Biographie

Kleist-Retzow, Hans Hugo von

Herkunft: Pommern
Beruf: Parlamentarier
* 25. November 1814 in Kiekow, Kr. Belgard
† 20. Mai 1892 in Kiekow

Hugo von Kleist-Retzow war nach dem Urteil von Hans JoachimSchoeps „bei aller Starrheit der Typ des fromm evangelischen altpreußischen Junkers, aktiv in Staat und Kirche bis zum ,letzten Lebenstag‘“. Sein Biograph Herman von Petersdorff sagt von ihm, daß er „zwar ein parteipolitisch außerordentlich befangener, nur äußerst schwer in neue politische Lagen sich schickender Mann gewesen sei, „aber doch eine Persönlichkeit von höchster Lauterkeit und großartiger Selbstlosigkeit, ein glühender Patriot „und ein tief innerlicher Christ, ein Mensch ohne allen Falsch …und von einer Zuverlässigkeit, auf die Felsen getürmt werden konnten“. Sein Kampf gegen den Liberalismus und die fortschreitende Säkularisierung auch in Preußen speiste sich aus reinen Quellen, aber er war vergebens, mußte es sein.

Hans von Kleist-Retzow, dessen Vater Hans Jürgen von Kleist seinem Namen 1839 mit königlicher Genehmigung den der mit ihm verwandten ausgestorbenen Adelsfamilie von Retzow beigefügt hatte, wurzelte wie Bismarcks Gattin Johanna, geborene von Puttkamer, mit der er verwandt war, im pommerschen Pietismus. Er hatte nach einem außerordentlich erfolgreichen Besuch des Gymnasiums Schulpforta bei Naumburg (Primus Portensis 1834) in Berlin und Göttingen die Rechte studiert, war seit Frühjahr 1841 Referendar in Frankfurt a.O., 1844 als Nachfolger seines Vaters Landrat seines Heimatkreises Belgard geworden und 1848 an die Spitze der sich im August in Berlin bildenden Junkerpartei, des „Junkerparlaments", getreten sowie zuvor schon unter den Begründern der Neuen Preußischen Zeitung („Kreuzzeitung") gewesen. Somit in Verbindung mit der „Kamarilla" um König Friedrich Wilhelm IV., hatte er 1849 bis 1852 dem preußischen Abgeordnetenhaus (und 1850 auch dem Staatenhaus in Erfurt) angehört und hier nicht zuletzt dank seiner rednerischen Begabung als Wortführer der Konservativen gewirkt.

Ganz im Dienste der politischen Restauration stand die Ernennung des erst 37jährigen Kleist-Retzow zum Oberpräsidenten der Rheinprovinz (1851), an der der preußische Hausminister Graf Anton Stolberg-Wernigerode, dessen Tochter er kurz zuvor geheiratet hatte, wesentlichen Anteil gehabt zu haben scheint. Aber gerade wegen der ihr zugrundeliegenden Motive erwies sich diese Berufung, ungeachtet der fachlichen Leistungen Kleists, als ausgesprochen unglücklich. Denn in der weichen Luft des Rheinlandes mußte dessen Antiliberalismus, den er in einer dem Amte nicht angemessenen Unnachgiebigkeit vertrat, befremden. Er geriet auch in Gegensatz zum Hofe Wilhelms, des Prinzen von Preußen, der in jenen Jahren als Generalgouverneur der Rheinprovinz im ehemaligen kurfürstlich trierschen Schloß zu Koblenz residierte, das auch der Dienstort des Oberpräsidenten war. Der an sich konservative Prinz, der spätere Kaiser Wilhelm I., war unter dem Einfluß seiner Gattin Augusta, einer Enkelin des weimarischen Großherzogs Carl August, vom rheinischen Liberalismus berührt worden, worin nicht zuletzt der Grund dafür zu suchen war, daß ihm die Umgebung des Königs den konservativen Kleist-Retzow ins Haus gesetzt hatte. 1858 Prinzregent geworden, entfernte Wilhelm diesen von seinem Posten und machte ihn, wohl um ihn für das verlorene Amt zu entschädigen, zum Mitglied des preußischen Herrenhauses.

