Biographie

Kästner, Erhart

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Bibliothekar, Schriftsteller
* 13. März 1904 in Schweinfurt
† 3. Februar 1974 in Staufen/Breisgau

Ist es denn eine Art von geistesgeschichtlichem Luxus, in Zeiten des modernen Tourismus Griechenland-Bücher von Erhart Kästner im Reisegepäck mitzuführen, um sich in Hellas, auf dem heiligen Berg Athos oder auf Kreta zurechtzufinden? Durchaus bringe das Gewinn, erklärte Benno von Wiese, da Erhart Kästner doch ein Autor sei, „der abseits von allem Lauten, Betriebsamen und Propagandistischem die verborgensten Seiten unserer von Verschüttungen bedrohten Seele wieder zum Klingen bringe.“ Orte, zu denen uns Kästner führen möchte, sind so etwas wie „Inseln der Ruhe“, und sie schenken uns die tröstliche Gewißheit, wie wir die steigenden Verluste, die wir erfahren, vielleicht besser ertragen. Und gar mancher Leser von Kästners Aufzeichnungen dürfte sich wohl kaum der ursprünglichen Formgebung, die Lebendigsein ausstrahlt, entziehen. Erhart Kästners Bücher sind Zeugnisse einer Liebe auf den ersten Blick und auch Ausdruck einer ebenso traditionellen wie existentiellen Sehnsucht nach den Ursprüngen des europäischen Geistes und seiner Kultur.

Erhart Kästner wurde am 13. März 1904 in Schweinfurt geboren, wo sein Vater, der einer alten fränkischen Theologenfamilie entstammte, als Gymnasialprofessor unterrichtete. Als die Familie 1911 nach Augsburg übersiedelte, trat sein Sohn Erhart in das traditionsreiche Gymnasium bei St. Anna ein, an dem auch sein Vater unterrichtete. Erhart Kästner war ein guter Schüler; schon früh zeigte sich ein starkes, unabhängiges Urteilsvermögen und eine bemerkenswerte geistige Kraft. Kurz vor dem Abitur, das er 1922 ablegte, wurden diese Eigenschaften in einem Referat über Gerhart Hauptmann erkennbar. Wie hätte damals der junge Gymnasiast ahnen können, daß er gut zehn Jahre später den Dichter in Dresden kennenlernen würde, ja daß ihn der „Vater Gerhart“ als sein Sekretär auf den „Wiesenstein“ holte!

