Biographie

Kerényi, Karl

Herkunft: Banat
Beruf: Klassischer Philologe, Religionswissenschaftler
* 19. Januar 1897 in Temeschburg/Banat
† 14. April 1973 in Kilchberg/Zürich

Als er die Entwicklungsgeschichte seines Faches aufzeichnete, hielt Karl Kerényi fest, daß es nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland einen ”dritten Humanismus” gegeben habe, als die klassische Philologie ”versuchte, das historische Erkennen wieder zum menschlichen Verstehen zu vertiefen, doch nur innerhalb der Möglichkeiten des schon gebildeten und gerade am Klassischen gebildeten europäischen Menschen.” Um diesen europäischen Menschen und seine Bildungsvoraussetzungen ging es dem in der Banater Hauptstadt Geborenen. So universalistisch (bzw. auf gesamteuropäische Zusammenhänge ausgerichtet) die Perspektive von Kerényis Arbeiten auch war – in seinen Selbstdarstellungen präsentierte er sich häufig als patriotisch gestimmter Bürger Ungarns. Der Name Kerényi ist zwar die magyarisierte Form des deutschen Familiennamens Kienzel, aber die ungarische Mutter des Wissenschaftlers hatte ihm ein besonderes Nationalbewußtsein auferlegt. Kerényi, in dessen Familie schwäbisch gesprochen wurde, bezeichnete das Ungarische als seine Muttersprache. Seine wichtigsten Werke aber schrieb er in deutscher Sprache, und die Lehrer, denen er viel zu verdanken hatte, fand er in Greifswald (Johannes Mewaldt) und Berlin (Diels, Norden, Eduard Meyer) oder in Budapest (in dem Indologen Josef Schmidt).

Kerényi verteidigte 1919 in Budapest seine Dissertation über Platon und Longinus: Forschungen zur Geschichte der antiken Literaturwissenschaft und Ästhetik. Bis 1926 unterrichtete der gebürtige Banater in Budapester Gymnasien Latein und Griechisch. Erst ab dem Jahre 1926 konnte er als Privatdozent an der Budapester Universität tätig sein. Von 1934 an und bis 1941 war Kerényi Professor für klassische Philologie an der Universität Fünfkirchen (Pécs). 1941 wurde er – gegen seinen eigenen Wunsch – nach Szegedin (Szeged) versetzt. 1943 verließ er Ungarn für immer und ließ sich im Tessin nieder. Von 1948 bis 1966 war Kerényi Mitarbeiter am Züricher C.G.Jung-Institut. 1962 erhielt er die eidgenössische Staatsbürgerschaft. Oslo und Stockholm hatten ihn mit Ehrendoktoraten geehrt. In Budapest wurde er 1989 post mortem Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Zwei Jahre zuvor waren seine ungarischsprachigen Aufsätze und Artikel publiziert worden.

Für den Wissenschaftler waren seine Reisen von entscheidender Bedeutung. Nach seiner Promotion folgte ein längerer Deutschlandaufenthalt mit Studien und Forschungen in Greifswald und Berlin. Italienreisen und schon 1929 ein erster Aufenthalt in Athen führten dazu, daß Kerényi der traditionellen Schulphilologie den Rücken kehrte und eigene Wege einschlug. Für ihn sind die Mythen am besten in literarischen Meisterwerken aufbewahrt bzw. widerspiegelt worden, wo sich seiner Meinung nach auch die differenziertesten psychologischen Deutungen antiker Sagen und Mythen antreffen lassen. 1934 war diese neue Sicht auf das Erbe der griechisch-römischen Antike mit ein Anlaß für Kontakte zu Thomas Mann. Mit seiner Hilfe wollte Kerényi versuchen, moderne Literatur in ihrem Streben nach der Wiederentdeckung von Ursprungs- und Schöpfungsmythen zu bestärken und zu verpflichten. Kreative Mißverständnisse auf beiden Seite haben einerseits die Mythenforschung Kerényis, andererseits Thomas Manns Exegese historischer und religionsgeschichtlicher Stoffe gefördert und bis 1955 einen fruchtbaren Gedankenaustausch veranlaßt. Mit C.G. Jung, dessen Erkenntnisse Kerényi mit eigenen Feststellungen zu untermauern vermochte, hat ihn eine Reihe gemeinsamer Arbeiten (Das göttliche Kind. Amsterdam 1940; Das göttliche Mädchen. Amsterdam 1941; Einführung in das Wesen der Mythologie. Amsterdam/Zürich 1941) verbunden. Noch wichtiger aber blieben Beziehungen zu Schriftstellern und die Kerényischen Exegesen literarischer Werke von Goethe und Hölderlin bis zu Lawrence und Hesse, ebenso immer wieder von ungarischen Autoren (von Jókai bis Laszló Németh).

