkeit in Kassners Denken. Den künftigen Physiognomiker kann man übrigens erahnen, wenn man ein letztes Faszinosum zur Kenntnis nimmt, das der junge B. auf ihn ausübte: „auch Zurückhaltung, ja eine große Scham, Verschämtheit gehörten zum Bezaubernden des Jünglings.“ (VII, 41).
Wer aber ist dieser so unterschiedliche Reaktionen auslösende Autor? Ein mit neun Monaten an Kinderlähmung erkrankter Weltreisender, der – zeitlebens auf Krücken angewiesen – die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreichbare Welt zu großen Teilen bereist hat: Nordafrika, Indien und Turkestan. In Europa ist er wiederholt zwischen London, Paris, Wien und Berlin unterwegs. Sein von weitgespannten Interessen bestimmtes Leben führt neben den schon genannten Rilke und Hofmannsthal zu Begegnungen und Beziehungen u.a. mit Stefan George, Wedekind, Wilhelm Dilthey, Oscar Wilde, Yeats, Gide, Valéry und nicht zuletzt mit Eduard von Keyserling. Nahezu ein halbes Hundert anspruchsvolle Schriften, in formvollendeter Sprache und in universalistisch ausgerichteter Thematik, machten ihn später zu einem international empfohlenen Anwärter für den Literatur-Nobelpreis. Gehadert mit seiner Behinderung hat er nie. In seinen autobiographischen Schriften fällt sie kaum ins Gewicht. (Kassner war diesfalls auch kein Einzelschicksal. Der 1884 in Prag geborene väterliche Freund Kafkas, Max Brod, war Jahre seiner Kindheit hindurch gezwungen, ein eisernes Korsett mit Halsschiene und Kopfapparat zu tragen.) In den Lebenserinnerungen von 1946 rückt er alles in einen größeren Zusammenhang, der Anklänge an die griechische Tragödie aufweist: „In unserer Familie lag neben dem Traurigen, ja Tragischen dicht daneben, friedlich, möchte einer sagen, das Lustige und höchst Komische; ja oft schien beides so ineinander verflochten, dass es nur unter lachenden Tränen ausgehalten werden kann.“ (VII, 328).
Aufgewachsen ist er mit zehn Brüdern und zwei Schwestern auf dem großen Landgut seines südmährischen Geburtsortes, das die Dorfbewohner „das Schloss“ nannten. Rübenäcker und eine Zuckerfabrik bilden die Grundlage dieses Großgrundbesitzes und prägen auch das Leben der Großfamilie. Nach dem Abitur in Brünn studiert er in Berlin und Wien, wo er mit Der ewige Jude in der Dichtung 1896 zum Dr. phil. promoviert. (Die Arbeit existiert nur als handgeschriebenes Exemplar in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien.) Gleichzeitig setzt seine umfangreiche schriftstellerische Tätigkeit ein, die er selbst gegen Ende seines Lebens in drei Schaffensphasen eingeteilt hat: In der ersten Epoche von 1895-1908 entstehen für die Stimmungslage des Fin de siècle so charakteristische Werke wie Der Tod und die Maske (1902) und Melancholia (1908). Der zweite Produktionsschub (1910-1938) ist geprägt von Kassners physiognomischem Markenzeichen. Nun schreibt er die komplexen Hauptwerke Zahl und Gesicht (1919), Die Grundlagen der Physiognomik (1922) und Das physiognomische Weltbild (1930). Genauso gewichtig ist die Studie von 1936 Von der Einbildungskraft, die eine der Leitvorstellungen des Kassnerschen Denkens erörtert. Spätestens von diesem Zeitpunkt an stellt sich die Frage, in welchem Ausmaß Rudolf Kassner der Philosoph der Künstler seiner Zeit, vor allem seiner beiden Altersgenossen Hofmannsthal und Rilke gewesen ist. Eine noch ausstehende Aufgabe! Die dritte Phase (1938-1959) bringt die schon erwähnten Erinnerungsbücher sowie die tiefgründige Zusammenschau Das neunzehnte Jahrhundert (1947), die auch