Biographie

Kerr, Alfred (A. Kempner)

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Theaterkritiker, Reiseschriftsteller
* 25. Dezember 1867 in Breslau
† 12. Oktober 1948 in Hamburg

Wer sich heute ein Bild von der Wirkung und Bedeutung des Theaterkritikers (nicht so sehr der des Reiseschriftstellers) Alfred Kerr machen will, braucht sich nur der Wirkung und Bedeutung eines Kritikers – dieses Mal eines Literaturkritikers – unserer Tage zu vergewissern, der von Marcel Reich-Ranicki. Ihn nennt man ebenso rühmend wie abfällig „Literaturpapst“. Alfred Kerr gebührte die Bezeichnung „Theater-Papst“. Dieser verfügte für seine Kritiken über das linksliberale Blatt der Hauptstadt, das Berliner Tageblatt, jener ist seit Jahrzehnten in der bedeutendsten überregionalen Zeitung, derFrankfurter Allgemeinen Zeitung und jetzt auch im Zweiten Deutschen Fernsehen zuhause. Beide fällen ihre Urteile, gestern wie heute, souverän, kenntnisreich und subjektiv und wollen zugleich für andere Kritiker Maßstäbe setzen. In einem unterscheiden sich Kerr und Reich-Ranicki, Kerr schrieb einen ausgezeichneten, nur ihm in seiner Subjektivität möglichen Stil und kokettierte auch mit seiner Handschrift, Reich-Ranicki ist ein Schreiber wie jedermann, setzt aber mit der Notenverteilung zwischen Gut und Schlecht die klärenden Akzente.

Kerr wurde als Sohn eines Breslauer Weinhändlers geboren und hieß ursprünglich Alfred Kempner. Doch gab es bereits Friederike Kempner mit ihren gut gemeinten, schnell gereimten und ins Lächerliche abgleitenden Gedichten, später spöttisch der „Schlesische Schwan“, auch die „Schlesische Nachtigall“ genannt. Mit ihr wollte Alfred Kerr, sich zu Höherem berufen fühlend und aus Gründen seiner nicht gerade geringen Selbsteinschätzung nichts gemein haben, darum der neue Name. Immer wieder hat er sich dagegen wehren müssen, mit seiner angeblichen Tante, deren Grab sich übrigens auf dem wiederhergestellten Jüdischen Friedhof in Breslau in einem Vorzeigezustand befindet, verwandt zu sein.

So wie andere vor ihm – es seien nur August Borsig und Adolph Menzel genannt, nach ihm etwa Max Herrmann-Neisse und Jochen Klepper – zog es den Breslauer Kerr als Zwanzigjährigen 1887 nach Berlin. Hier arbeitete er sich seit 1890 als Theaterkritiker empor. Über ihn schrieb Georg Zivier, der ihn als Jüngerer in Berlin miterlebt hat: „Zensor seines Zeitalters, daheim und auf Reisen, Lyriker, Feuilletonist und Theaterkritiker – Theaterkritiker vor allem und, der Fama nach, auch vor allen“. 1933 ging er über die Schweiz, Frankreich nach England in die Emigration. Als er nach seinem ersten Flug 1948 in Hamburg, in der damals britischen Besatzungszone landete, endete hier sein Leben. Die Stadt, in der er 45 Jahre gelebt und gearbeitet, in der er geglänzt und, stets als Einzelkämpfer, gestritten hatte, Berlin hat er nicht mehr wiedergesehen.

Fünf Jahre jünger als Gerhart Hauptmann und zwei Jahre nach ihm gestorben, gehört Alfred Kerr nicht anders als der Theatermann Otto Brahm und der Verleger Samuel Fischer zu den Wegbegleitern, eigentlich sogar zu den Männern, die dem Dramatiker zum Erfolg verhalfen und nie, auch bei weniger geglückten Arbeiten nicht, an ihm irre geworden sind. Ohne diese drei soeben genannten Namen ist Gerhart Hauptmann nicht denkbar. Um so bitterer war dann die Enttäuschung, als der Emigrant Alfred Kerr lesen mußte, daß der von ihm geliebte Dichter, als Deutschland im Zeichen des Nationalsozialismus aus dem Völkerbund ausgetreten war, dazu auf Befragen Ja gesagt hatte. Eine im gröbsten alttestamentarischen Stil gehaltene Verfluchung war die Folge. Nach 1945 wurde dieser Fluch ein wenig abgemildert.

Übrigens verdanken auch andere Dramatiker Alfred Kerr Lob und Förderung; es seien nur Henrik Ibsen, Frank Wedekind und Carl Sternheim genannt. Zu Bertolt Brecht war er ursprünglich auf kritische Distanz gegangen, und das heißt, er hatte ihn mit boshafter Kritik bedacht, sich dann aber in seinem Urteil gewandelt. Zu denen, die er gar zu gern gegen Gerhart Hauptmann nicht nur verletzend, sondern fast tötend ausspielte, gehörte Hermann Sudermann. Gleichzeitig erwuchs ihm im Wiener Kritiker und Essayisten Karl Kraus nicht nur ein Gegner, sondern ein Feind. Kerr selbst hatte mit Wien, woher der große Theatermann Max Reinhardt, jetzt in Berlin, herkam, nichts im Sinn, was auch dieser deutlich in Kerrs Kritiken zu spüren bekommen hat.