Zu Kerényis Grundsätzen gehörte auch der, ”über alles in der Welt vom Gesichtspunkte des Menschen aus zu denken.” Daher suchte er die Begegnung mit Menschen, mit ihrem Werk und ihren Leistungen. Deshalb die Reisen, deshalb der Dialog, der ihn mit den Gedanken von Bachofen und Schelling, ebenso jedoch mit seinen Zeitgenossen Martin Buber oder Walter F. Otto verband. Auch die Mythologeme wurden aus der Sicht des Historikers und des Zeitgenossen der Moderne interpretiert. Dies war Kerényis Humanismus, der ihn sich auch in die Literatur und in die Erzähltraditionen der europäischen Literaturen einordnen ließ. Die Beschäftigung mit Apollo, mit Hermes, mit Niobe geht einher mit einem Engagement für den zeitgenössischen Menschen, dem das Göttliche als Teil seiner Bemühungen erscheinen muß, um mit seiner Hilfe menschliche Anliegen – in neuer Sicht – zu interpretieren und zu bewältigen.

Als Religionshistoriker kann Kerényi höchstens der zweite bekannte Südosteuropäer, Mircea Eliade, zur Seite gestellt werden. Als streitbarer Zeitgenosse hat er alle übertroffen. Sein fundiertes historisches und sprachgeschichtliches Wissen hat ihm dabei geholfen, Entdeckungen zu machen, die anderen verwehrt blieben. Ein homogenes, seiner selbst sicheres Weltbild, in dem Epiphanien eine ausschlaggebende Bedeutung besaßen und die Vollkommenheit als Ideal stets präsent ist, hat Kerényi, der die Heimatlosigkeit am eigenen Leib zu erdulden hatte, stets die Ausgewogenheit antiker Lebensideale nachvollziehen lassen.

Werke: Die griechisch-orientalische Romanliteratur in religionsgeschichtlicher Bedeutung. Tübingen 1927. – Dionysos und das Tragische in der Antigone. Frankfurt/M. 1935. – Apollon. Studien über antike Religion und Humanität. Wien 1937, Amsterdam 1941. – La religione antica nelle sue linee fondamentali. Bologna 1939 (deutsch 1940 und 1942). – Das Ägäische Fest. Die Meeresgötterszene in Goethes Faust II. Amsterdam 1941. – Einführung in das Wesen der Mythologie (zusammen mit C.G. Jung). Amsterdam/Zürich 1941. – Hermes, der Seelenführer. Das Mythologem vom männlichen Lebensursprung. Zürich 1943. – Hölderlins Mysterien. Nachbemerkung zu Hölderlins Hyperion. Zürich 1942. – Töchter der Sonne. Betrachtungen über griechische Gottheiten. Zürich 1944. – (mit Thomas Mann) Romandichtung und Mythologie. Zürich 1945 (zweite, erw. Ausgabe: Gespräch in Briefen. Zürich 1960). – Prometheus. Das griechische Mythologem von der menschlichen Existenz. Zürich 1946. – Die Mythologie der Griechen. München-Wien 1958, I-II. – Auf den Spuren des Mythos. München-Wien 1967. – Antike Religion. München-Wien 1971. – Werke in Einzelausgaben. München/Wien 1966 ff. Band I-V, VII-VIII.

Lit.: Söflund, Gösta (Hrsg.): Opuscula. (Festschrift Kerényi).In: Acta Universitatis Stockholmiensis, Band V, 1968, 243 S. – Polomé, Edgar C. (Hrsg.): Essays in memory of Karl Kerényi. Washington D.C. 1985, 144 S. (Journal of Indo-European Studies. Monograph Series 4).

 

    Horst Fassel