In den Jahren 1922-1924 machte sich Kästner mit den Gepflogenheiten der Verlagsarbeit in einem Leipziger Antiquariat bekannt, um freilich in den Abendstunden schon Vorlesungen an der Universität zu hören. Das Studium der Germanistik, Geschichte und Geographie, das er 1924 in Freiburg aufnahm, in Kiel weiterführte, beendete er 1927 in Leipzig mit einer Dissertation über das Thema „Wahn und Wirklichkeit im Drama der Goethezeit“, die der bedeutende Germanist der Universität Professor Hermann August Korff betreute, „zu dem man mit gehörigem Respekt, Ehrfurcht und Bewunderung aufblickt …“, in dem der junge Doktor phil. Erhart Kästner einen „Richtungspunkt“ erblickte. Aber nicht die wissenschaftliche Arbeit an der Universität war sein Bestreben, sondern die Arbeit am Buch: Seine berufliche Existenz erblickte er in der Bewahrung und Darstellung von „geistigen Denkmälern“ vergangener Epochen. Sein Arbeitsplatz wurde die Sächsische Landesbibliothek in Dresden, die sich damals im Japanischen Palais befand. Der Direktor, Professor Martin Bollert, förderte die speziellen Neigungen seines neuen wissenschaftlichen Mitarbeiters, in dem er ihm die Gestaltung der Lessing-Jubiläumsausstellung von 1929 im Dresdener Rathaus übertrug sowie die Konzeption und die Ausarbeitung des Kataloges zur Goethe-Ausstellung 1932 auf der Brühlschen Terrasse. Ihm wurde die Leitung der Handschriften-Abteilung in den neugestalteten Räumen im Palais übertragen, und als ein Buchmuseum in der Bibliothek eingerichtet wurde, betraute man den erfolgverwöhnten Bibliothekar mit der Leitung dieser für Sonderausstellungen vorgesehenen Säle. „Die Bibliotheken besinnen sich wieder darauf, daß sie Kunstsammlungen sind … so will man jetzt wieder fühlen lassen, daß die alten Büchersammlungen doch auch Kunstinstitute von alters her sind, daß sie mit ihrem Illustrationsschatz und ihrem Besitz an Buchmalerei neben den graphischen Kabinetten stehen …“ Als Kästner darüber entsprechende Veröffentlichungen („Ein festlicher Kalender für alle Zeit“) vorlegt, erreichte ihn das zustimmende Echo von Professor Anton Kippenberg, den Leiter des Insel-Verlages. Mit Wehmut erinnerte sich Erhart Kästner in seinem Beitrag zur Festschrift für den 75jährigen Professor Bollert „auf diese Dresdener Jahre.“ Auf ihnen liegt „ein Glanz auf der Welt, der verscherzt ist. Gewiß, es ist der Glanz der verlorenen Stadt, es ist Freundschaft, Jugend, Liebe, es ist aber auch der sonntägliche Werktag auf dieser Bibliothek im Japanischen Palais, die Reichtum und Fülle ausstrahlte.“ In einem Brief an Elisabeth Jungmann (Sekretärin Gerhart Hauptmanns 1922-1933) berichtet Kästner von seinem Besuch in Dresden 1947: „Es ist schon das Schlimmste, was ich bisher sah …“