noch der Erschließung harrt. (Das vollständige Werkverzeichnis findet sich im Gedenkbuch, S. 243-248.) Hinzukommt eine lebenslange Übersetzertätigkeit aus den großen Kultursprachen seit der Antike, im Laufe derer u.a. Werke von Platon, Lawrence Sterne, André Gide, Gogol, Tolstoi oder Dostojewski ins Deutsche übertragen werden. Zu diesem in jeder Hinsicht ins Universale ausgreifende Leben gehören auch die unterschiedlichsten Freundschaften. Beispielhaft sei nur auf jene mit Fürst Alexander von Thurn und Taxis, dem Gatten der mit Rilke befreundeten Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe, verwiesen. Im Kapitel Freundschaft der Zweiten Fahrt ist nur von dem 1939 gestorbenen Fürsten die Rede, „dessen Umgang ich durch mehr als ein Menschenalter genossen, den ich bewundert, geliebt, den ich um den bestimmten Ausdruck zu wählen, damit das Empfundene genau bezeichnet werde, mit dem Herzen eingesehen habe. Womit ich auch gleich das anzeige (…) was ich unter Freundschaft verstanden haben will: Eben dieses Mit-dem-Herzen-Einsehen eines Menschen, dem wir uns im Leben verbunden gefühlt haben.“ (VII, 515). Diese Passage über die Freundschaft mit dem 22 Jahre älteren „Haupt der sogenannten jüngeren, österreichischen Linie des fürstlichen Hauses“ (VII, 517), zählt zu den aufschlussreichsten Selbstauskünften Kassners insgesamt. Die letzten Jahre seines – größtenteils in Wien verbrachten – Lebens konnte der 1946 in der verwüsteten Donaumetropole ernsthaft Gefährdete durch Vermittlung Schweizer Freunde angemessen im Wallis zubringen.
Die singuläre Stellung von Leben und Werk Kassners in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat von Anfang an dazu geführt, dass seine Schriften nahezu ausschließlich von Künstlern aufgenommen wurden, präziser von solchen, die die Statur Hofmannsthals, Rilkes oder Stefan Georges hatten. Es hat den Anschein, als habe hier ein Platoniker, wie Kassner den Kritiker nennt, für Dichter geschrieben. Das muss man bedauern, denn schon das erste Buch Die Mystik, die Künstler und das Leben, 1900 erschienen, stellt sich dem alles beherrschenden Ästhetizismus der Zeit, während die maßgeblichen Geister (in allen drei Künsten) diesem entweder verfallen oder mittels der Ironie zu relativieren versuchen. Den Bann zu durchbrechen, den die Kunst um 1900 über das Leben zu gewinnen droht, dürfte auf diese Weise schwerlich gelingen. – All das könnte zu dem Schluss verleiten, hier handle es sich eben um eine zu dieser Zeit nicht seltenen elitären Verhaltensweisen von der Art Stefan Georges oder Ernst Jüngers. Dies wäre ein grobes Missverständnis. Zwar gibt sich auch Kassner kaum mit der Alltäglichkeit in seinen Schriften ab – selbst die beiden schrecklichen Weltkriege werden in ihren Auswirkungen für die Gegenwart des Denkers kaum Spuren hinterlassen. Doch geschieht dies als Folge der strikten Konzentration auf die Grundmelodie, die allein die Stimmigkeit eines Lebens zu gewährleisten vermag. In diesem Sinne schöpft er von Anfang an in souveräner Verachtung der Gegenwart aus der Tiefe der Zeit, vorzüglich aus Platon (von dem er ja sechs, viel zu wenig beachtete Hauptwerke in ausgezeichnetes Deutsch übertragen hat). Dabei kommt es bereits in seiner ersten Publikation zu aufsehenerregenden Erkenntnissen: „Christus ist die frei gewordene Seele Plato’s, die Metapher Plato’s.“ (I, 19). Wer die Gedankengänge von Papst Benedikt XVI. zum Verhältnis von Glauben und Vernunft kennt, wird die Berührungspunkte unschwer wahrnehmen.
