Biographie

Klein, Viktor

Herkunft: Rußland (Wolga- u. Schwarzmeer)
Beruf: Lyriker, Schriftsteller
* 29. Oktober 1909 in Warenburg bei Saratow
† 11. Oktober 1975 in Novosibirsk

Wie kein anderer russlanddeutscher Autor im 20. Jahrhundert hat Viktor Klein eine Vielzahl von Feldern geistig beackert. Er war Germanist, ein Vollblutlehrer mit einer pädagogischen Praxis von der Allgemeinschule bis zur Universität – er trat auch als Verfasser von Lehrbüchern und methodischen Anleitungen hervor, Mundartforscher, Brauchtumspfleger, Folkloresammler – er veröffentlichte zwei Anthologien von Volksliedern, Schön ist die Jugend und Unversiegbarer Born – und dazu war er auch noch ein einfühlsamer Förderer junger Talente. Viktor Heinz, Wendelin Mangold und Hildegard Wiebe verdanken ihm ihre Einführung in die russlanddeutsche Literatur. Seine menschliche Großzügigkeit gepaart mit persönlicher Bescheidenheit auch in den Zeiten seiner „Prominenz“ als „Stargermanist“ der Nowosibirsker Universität trugen ihm die Liebe und Verehrung seiner Studenten ein. Viktor Klein dürfte der einzige deutsche Germanist weltweit sein, dem seine Studenten aus eigenen Mitteln, aus eigener Initiative, ohne jedweden parteiamtlichen Segen, ein Denkmal auf dem Friedhof des Ortes seines Wirkens errichteten.

Sein dramatischer Lebensweg, gar nicht so untypisch für seine Generation, war für ihn eine lebenslange Erfahrung wie auch die schwersten Schicksalsschläge mit Hilfe der Literatur und Kunst – vor allem dem Gesang – gemildert, wenn nicht gar gemeistert werden können.

Geboren wurde er am 29. Oktober 1909 in einem der wohlhabendsten Wolgadeutschen Dörfer, in Warenburg (heute Priwalnoje), 50 km von Saratow entfernt. Seine Mutter starb schon 1919 kurz nach der Geburt ihres achten Kindes und sein Vater wurde Anfangs 1921 unter dem Verdacht, beteiligt gewesen zu sein an einer Bauernrevolte gegen die Zwangsbeschlagnahmungenund dabei auch die Pjatakow-Banden unterstürzt zu haben, erschossen.

Der 11-Jährige Vollwaise Viktor kam in ein Kinderheim nach Seelmann (Rownoje), sein älterer Bruder musste arbeitengehen, und seine sechs minderjährigen Geschwister nahmen seine Großeltern mütterlicherseits zu sich. In Seelmann besuchte er das pädagogische Technikum bis 1923, als es nach Marxstadt verlegt wurde. Da er auch hier als Waise im Internat wohnen musste und auf ein Stipendium angewiesen war, wurde seine Akte besonders gründlich geprüft. Seine Herkunft als Kaufmannssohn, in ersten proletarischen Staat der Welt, der fast ausschließlich Arbeiter- und Bauernkinder förderte, sollte ihm beinahe zum Verhängnis werden und die Weiterbildung kosten, wenn nicht der Komsomolsekretär (der Leiter der Staatsjugend der Schule), der im Kaufladen von Viktors Vater gearbeitet und dessen Kollegialität und Hilfsbereitschaft kennengelernt hatte, für ihn eingesprungen wäre. Auch der Leiter der Lehranstalt sowie die übrigen Pädagogen legten ein gutes Wort für den begabten Waisenknaben ein und ermöglichten ihm somit einen Abschluss – als einer der besten übrigens.

Es folgte eine dreijährige Lehrertätigkeit, der dann von 1933 bis 1937 ein Studium der Germanistik an dem Deutschen Pädagogischen Institut in Engels – der Hauptstadt der Wolgadeutschen Republik – sich anschloss. Danach war er am selben Institut vier Jahre lang Dozent bis zur Auflösung der Wolgadeutschen Republik durch Stalins Erlass von 28. August 1941 nach dem Überfall Hitlerdeutschlands und seiner Verbündeten auf die Sowjetunion.

In dem Erlass vom August 1941 wurden alle Deutschen als Spione und Diversanten gebrandmarkt. Dies führte dann zu ihrer Verbannung nach Sibirien und Zentralasien in weiter Streuung. Viktor Klein war schon davor wieder unter Verdacht geraten und wurde beim örtlichen Büro des Geheimdienstes vorgeladen. Inzwischen hatte er 1933 eine Wolgadeutsche Vorzeigekonsomolzin (Jungkommunistin) – Lydia Schmidt – geheiratet, deren Schwiegermutter ihm nun zusätzliche Schwierigkeiten bereitete mit den Vorwürfen, er gefährde auch seine Frau und seine Familie.

