Biographie

Kittel, Gerhard

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Theologe
* 23. September 1888 in Breslau
† 11. Juli 1948 in Tübingen

Gerhard Kittel wurde in Breslau als Sohn eines in der alttestamentlichen Wissenschaft hoch geehrten Vaters geboren. Rudolf Kittel (1853-1929) war 1888 als Professor an die Universität Breslau berufen worden, die er 1898 verließ, um einem Ruf nach Leipzig zu folgen. 1909 erschien die erste Auflage seiner „Biblia Hebraica“, der heute in der ganzen Welt benutzten wissenschaftlichen Standardausgabe des hebräischen Alten Testaments. Gerhard Kittel besuchte das Gymnasium in Leipzig, studierte in Leipzig, Tübingen und Berlin Orientalistik und Theologie, legte 1912 die Erste Theologische Prüfung in Leipzig ab und wurde 1913 mit einer Dissertation über „Die Oden Salomos, überarbeitet oder einheitlich?“ in Kiel promoviert. Die Habilitation erfolgte bereits wenige Wochen später. Während des Ersten Weltkrieges tat Kittel als Marinefeldgeistlicher in Cuxhaven Dienst. 1919 konnte er sich nach Leipzig umhabilitieren und eine Dozentur an der dortigen Universität wahrnehmen, die ihn am 1.4.1921 zum außerdordentlichen Professor berief. Noch im gleichen Jahr erfolgte der Ruf in das neutestamentliche Ordinariat der Universität Greifswald. Am 30.7.1926 wurde er dann schließlich – übrigens vor Rudolf Bultmann – nach Tübingen berufen. Damit hatte er die Wirkungsstätte gefunden, der er bis zu seinem Tode verbunden bleiben sollte. Durch seine Studien zur religiösen Umwelt des Neuen Testaments, insbesondere zum „palästinensischen Judentum“, erwarb sich Gerhard Kittel bereits frühzeitig einen bedeutenden Namen. Schon 1927 war er von Julius Kögel aufgefordert worden, das von Hermann Cremer begründete „Biblisch-theologische Wörterbuch der neutestamentlichen Gräcität“, das erstmals 1867 erschienen war, in neuer Bearbeitung vorzulegen. Kittel verschloß sich diesem Auftrag nicht und rief das „Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament“ ins Leben, in dem „alle Vokabeln des Neuen Testaments behandelt werden, denen irgendeine religiöse und theologische Bestimmung anhaftet“. Der „Kittel“ bzw. das ThWB ist zur „Summe“ der neutestamentlichen Wissenschaft des 20. Jhs. geworden. Der erste Band erschien 1933, der letzte und zehnte Band konnte 1979 von G. Friedrich vorgelegt werden. Auch wenn sich inzwischen neue Problemstellungen in der neutestamentlichen Wissenschaft ergeben haben, bietet die unerschöpfliche Fülle der exegetischen Beobachtungen, historischen Nachweise und Quellenbelege, die das ThWB auf seinen 9770 großformatigen Seiten versammelt hat, einen monumentalen Eindruck von der Leistungskraft der „zahlreichen Fachgenossen“, die zunächst Kittel und dann Friedrich zu präziser Gemeinschaftsarbeit zu verpflichten wußten. In der Darbietung des Materials wird das ThWB noch lange unersetzlich bleiben!

