Biographie

Kempowski, Walter

Beruf: Schriftsteller, Pädagoge
* 29. April 1929 in Rostock
† 5. Oktober 2007 in Rotenburg (Wümme)

Mit seinem Geburtsort Rostock war Walter Kempowski kein Ostdeutscher im Sinne der Herkunft aus den historischen deutschen Ost- und Siedlungsgebieten oder eines dortigen Wirkens. Gleichwohl gilt es, ihn an dieser Stelle zu würdigen als einen Autor, der – anders als die meisten seiner Generation – den deutschen Osten in seinen Werken keineswegs ausblendete, der vielmehr insbesondere mit der umfangreichen Sammlung und Auswertung von Lebensgeschichten geflüchteter und vertriebener Ostdeutscher zu der längst überfälligen Enttabuisierung der Thematik von Flucht und Vertreibung, der Aufarbeitung ihrer Gründe und Folgen beigetragen hat.

Als eine der großen Themengruppen im Werk Walter Kempowskis kann man seine Familiengeschichte ausmachen: Familiengeschichte als Zeitgeschichte in der gesamteuropäischen Tradition eines Emile Zola, der mit den 20 Bänden seiner Rougon-Macquart-Romane das Frankreich der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts geradezu „überrealistisch“ festhielt. Kempowski bietet in neun großen Prosawerken ebenfalls eine sehr detailgenaue, in erhellende Einzelheiten verliebte Darstellung des 20. Jahrhunderts an Hand seiner Familie, der Kempowskis aus Rostock – vergleichbar mit Thomas Mann und seinem Lübeck der Buddenbrooks und Günter Grass’ Danzig der Familie Oskar Matzeraths, des Blechtrommlers.

Weiteres Hauptthema Kempowskis ist die Diktatur in ihrer härtesten Ausprägung im Gefängnis. Mit 18 Jahren mussteKempowski damit „Bekanntschaft“ machen. Nach seiner 8-jährigen Haft in Bautzen 1948-1956 aus politischen Gründen sollte er einen eigenen Zugang zu dieser finden, indem er seine Erinnerungen in Archivmaterial detailbesessen zettelweise anlegte, um dann innerhalb dieser Zettelsammlung Sinnstränge aufzuzeigen und Handlungsprozesse zu thematisieren. Die autobiographische Sicht führt dabei nicht zu zwangshaften Wiederholungen, sondern zu einer neuen Art der literarischen Vermittlung, die dem Leser Erklärungen für das Gescheheneselber suchen und finden, vor allem aber auch selber deuten lässt. Schon sein erster über die Haft handelnder Roman Im Block (1969) benutzt diese außergewöhnliche Betrachtungsweise und findet deshalb zunächst auch nicht das volle Verständnis, das dann seinem GefängnisromanEin Kapitel für sich (1975) zuteil werden sollte. Hier schildert Kempowski den Alltag in Bautzen im „gelben Elend“, dem berüchtigten Gefängnis für „Politische“ der DDR, äußerst komplex. In Bautzen saßen gleichfalls sein Bruder Robert – wie er zu 25 Jahren Haft verurteilt – sowie wegen „Mitwisserschaft“ zu 10 Jahren Haft verurteilt seine Mutter ein. Auch deren Sicht kommt in der jeweiligen Diktion zur Sprache, ebenso, wie die Hamburger Verwandtschaft und die Schwester in Dänemark über Briefe das Wort erhalten. Auf diese Weise erscheint die Haftanstalt Bautzen dem Leser nun kontrastiv aus der Innenansicht und der Außenansicht noch plastischer.

Der Haftzeit voraus ging – mit Tadellöser & Wolff (1971) – die Schilderung von Kempowskis Kindheit und Jugend vom Ende der 1930er Jahre bis 1945, seinem 16. Lebensjahr. Die darauf folgende Zeit in der „Zone“ unter sowjetischer Besatzung beschreibt er im RomanUns geht es ja noch gold (1972), der mit der Verhaftung des 18-jährigen Walter endet. Es folgt der Roman Aus großer Zeit(1978), der eine Rückblende in der Familienchronik bietet, indem er das Leben seiner Großeltern nach der Jahrhundertwende ins Gedächtnis ruft. In Schöne Aussicht (1981) wird dann die Zeit zwischen Aus großer Zeit undTadellöser & Wolff behandelt, um dann inHerzlich Willkommendie Jahre zwischen der Übersiedlung aus der DDR in die Bundesrepublik und das Lehrerstudium in Göttingen darzulegen. Als Bestandteile dieser weitgespannenDeutschen Chronik sind auch die drei BefragungsbändeHaben Sie Hitler gesehen? (1973), Haben Sie davon gewusst?(1979) und Immer so durchgemogelt(1974) zu werten.