Durch die Verbannung nach Kansk in Sibirien entging Viktor Klein wahrscheinlich dem Gefängnis, kam dafür aber nun ins Arbeitslager. Er durchlief verschiedene Stationen bis er 1943 in Nyrob landete, wo er bis 1949 festgehalten wurde.Viktor Klein kam ins westsibirische Kansk zu seiner Familie. Hier erwartete ihn die Schreckensnachricht, dass sein Bruder Georg im Arbeitslager hingerichtet worden war und der Mann seiner Schwester Irma einer Explosion in der Kohlengrube zum Opfer gefallen war.

In Kansk, wo er nach einiger Zeit als Arbeiter auch wieder unterrichten konnte, schlug er sich mühsam bis 1960durch, als es ihm nach vielen Bittgängen und Erniedrigungen gelang, an die Pädagogische Hochschule Nowosibirsk zu kommen. Hier in der Hauptstadt Westsibiriens selbst sowie in deren unmittelbarer Umgebung waren mehrere Hunderttausend zwangsumgesiedelte Russlanddeutsche sesshaft geworden.

An der Pädagogischen Hochschule, in den letzten 15 Jahren seines knapp 66 Jahre währenden Lebens, begann nunseine fruchtbarste Zeit. Er überlebte sogar einen Herzinfarkt – als unermüdlicher Arbeiter rackerte er häufig 12-14 Stunden täglich – bis ihm dann ein unheilbarer Darmkrebs – eine Folge seiner grausamenHungerzeit im Arbeitslager – ein schlimmes Ende bereitete, dem er nach so viel erlebten Leid doch mannhaft begegnete, indem er bis zum Schluss unermüdlich weiter schrieb.

Seine Schreibweise war wie bei den meisten russlanddeutschen Autoren eine realistische, das heißt, er versuchte die „Wirklichkeit“ seiner Volksgruppe, ihre Probleme innerhalb der allgemeinen gesellschaftlichen Situation zu schildern. Dabei kam natürlich dem Bewahren der Muttersprache als einem Identität stiftenden Hauptmerkmal jeder Minderheit eine besondere Bedeutung zu. Hier verband Viktor Klein auch seinen Beruf – Deutschlehrer – mit seiner Berufung – „Dichter und Denker“ in deutscher Sprache. Aus diesem Grunde durchflutet auch eine grenzenlose Liebe zur deutschen Sprache, Literatur und Kultur sein gesamtes Schaffen.

In dem lyrischen Poem Jungengespräch findet ein Gespräch zwischen den 60-jährigen Dichter Viktor Klein, also im Jahre 1969, und einem 4-jährigen Wolgadeutschen Jungen in deutscher Sprache statt nach all den Jahren der Verbannung und dem anschließenden Zwangsaufenthalt in den Deportationsgebieten von 1941 bis 1963. Viktor Klein erzählt ihm mit leuchtenden Augen aus seiner Kindheit in der Wolgadeutschen Republik. Dies wird nicht direkt angesprochen, sondern umschrieben als eine Kindheit inmitten der Natur, die aber für einen wolgadeutschen Autor jener Jahrgänge nur in seiner Wolgadeutschen Republik stattfinden konnte, wo er seine Muttersprache Deutsch im Alltag gebrauchen dürfte. Erfreut stellt Viktor Klein fest, dass dieser Junge wieder in seiner Sprache denkt, was auf eine gerechte Lösung der Problematik der Wolgadeutschen hoffen lässt.

Seine Naturgedichte besingen traditionell in der Art des poetischen Realismus seine Wolgadeutsche Heimat, meist in gebundener Form. Er hat sogar einen Roman in Versen Der befreite Steppenbauer verfasst. Auch in seiner Prosa benutzt Viktor Klein die „realistische“ Schreibweise. Die Wolgadeutschen, wie auch die Russlanddeutschen allgemein mit Ausnahme der Baltendeutschen, die auch modernere Schreibweisen kannten und pflegten, empfanden das realistische Erzählen als das ihnen zusagende Ausdrucksmittel. Wegen „Formalismus“, was die Gralshüter des Sozialistischen Realismus den moderner sich andrückenden, form-experimentierenden Autoren als ideologisches Fehlverhalten ankreideten, hatten sie nichts zu befürchten. Zu jenen Zeiten kam ihnen so etwas gar nicht in den Sinn. Erst nach Chrustschows zaghafter Entstalinisierung nach dem 20. Parteitag 1956 versuchte die junge Generation russlanddeutscher Autoren wie Viktor Heinz, Robert Weber, Viktor Schnittke (der Bruder des berühmten Komponisten Alfred Schnittke) auch eine modernere lyrische Metaphorik. Viktor Kleins Prosa ist somit „naturgemäß“ auch realistisch. Sogar real sozialistisch in dem Roman Ablösung vor, wo er seinen Ergebenheitstribut an die Gewaltkollektivierung entrichtet.