Dieses überlegene Hinwegsehen über Zeitmoden und Alltagskram lässt einige bedeutsame Verhaltensweisen Kassners umso ungetrübter hervortreten, wofür er wiederum Einzigartigkeit beanspruchen darf. So hat der vormarxistische Lukács 1908 die Abwesenheit jeglicher Polemik bei Kassner festgehalten, den er einen souverän positiven Kritiker nennt: „Positiv in der Auswahl seiner Menschen: nie hat er Polemisches, nie auch nur Kritiken polemischer Stimmung geschrieben. Das Schlechte, das Unkünstlerische existiert für ihn einfach nicht, er sieht es gar nicht, geschweige denn, daß er dagegen kämpfen möchte. Positiv in seiner Darstellung der Menschen: Mißlungenes interessiert ihn nicht, die Grenze auch nur insofern, als sie mit dem Wesen des Menschen unzertrennbar verbunden ist, (…) als sie den Hintergrund darstellt zu der großen symbolischen Aktion des Lebens. Alles andere gleitet von den Menschen ab, wenn er sie anschaut. Er vermag mit so suggestiver Kraft Dinge nicht zu sehen, dass sein Blick die Menschen aus ihrer Hülse schält und wir von dem Augenblick an die Hülse als Spreu empfinden und nur das als wichtig, was er als Kern betrachtet.“ (Die Seele und die Formen, S. 33). Eine einprägsame Charakteristik des Physiognomikers überhaupt! Nicht weiter verwundern wird danach, dass Kassner – wiederum gegen den Trend der Zeit, besonders auch eines Großteils der Künstler – die Psychoanalyse entschieden ablehnt, „die ich als sehr deutlichen Ausdruck von Zudringlichkeit und Distanzlosigkeit mehr hasse als irgend etwas in der Welt.“ (VII, 413). Ein unmissverständlicher Standpunkt im Zeitalter Sigmund Freuds und seiner Gefolgsleute!
Ein Persönlichkeitszug muss abschließend noch zur Sprache kommen, da er für das adäquate Verständnis von Mensch und Werk grundlegend ist: Rudolf Kassner war kein Individualist (wie nicht selten im Blick auf seine Sonderstellung zu hören ist), sondern, bei aller Geselligkeit, ein entschieden Einzelner. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Einzeln, also ganz auf sich gestellt, war er trotz aller Fürsorglichkeit bereits in der Familie; denn dass er seine Lähmung soweit überwand, dass er an Stöcken gehen konnte, war allein seiner nie erlahmenden Willenskraft zu verdanken. Und ein unverwechselbar Einzelner wird er bleiben, in der Schule wie später unter seinen zahlreichen Freunden; nicht zuletzt in seinem Denken. Die auf ausgedehnten Reisen von Ägypten und Indien bis nach Russland und Turkestan gewonnenen Einblicke in Landschaften und Geschichten standen Pate bei der Entstehung seines physiognomischen Weltbildes. Im Verbund mit seiner europäischen Bildung führt dies dann im Spätwerk zur Aufgipfelung des bereits in der frühesten Publikation geäußerten Gedankens von Christus als der frei gewordenen Seele Plato’s: d.h. zu seiner Christologie, dargelegt in der im letzten Lebensjahr verfassten, aber von ihm nicht mehr durchredigierten Schrift Der Gottmensch und die Weltseele (posthum veröffentlicht). Hier scheint ein letztes Mal auf, was ihn lebenslang faszinierte: „die sterbende Antike“ (X, 694), deren Menschen im Sinne Platons den kommenden Gottmenschen erahnen und eben auch nicht erahnen.
Werke: Sämtliche Werke. 10 Bände. Im Auftrag der Rudolf Kassner Gesellschaft, hrsg. von Ernst Zinn und Klaus E. Bohnenkamp, Pfullingen: Neske 1969 ff.
Lit.: Rudolf Kassner zum achtzigsten Geburtstag. Gedenkbuch, hrsg. von A.Cl. Kensik und D. Bodmer, Winterthur: Eugen Rentsch 1953. – Georg Lukács: Die Seele und die Formen. Essays, Neuwied und Berlin 1971 (SL 21). – Peter Michelsen, Zeit und Bindung. Studien zur deutschen Literatur der Moderne, Göttingen 1976. – Gerhart Mayer, Rilke und Kassner. Eine geistige Begegnung, Bonn: Bouvier 1960.
Bild: Rainer Maria Rilke 1875-1975. Ausstellungskatalog Nr. 26. Marbach 1975, S. 152.