Biographie

Kraus, Christian Jakob

Herkunft: Ostpreußen
Beruf: Philosoph
* 27. Juli 1753 in Osterode, Kr. Mohrungen/Ostpr.
† 1. Januar 1807 in Königsberg i.Pr.

Christian Jakob Kraus nahm im Oktober 1770 sein Studium an der Universität Königsberg auf, deren Mitglied er offiziell, zunächst als Student, dann als Professor seither war. Als Neffe von Pastor Buchholz, dem Beichtvater Hamanns, geriet Kraus rasch in das Zentrum der Königsberger Gesellschaft. Hamann attestierte dem jungen Kraus um 1775, er sei „ein großes Genie, philosophisch und mathematisch […]. Er ist der erste Lehrmeister meines Buben und seines Vaters“. Gleichwohl, schon ein Jahr später, im August 1776, konstatierte er Kraus’ Unfähigkeit, mit seinen Arbeiten zu Ende zu kommen. Es ist nicht ohne Pikanterie, daß der Magus des Nordens bei Kraus eine gewisse Unordnung und Desorganisation bemängelte. Hamann soll daraufhin versucht haben, die Manuskripte Krausens in Augenschein zu nehmen, woraufhin er mit einiger Verwunderung feststellte, daß kaum etwas nennenswertes vorlag.

An Kant hatte sich Kraus nur mit großem Zögern gewandt. Er hörte zwar von Beginn seiner Studienzeit an Kants Vorlesungen, wagte aber nicht, den persönlichen Umgang mit ihm zu suchen. Um der Peinlichkeit zu entgehen, wurde er Mitglied in Kants Disputatorium und machte durch seine Einlassungen auf den Philosophen einen tiefgehenden Eindruck, so daß es an Kant war, ihn anzusprechen und in seinen engeren Freundeskreis zu ziehen. 1774 wandte sich Kraus eigenen Studien zu, die ihn einerseits zu einer Konzentration auf englische Literatur (Butler, Sternes ,Tristram Shandy‘, „der meine Laune und meinen Witz ausbildet“) und andererseits auf die Mathematik brachten.

Rousseau, Voltaire und Hume fügen sich in diesen Kanon ein. Man kann aber davon ausgehen, daß er Kant, dem er in seiner ‚glänzendsten Periode‘ begegnete, in der Wendung zur kritischen Philosophie nicht ohne weiteres Folge leistete. Er verdankte Kant indessen wichtige Impulse für seinen eigenen Lebensweg. 1773 starb sein Onkel; Kraus war damit weitgehend mittellos geworden. Es war Kant, der ihn einem jungen Baron als Studienrepetenten empfahl; eine Anstellung, aus der Kraus in den folgenden Jahren seinen Lebensunterhalt einigermaßen bequem bestreiten konnte.

Eine Zeit lang, in den 1780er Jahren, unterhielten Kant und Kraus gemeinsam einen Tisch. Kant achtete, etwa nach dem Urteil Jachmanns, des Amanuensis Kants in jener Zeit, Kraus besonders hoch. „Er sprach fast täglich von ihm in den Ausdrücken einer wahrhaften Verehrung und versicherte, daß er die Gelehrsamkeit und den Eifer des großen Mannes für das allgemeine Beste ebenso sehr bewunderte, als er dessen Charakter und Herz schätze und liebe“.

Philosophisch neigte Kraus in den Jahren seiner kollegialen Freundschaft mit Kant stark der praktischen Philosophie zu. Er, der sich selbst nahezu ausschließlich als philosophischer Lehrer definierte, rühmte Kant als den „größten Lehrer seiner Zeit“, und war gleichwohl der Auffassung, daß die Kantische Philosophie nur metaphysische Spekulation sei, „die sozusagen über dem Leben schwebt und das Leben nur aus spekulativem Interesse betrachtet“. Er selbst wandte sich zunehmend allen Zweigen praktischer Philosophie zu, auch der Ökonomie und Rechtslehre, und – folgerichtig – der angewandten Mathematik.