In den folgenden Jahren lebte Kleist-Retzow zuweilen zurückgezogen auf seinem pommerschen Gut Kiekow, wo er in vielem wohltätig wirkte, und wurde erst in der Zeit des Heeres- und Verfassungskonfliktes wieder politisch wirksam, den der mit ihm innig befreundete Ministerpräsident Otto von Bismarck (mit dem er 1849 bis 1851 sogar eine Wohnung geteilt hatte) mit dem preußischen Abgeordnetenhaus ausfocht. Kleist mißfiel wie Ernst Ludwig von Gerlach die scheinbar grundsatzlose Machtpolitik Bismarcks; jedoch trat er im Gegensatz zu Gerlach im Konflikt mit Österreich auf die Seite seines großen Freundes. Sodann versuchte er aber, die Indemnitätsvorlage, mit der nach Bismarcks großen Erfolgen im Sommer 1866 dessen jahrelanges Regieren ohne Etat nachträglich gebilligt werden sollte, zum Scheitern zu bringen, da die Versöhnung des preußischen Ministerpräsidenten mit den Liberalen, die manifest werden sollte, seinen politischen Überzeugungen widerstrebte. Schließlich stimmte er aber selbst dafür.

Noch im Jahre 1866 trat Kleist-Retzow an die Spitze der Konservativen Partei, aus der die Parteigänger Bismarcks austraten und die Freikonservative Partei gründeten. Zum Bruch mit Bismarck (und zum Ende der Freundschaft zwischen beiden Männern) kam es, als der nunmehrige Reichskanzler im Bunde mit den Liberalen den Kulturkampf begann. Wo es Bismarck um die Vernichtung des politischen Katholizismus ging, sah Kleist-Retzow die Christlichkeit seines alten Freundes (zu deren Entwicklung er selbst einst nicht wenig beigetragen hatte) in Frage gestellt. In der Debatte des Herrenhauses über das preußische Schulaufsichtsgesetz im Frühjahr 1872 führte Kleist die evangelische Opposition im Zeichen eines Kampfes gegen eine Entchristlichung des Staates an. Er warf Bismarck, wie er in einem Brief an einen Freund schrieb, vor, den Liberalismus im Staate immer weiter vordringen zu lassen. Der Kanzler hingegen, der von der historischen Unvermeidlichkeit dieses Vorgangs überzeugt war, äußerte über Kleist: „Das ist ein beschränkter Idealist, aber ich verkenne wenigstens seine redliche Überzeugung nicht."

Besonders seit die Deutsch-Konservativen 1876 ihren Frieden mit Bismarck gemacht hatten, isolierte sich Kleist auch im eigenen Lager; seit 1877 im Reichstag (Wahlkreis Herford-Halle), trat er an die Spitze des äußersten rechten Flügels der Fraktion der Konservativen. Seine Wirksamkeit gehörte hier vor allem der Sozialpolitik. Sein Mandat verdankte er seiner Tätigkeit in der evangelischen Generalsynode, in der er seit 1875 als Führer der streng Konfessionellen hervorgetreten war, was aber nicht ausschloß, daß er eine Kampfgemeinschaft mit dem Zentrum für eine kirchliche Politik befürwortete. Er ist noch 1891 einer der Haupturheber des vom preußischen Kultusminister Graf Zedlitz vorgelegten konfessionell gerichteteten Volksschulgesetzentwurfes gewesen, der dann dadurch gescheitert ist, daß Kaiser Wilhelm II. den sich in der Öffentlichkeit gegen ihn erhebenden Protesten nachgegeben hat. Kleist-Retzows Verhältnis zu Bismarck hat sich trotz Gemeinsamkeit in der Sozialistenbekämpfung (Sozialistengesetz 1878-1890) und ungeachtet einer äußerlichen Versöhnung nie wieder wirklich herstellen lassen; den alternden Kanzler ärgerte Kleists Eintreten für den politisierenden Hofprediger Stöcker, und er fürchtete, daß der alte Freund in der ihm eigenen Energie einen politischen Protestantismus auf die Beine bringen könnte, der ihm ebenso zuwider sein mußte wie der katholische. Als Hans von Kleist-Retzow gestorben war, fanden sich in dem politisch-satirischen Wochenblatt „Kladderadatsch" folgende Verse:

Ein Junker von echtem Schrot und Korn,
keine Schlingpflanze, sondern ein Dorn.
Er war von alter Art,
die mit der Zeit recht selten ward.
Er ging nicht um den Brei herum,
er sah sich nicht nach Gönnern um,
sprach allzeit freudig von der Leber,
was er auch war, er war kein Streber.

Lit.: Herman von Petersdorff: Kleist-Retzow. Ein Lebensbild. Stuttgart und Berlin 1907. – Ders.: Kleist-Retzow. In: Deutscher Aufstieg, hrsg. von Hans von Arnim und Georg von Below. Berlin, Leipzig, Wien und Bern 1925, S. 123-134. – Ders. (Hrsg.): Bismarcks Briefwechsel mit Kleist-Retzow. Stuttgart und Berlin 1919. – Günter Richter: Hans von Kleist-Retzow. In: Neue Deutsche Biographie 12 (1980), S. 28-29.

Bild: Bildarchiv Stiftung Preußischer Kulturbesitz.