Nach einer Begegnung Kästners mit Gerhart Hauptmann Ende 1934 in Dresden, hatte der Dichter den Wunsch geäußert, den gescheiten Bibliothekar als Sekretär bei sich zu haben – und seit Juni 1936 steht er dem Dichter zur Seite, begleitete ihn auf seinen Reisen, nach Rapallo, Hiddensee. Er nahm regen Anteil an seiner dichterischen Produktion, leistete Vorarbeiten zur Weiterführung oder Vollendung solcher Dichtungen wie „Die Tochter der Kathedrale“, den „Ulrich von Lichtenstein“ oder das „Wiedertäufer“-Fragment und den „Großen Traum“ – eine Dichtung, die Kästner zur Frage evoziert, ob sie überhaupt an Leser, an Hörer gerichtet ist. Aufschlußreich Kästners Bericht zum Entstehen der „Finsternisse“, das Requiem für Hauptmanns jüdischen Freund Max Pinkus: Was es eigentlich bedeutet hat sein damaliger Sekretär wohl am Tiefsten ausgelotet. Ende 1937 sind die Dienste bei Hauptmann beendet. Aber auch der Dienst in Dresden ist schon abgesteckt. Im Januar 1940 erhielt er die Einberufung zum Kriegsdienst, wobei es ihm gelang, während der Abkommandierung nach Griechenland den Auftrag zur Niederschrift eines Buches über „die Denkwürdigkeiten Griechenlandes“ für die deutschen Soldaten zu erhalten. Das Buch kam im Januar 1943 zur Auslieferung: Freilich war es kein Reiseführer im üblichen Sinne – vielmehr Mosaiksteine, die wesentliche Bereiche der griechischen Landschaft und ihrer Menschen aufzeigen möchten und mit dem Klischee vom „klassischen Altertum“ kaum etwas anfangen können. Kästner ging es darum, die spezifische Atmosphäre, jenen narkotischen Brodem der Erde transparent zu machen, die Hirten und Herdenwelt, die Naturerscheinungen zu durchleuchten: Dabei drängen sich gelegentlich Parallelen zum „Griechischen Frühling“ Hauptmanns auf. Später diente das Buch als Vorlage für eine Neufassung des Titels, der sich nun als „Ölberge, Weinberge“ (1953) präsentierte. Das Thema Griechenland bleibt auch in solchen Büchern präsent: „Die Lerchenschule“, Aufzeichnungen von der Insel Delos (1964). Auch hier gibt der Autor kein romantisches Stimmungsbild von der antiquierten Antike – vielmehr ist es weitgehend immer eine unmittelbare, elementare Begegnung mit sehr konkreten, alltäglich-naturhaften Erscheinungen, eingeflochten sind Reflexionen zu Personen (wie Hauptmann) und Büchern. Und „Die Stundentrommel vom Heiligen Berg Athos“ (1956) stellt wohl Kästners poetischtes Buch dar – in einer bezwingenden Intensität der Beschreibung der Landschaft im Spannungsbereich von Tälern und Bergen und vor allem mit den Klöstern. Daraus erwuchs die Kritik an den fragwürdigen Werten der Welt, vornehmlich der westlichen: Die übrigens auch in seinen „Byzantinischen Aufzeichnungen“ (1964) anklingt: „Ich begriff, welcher Abgrund besteht zwischen unserem erfolgreichen Leben, das vollgestopft ist mit Taten, Untaten, Fortschritt und ewigem Rückfall, und dem alten untergehenden Osten, der die zu voll gekritzelte Tafel zu löschen suchte, um sie frei zu machen für etwas, was Weisheit zu nennen schon zu tüchtig, zu stolz klänge.“ Blind würden die Menschen durch diese Welt stolpern – und sie wie ein Stück Ware verbrauchen, mißbrauchen, diese Verfügung über die Dinge, die totale Steuerung der Verläufe; totale Verfügung über die Vergangenheit, über die Zukunft und selbstverständlich über den Menschen …“ Und doch muß diese Mahnung uns aus der Lethargie reißen: „ … mit Wehmut, mit bloßer Traurigkeit war nichts getan. Wie es bei allen den vielerlei Unglücken ist, deren Herannahen wir sehen, deren Ausbleiben wir hoffen, deren Eintreffen aber zu unserem Leben gehört, so können wir der Vernichtungsgewalt nicht begegnen, indem wir klagen oder uns Mühe geben, schnell zu vergessen, sondern nur, indem wir unser Lebendigsein um so stärker behaupten. Wir leben im Ansehen der Toten. Je stärker wir beides erfüllen: von ihnen angesehen werden und dennoch unser Leben zu leben, um so eher haben wir das Unsere getan.“

Im Oktober 1944 war Kästner auf der Insel Rhodos stationiert, wo er auch in britische Gefangenschaft geriet, die er in der ägyptischen Wüste bis November 1946 verbrachte. Aus England wurde er im Februar 1947 nach Augsburg entlassen. Hier schrieb er an seinem „Zeltbuch von Tumilad“: Darin leuchtet die Erkenntnis, daß man eigentlich recht wenig benötigt, um zu-sich-selbst-zu-kommen, auf sich-selbst-zu-besinnen, und wie viele Verluste man zu tragen imstande ist. Auch in diesem Buch löst die Nachricht vom Tode Gerhart Hauptmanns eine Fülle an Erinnerungen und Vorstellungen über den von ihm so geliebten Dichter aus. Auch die Nachrichten von der Zerstörung Dresdens nehmen breiten Raum ein.

Im März 1950 erreichte ihn die Berufung zum Direktor der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, der einstmals Lessing und Leibniz vorstanden. In den folgenden achtzehn Jahren, in denen Erhart Kästner die Leitung dieses traditionsreichen Hauses innehatte, gelang es ihm, durch umfangreiche Umbauten diese berühmte Bibliothek zu einer hervorragenden Forschungsbibliothek von internationaler Bedeutung auszubauen.

Nach der Verabschiedung im Oktober 1968 ließ sich Erhart Kästner in Staufen (bei Freiburg/Breisgau) nieder, wo er am 3. Februar 1974 verstarb.

Bild: Erhart Kästner: Was die Seele braucht. Insel Taschenbuch

Günter Gerstmann