Wer Gerhard Kittels und seiner Bedeutung für die neutestamentliche Wissenschaft gedenkt, wird nun aber auch nicht verschweigen dürfen, welche Schatten seit 1933 auf diese Gelehrtenbiographie fielen. Als Historiker und Theologe hatte Kittel schon 1926 geäußert: „Wo Judentum Judentum bleiben will, da kann es nicht anders als dem Anspruch Jesu den Kampf ansagen. Wo aber Jesu exousia (= Macht) als Wirklichkeit und Wahrheit anerkannt ist, da hat das Judentum sein Ende gefunden.“ (Probleme d. palästinens. Spätjudentums, S. 140) Dieser theologische Ansatz und die Überzeugung, daß der nationalsozialistische Staat die „Überwindung des Freidenkertums und der atheistischen Zersetzung des Volkslebens“ bringen müßte (vgl. Verteidigung, S. 11), führten den Theologen im Mai 1933 zum Eintritt in die NSDAP und zum Anschluß an die Deutschen Christen, die er allerdings noch im gleichen Jahr wieder verließ. 1936 wurde Kittel Mitglied des Sachverständigen-Beirates der Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands. An den „Forschungen zur Judenfrage“ hat er sich regelmäßig und mit teilweise umfangreichen Beiträgen beteiligt. Es schmerzt noch heute, seine gehaltvollen und streng sachbezogenen Untersuchungen in dieser wüsten Umgebung zu erblicken. Als Theologe war Kittel zutiefst davon überzeugt, daß den Juden im christlichen Staat, als den er das Dritte Reich mißverstand, nur eine „gottgewollte Fremdlingsschaft“ zukomme. Ein Radauantisemit war er niemals, gegen Willkür und Grausamkeit gegenüber jüdischen Mitbürgern hat er sich deutlich ausgesprochen, vielen Juden hat er persönlich geholfen und schwer daran getragen, als er erfuhr, was die Nazis unter der „Endlösung der Judenfrage“ verstanden. Noch 1938 berief ihn die internationale „Studiorum Novi Testamenti Societas“ als einzigen Deutschen in ihre Reihen. Die Theologen Barth, Bonhoeffer, Niemöller, Bultmann und v. Soden, aber auch Martin Buber und Hans Ehrenberg als Juden, haben ihm heftig widersprochen.

Nach dem Kriegsende wurde Kittel durch die französische Militärregierung in Tübingen inhaftiert und in das Internierungslager Balingen verbracht, von wo er im Oktober 1946 entlassen wurde mit der Auflage, in der Klosterbibliothek Beuron seinen Aufenthalt zu nehmen. Schon im Frühjahr 1947 wurde ihm die Fortführung der Arbeiten an seinem Lebenswerk, dem ThWB, gestattet. Im Februar 1948 durfte er nach Tübingen zurückkehren. Der württembergische Bischof Wurm hat für Kittels Position Verständnis zu wecken gesucht. Ebenfalls bereits 1947 erteilte der Vatikan dem Tübinger Gelehrten den Auftrag, das von J.-B. Frey begründete „Corpus Inscriptionum Judaicarum“ zu vollenden. Als Kittel am 11. Juli 1948 in Tübingen starb, hinterließ er der deutschen theologischen Wissenschaft und seiner Kirche nicht nur das „Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament“, sondern auch die noch heute hart umstrittene Frage, inwieweit eine christliche Theologie ohne Antijudaismus möglich ist.

Werke (Auswahl): Die Oden Salomos, überarbeitet oder einheitlich? (= BWAT 16), Leipzig 1914; Die Probleme des palästinensischen Spätjudentums und das Urchristentum (= BWANT 3/1), Stuttgart 1926; Urchristentum, Spätjudentum, Hellenismus, Stuttgart 1926; Die Religionsgeschichte und das Urchristentum, Gütersloh 1932; Die Judenfrage, Stuttgart 31934; Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, fortgeführt von G. Friedrich, 10 Bde. Stuttgart 1933/79; Meine Verteidigung. Neue erweiterte Niederschrift Nov./Dez. 1946 (im Universitätsarchiv Tübingen).

Lit.: G. Friedrich-G. Reyer, Bibliographie G. Kittel, in: Theol. Literaturzeitung 74, 1949, Sp. 171-175; R. P. Ericksen, Theologian in the Third Reich: The Case of Gerhard Kittel, in: Journal of Contemporary History 12, 1977, S. 595-622; O. Michel, Art.: G. Kittel, in: NDB 11, 1977, S. 692f.; L. Siegele-Wenschkewitz, Die Evang.-theolog. Fakultät Tübingen in den Anfangsjahren des Dritten Reichs. II. Gerhard Kittel und die Judenfrage, in: E. Jüngel (Hg.), Tübinger Theologie im 20. Jh. (= ZThK. Beiheift 4), Tübingen 1978, S. 53—80; M. Rese, Antisemitismus und neutestamentliche Forschung. Anmerkungen zu dem Thema „Gerhard Kittel und die Judenfrage“, in: Evang. Theologie 39,1979, S. 557-570; L. Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft vor der Judenfrage. Gerhard Kittels theologische Arbeit im Wandel deutscher Geschichte (= TEH 208), München 1980.