Mit seiner Ankunft in der Bundesrepublik stand Kempowski vor neuen Herausforderungen. Die amtliche Anerkennung als politischer Häftling wurde ihm verweigert, was ihn nach eigenen Angaben veranlasste, sie sich über die Literatur zu ersetzen. Eine vielleicht auch psychologische Erklärung für seine Detailbesessenheit, seine „Treue im Kleinen“, seine Methode, so facettenreich wie möglich die Realität zu erfassen, um mit dieser unglaublichen Komplexität zu überzeugen.

Inseinem Archiv hortete er ca. 200.000 Fotos und eine umfangreiche Sammlung von Biographien und Tagebüchern, darunter nicht zuletzt viele von Flüchtlingen, Vertriebenen, Spätheimkehrern und Aussiedlern. Eine Frucht dieser seiner unermüdlichen Sammlertätigkeit ist sein in den Jahren 1993 bis 2005 herausgegebenes monumentales Werk Echolot. Ein kollektives Tagebuch von 1943-1949. Allein die Monate Januar und Februar 1943 umfassen vier Bände dieser episch breit angelegten Chronik, die von der Literaturkritik begeistert angenommen wurde. Ein weiteres begonnenes GroßprojektOrtslinien, das mit Fundstücken unterschiedlichster Art jeden Tag der Jahre 1850bis 2000 dokumentieren sollte, blieb eine Aufgabe für Nachgeborene.

Unterden vielen Preisen und Auszeichnungen, die Kempowski für sein umfassendes Werk als „deutscher Chronist“ erhielt, ragen hervor der Lessingpreis der Freien und Hansestadt Hamburg 1971, der Niedersachsen-Preis 1978, der Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 1994 und noch 2006 der Hoffmann-von-Fallersleben-Preis des Landes Mecklenburg-Vorpommern. 1972 erhielt er den Andreas-Gryphius-Förderpreis, mit dem die Künstlergilde Esslingen Autoren ausgezeichnet, deren Werke deutsche Kultur und Geschichte in Mittel-, Ost- und Südosteuropa reflektieren und die zur Verständigung zwischen den Deutschen und ihren östlichen Nachbarn beitragen. Zu erwähnen sind ferner die Ehrendoktorwürde der Universität Rostock 2002 sowie die Ehrenbürgerschaft seiner Heimatstadt 1994.

Man könnte Walter Kempowski bei aller Würdigung seiner akribischen Chronistentätigkeitund komplexen Gestaltungskunst aber noch nicht ganz gerecht werden, wenn man seine pädagogischen Bemühungen, sein drittes großes Thema, außer Acht ließe. 1957 holte er das Abitur im Westen nach und studierte Pädagogik in Göttingen. Das Studium beendete er mit der für sein späteres Wirken und Werk grundlegenden StaatsexamensarbeitPädagogische Erfahrungen im Zuchthaus, 1959 geschrieben. Er heiratete eine Kollegin, die niedersächsische Pfarrerstochter Hildegard Janssen, die sich mit ihm als „Junglehrerehepaar“ 1965 an eine Zwergschule in Nartum bei Bremen versetzen ließ. Nach der Schließung dieser Landschule ging er an die Mittelpunktschule in Zewen und von 1979 an als Lehrbeauftragter für Kommunikation und Literatur an die Universität Oldenburg. Seinen Wohnsitz behielt er weiterhin auf dem Lande mit seiner Frau und den beiden Kindern. In seine KinderbücherDer Hahn im Nacken (1973) undAlle unter einem Hut (1976)fließen die pädagogischen Erfahrungen ein und im Porträt Unser Herr Böckelmann (1971) bringt er einen „altmodischen“ Lehrer vor allem der älteren Generation nahe, wie der Erfolg bei den Eltern zeigt. 1980 gibt er sogar Kempowskis Einfache Fibel heraus, inder seine erzieherischen Überlegungen aus Einfühlungspädagogik und gelassener, norddeutsch kühler Wirklichkeitsbeobachtung verfolgt werden können.

„Ich bin 78, und es wird Zeit, sich zu verabschieden. Ich hab genug getan, ich war 30 Jahre Pädagoge, habe 40 Bücher geschrieben, das reicht allmählich.“ – so der bereits von schwerer Krankheit gezeichnete Walter Kempowski in einem Interview, das er im Mai 2007 anlässlich der Eröffnung einer ihm gewidmeten Ausstellung Berliner Akademie der Künste gab. Bundespräsident Horst Köhler hatte ihn in der Eröffnungsrede als „Volksdichter“ bezeichnet, da er „wie kein anderer das Volk selbst zum Sprechen gebracht“habe. Dass er den Stimmen darüber hinaus auch Gehör verschaffte, wissen nicht zuletzt die Vertriebenen und Flüchtlinge zu schätzen.