Seine anderen Erzählungen sind weniger Ergebenheitsadressen als vielmehr eine im Großen und Ganzen doch differenzierte Schilderung des Einbruchs der neuen Zeit mit ihrer Aufbruchsstimmung in die Wolgadeutsche Provinz. Die markig knorrigen Titel künden dies schon an Wenn‘s gilt, Mark in den Knochen,Immer in der Furche, Die erkämpfte Scholle. Letzteres Werk, 1971 in Moskau erschienen, zählt zu Viktor Klein besten Prosaarbeiten. Die Handlung spielt in Warenburg, seinem Heimatdorf, das er wie seine Westentasche kannte: Lenins Dekret über die Bodenreform vom 28. Oktober 1917 erreicht die wolgadeutschen Gebiete und wird in Warenburg auch in deutscher Sprache ausgehängt. Vor diesem deutschsprachigen Erlass stehend, der auch ihm Boden zuspricht,wird dem wolgadeutschen Haupthelden, dem Bauern Johann Karl Konstanz, genannt Hankarl, „ganz warm ums Herz“. „Ihm schien, daß er erst jetzt die ganze Tragweite das großartigen Gesetzes begriffen hatte, erst jetzt, nachdem er es in seiner Muttersprache gelesen, hatte. Ein eigenartiges Dankbarkeitsgefühl dem Mann gegenüber, der das Gesetz erlassen hatte und auch Sorge darum getragen, daß es in Hankarls Muttersprache erschienen war, weitete seine Brust.“

Hier gestaltet Viktor Klein in Prosa seine Hauptthematik, Gleichberechtigung der Russlanddeutschen, die er ideal gelöst sehen wollte in der von Lenin nun in Angriff genommenen Verwirklichung der sozialistischen Utopie. Deren Scheitern im Stalinismus gestaltete er dann in seiner vielleicht reifsten ProsaarbeitDer letzte Grabhügel. Diese Prosa konnte zu Viktor Kleins Lebzeiten nicht in der Sowjetunion erscheinen. Es ist überhaupt nur eine Verkettung glücklicher Umstände zu verdanken, dass sie nicht auch mit seinen letzten Romanmanuskripten von seiner durch die Verhöre der Geheimpolizei zermürbten Frau verbrannt wurde.Nur durch einen glücklichen Zufall gelingt es Viktor Kleins Schwester, Minna Henning, ein Fragment davon zu retten. Es ist vielleicht Viktor Kleins reinste Prosa. Dabei ist sie keineswegs „schwarzmalerisch“, eine gnadenlose Abrechnung mit den stalinistischen Grausamkeiten, sondern trotz aller erduldeten Ungerechtigkeiten ein Plädoyer für eine neue gerechtere, menschlichere Behandlung der Russlanddeutschen.

Viktor Klein schildert wie Wolgadeutsche Kolchosbauern – deren Kolchos immer vorbildlich war – durch das stalinsche Deportationsdekret vom 28. August 1941 gezwungen werden, sich innerhalb einer knapp bemessenen Frist auf den Weg in die Verbannung zu machen. Die Großfamilie Kinzel muss dabei den schwerkranken Großvater und dessen hochschwangere Schwiegertochter Grete betreuen. Auf dem Weg zur Bahnstation beim Verlassen der Dorfgemarkung, der Dorfgrenze, kommt die Schwiegertochter nieder und gebiert unter einem Wagen des Verbannungstrecks einen Sohn, während der alte Großvater Kinzel die Aufregung nicht überlebt. Dem Jungen wird symbolisch der Namen des Großvaters, Andreas, gegeben. Andreas – griechisch der Tapfere – war übrigens ein Lieblingsname für „positive Helden“ in allen Ostblockländern. Fast übermenschlich optimistisch endet auch diese offene Abrechnung – allerdings in der Sprache ihrer Zeit – mit dem Stalinismus. Als letzter Grabhügel bleibt die Beerdigungsstätte des alten Andreas Kinzel zurück. In Sichtweite des von seinen Ahnen vor 200 Jahren gegründeten Dorfes an der Wolga.

Viktor Kleins Credo, Russlanddeutsche sind trotz aller Schicksalsschläge nicht unterzukriegen und bewahren für alle Zeiten, auch in den schlimmsten, die Heimatliebe tief im Herzen, hat sicherlich auch zu seiner bis heute andauernden Beliebtheit bei allen seinen Landsleuten beigetragen.

Bild: Historischer Forschungsverein der Deutschen aus Russland.