Theaterkritik war für Kerr kein Folgeprodukt, sollte keine Nebenrolle spielen, nachdem auf dem Theater die Hauptrollen gespielt worden waren. Als eine eigene Kunst mit einem Eigenwert sollte seine, sollte die Theaterkritik verstanden werden, gleichrangig mit Dramatik, Epik, Lyrik. Als Vierzigjähriger verkündete er: „Fortan ist zu sagen: Dichtung zerfällt in Epik, Lyrik, Dramatik und Kritik. Der wahre criticus ist ein nicht unzurechnungsfähiger Dichter“. Indem er sich selbst als den großen, wohl einzigartigen und einmaligen Kritiker sah und einschätzte, beschrieb er sein Tun: „Der criticus tut sich nicht als Weltrichter auf. Er haßt, was ihn wurmt. Er liebt, was ihn lockt. Und er sagt es. Kritik des Hasses und der Liebe. Der criticus hält es für dumm, ein Gesetzgeber – doch für klug, ein Gesetzfinder zu sein“.

Als einer, der die deutsche Sprache geradezu beneidenswert gut beherrscht hat, liebte es Kerr allerdings, mit Wortspielen zu operieren, in Antithesen sich zu ergehen, bisweilen so knapp zu formulieren, daß ein Satz, ein Wort nicht nur zu charakterisieren, sondern auch, wenn es ihm geboten erschien, zu töten vermochte. Er genoß geradezu sein Sprachvermögen und mußte sich den Vorwurf gefallen lassen, nicht frei von Eitelkeit und Selbstüberschätzung zu sein. Ohne daß ihn Derartiges zu stören vermochte, pflegte er schon im Schriftbild mit den römischen Ziffern und den im Staccato hingestanzten Sätzen seinen Stil. Immer blitzten Gescheitheit und nicht so sehr schmunzelnde denn ätzende Ironie auf. Vieles auf dem zeitgenössischen Theater wird nur dank Kerrs Prosa und Kritik überleben. Es sei sein Essay über die Schauspielerinnen seiner Zeit herausgegriffen: „Zwei Klassen: Eine aristokratische Linie: Agnes Sorma, Lina Lossen, Elisabeth Bergner. Und eine mehr demokratische Linie: Else Lehmann, Lucie Höflich, Käthe Dorsch“, und dann werden die Beweise für diese kühne und richtige Aussage nachgeliefert. Das gedruckte Wort hat heute im Zeitalter der vielen Medien nicht mehr die Bedeutung und Aussagekraft wie zu Kerrs Zeiten, aber es gibt auch niemand, der es Kerr an künstlerischem Vermögen und darin fundierter Subjektivität bis heute in deutscher Sprache hat gleichtun können.

Den Lyriker Alfred Kerr sollte man lediglich zur Kenntnis nehmen, er hat allzu oft zu schnell Verse schmieden wollen. Anders verhält es sich mit dem Reiseschriftsteller. In den zwanziger Jahren hatte Kerr in drei Bänden 1920 und 1928 außer seinen Theaterkritiken gerade auch seine Reiseprosa veröffentlicht. Bewundernswert, unter welchen Strapazen, ohne daß diese durchscheinen, diese Reisen quer durch Deutschland und über Deutschlands Grenzen hinaus bis nach Jerusalem und New York unternommen worden sind. Bewundernswert aber vor allem wiederum der Stil seiner Prosa, und immer wieder die Freude an der Pointe: „Italien ist: wie Hellas für Unbemittelte. Taormina: Ersatz für die Akropolis. Wie der Königssee ein verbilligter Fjord ist“. Auch hier sein unermüdliches Verlangen – indem er sich selbst als aufmerksamer Beobachter und Kritiker gefordert und in der Rolle eines klugen Präzeptors fühlte –, herauszuragen und Ich zu sein.

Bis in die Emigration hinein entschied sich Kerr immer wieder dafür, in Büchern festzuhalten, was durch und für den Augenblick geboren war. Er wollte sich eingereiht wissen in die Reihe der großen, zu rühmenden Autoren deutscher Sprache. Gelungen ist ihm das nicht. In unserem Jahrzehnt ist eine auf mehrere Bände angelegte Ausgabe der Werke mit kritischen Anmerkungen erschienen. Aber ein erneuter Durchbruch ist Alfred Kerr und seiner meisterlichen Prosa trotzdem nicht gelungen. Er bleibt auf seine eigene Zeit, das letzte Jahrzehnt des 19. und die ersten drei, vier Jahrzehnte dieses Jahrhunderts bezogen, geradezu eingegrenzt. Ein Großer in dieser Zeit. Sein Fortwirken ist heute eher ein literarhistorisches, aber wir sollten uns mit seiner zeitgeschichtlichen Größe aus vielerlei Gründen, nicht zuletzt ob seiner Sprachkunst beschäftigen und diese genießen.

Werke: Die Welt im Drama. Kritiken, 5 Bde., Berlin 1917. – Die Welt im Licht. Reisefeuilletons, 2 Bde., Berlin 1920. – Melodien, Gedichte, Paris 1938. – Sätze meines Lebens. Über Reisen, Kunst und Politik, hrsg. v. Helga Bemann, Berlin 1970. – Theaterkritiken, hrsg. v. Jürgen Behrens, Stuttgart 1971.

Lit.: Alfred Kantorowicz: Alfred Kerr zum 80. Geburtstag, in ders.: Deutsche Schicksale. Neue Porträts, Berlin 1949. – Alfred Kantorowicz: Alfred Kerrs literarischer Nachlaß, in: Weimarer Beiträge 17 (1962). – Walther Huder: Alfred Kerr. Ein deutscher Kritiker im Exil, in: Sinn und Form 18 (1966). – Hubertus Schneider: Alfred Kerr als Theaterkritiker, 2 Bde., Bonn 1984.

Nachlaß: Akademie der Künste zu Berlin.

Bild: Süddeutscher Verlag München.

 

Herbert Hupka