Gleichwohl kam es zum tiefgreifenden Zerwürfnis zwischen Kant und Kraus. Es mochte sich in den späten 1780er Jahren abgezeichnet haben, als Kant auch Kraus in seine Tendenz einbezog, die Verteidigung seiner Philosophie ganz seinen Schülern und Freunden zu übertragen. Kraus verfaßte vor allem eine Rezension der ,Eleutheriologie oder über Freiheit und Notwendigkeit‘ des Johann August Heinrich Ulrich. Dabei wurde er von Kant mit unpublizierten Manuskripten unterstützt. Hatte Ulrich dazu tendiert, eine Wechselseitigkeit von Freiheit und Notwendigkeit zu konstatieren, so fand eben dies Kraus’ Kritik. Er bemängelte, daß Ulrich nicht in der Lage sei zu zeigen, wie Freiheit und Notwendigkeit ineinander griffen. Ulrichs Einwände gegen Kant sind Kraus zufolge auf die irrige Prämisse zurückzuführen, daß Freiheit wirklich und erkennbar sei. Schließlich wurde Kraus mit der Rezension des dritten Teils der Herderschen ‚Ideen‘ beauftragt, eine Arbeit, die er nicht mehr abschloß. Die Gründe dafür wird man in einer Selbstbesinnung zu suchen haben, zu der Kraus durch den Tod seines frühen Mentors Hamann gelangte. Auch die Herder-Rezension hatte sich zunehmend aus dem Kantischen in einen anderen Horizont verlagert: das Wetteifern mit dem kritisierten Herder um Hamanns Beifall. Kraus gestand sich dabei ein, daß „alles Metaphysische meiner Natur zuwider“ ist. Es sei vergebens, ihn dazu zu zwingen. Er suchte nach einem Pantheismus „als Phänomen oder Naturprodukt des menschlichen Geistes“, was offensichtlich mit der Kantischen Begründung der Moralmetaphysik nicht in Übereinstimmung zu bringen war.

Das Zerwürfnis gab schon den Zeitgenossen Rätsel auf: zumal Kraus’ und Kants Gemeinschaft sehr eng gewesen war. Es gibt Berichte über Kants diätische Ratschläge an den, ähnlich wie er selbst, deutlich zu Hypochondrie neigenden Freund. Und Kant beschenkte Kraus mit einem Brillantring als ‚Pretium affectionis‘, Symbol, daß sie beide künftig für einander leben sollten. Kraus löste die Gemeinschaft stillschweigend auf. Er ließ Kants Diener Lampe bestellen, er möchte in Zukunft nicht mehr zu Kants Tisch eingeladen werden. Zu einer offenen Aussprache über die Misshelligkeiten scheint es niemals gekommen zu sein. Sie wünschten auf Tischgesellschaften, auf die sie gemeinsam geladen worden waren, nebeneinander zu sitzen, mieden aber ansonsten jeden näheren Umgang. Eine offene Aussprache mit Kant scheint Kraus nie gesucht zu haben.

Am 27.7.1753 war Kraus in Osterode/Kreis Mohrungen in Ostpreußen geboren worden, Sohn eines Chirurgus und einer Bürgermeistertochter aus der bedeutenden Familie Buchholz. In seiner Kindheit und Jugend scheint er von sehr fragiler Gesundheit gewesen zu sein, im äußeren physischen Habitus kam er, wie später vielfach bemerkt wurde, seinem Freund Kant nahe. Obgleich Kraus keine nennenswerten Publikationen vorzuweisen hatte, wurde er 1781 durch Fürsprache Kants und mit Förderung von Zedlitz, auf den er während eines längeren Berlin-Aufenthaltes offensichtlich einen vorteilhaften Eindruck gemacht hatte, Professor für Praktische Philosophie an der Königsberger Universität und damit der engste Fachkollege Kants. Es ist bemerkenswert, daß er sich in seinem ersten Privatissimum Homer und Platon widmete.

Kraus wandte sich eingehenden Forschungen über Zigeuner zu, nachdem seine erste abgeschlossene Schrift der kriminalistischen Rekonstruktion des Lebens eines seinerzeit bekannten Hochstaplers gegolten hatte. Kraus suchte eine Gruppe von preußischen und litauischen Zigeunern auf, die im Königsberger Gefängnis interniert waren, wobei er seine Faszination an dem Untersuchungsgegenstand selbst so begründete: „Drey Dinge sind mir an den Zigeunern interessant; ihre originale Sprache, ihr uneuropäischer Körper und ihr unbürgerlicher Charakter“. Das Studium der Zigeuner begriff Kraus aber als Teil der letztlich unerschöpflichen Erforschung der menschlichen Natur. Kraus befragte die Zigeuner eingehend selbst, wobei er nicht nur Vorurteile der Anthropologie seiner Zeit korrigieren konnte, etwa daß die Hautfarbe abfärbe; vielmehr beschäftigte ihn, weshalb eine Ethnie, die seit dem 15. Jahrhundert in Europa lebt, nicht selbst seßhaft wurde. Heute wird davon ausgegangen, daß Kraus’ Studien die genuine Grundlage der Zigeunerforschung legte, die mit einem Aufsatz von Biester (‚Über die Zigeuner, besonders im Königreich Preußen’, Berlinische Montasschrift 1793) und mit Potts magistralem Werk über die Zigeunersprache datiert wird.

Seit den späten 1780er und vermehrt in den 1790er Jahren las Kraus primär über kameralistische Gegenstände. Seine aus dem Nachlaß publizierte, fünf Bände umfassende ‚Staatswissenschaft‘ gibt zu erkennen, daß er sich Adam Smiths Ökonomik ganz zu eigen macht und Smiths’ Liberalismus auf preußische Verhältnisse anzuwenden versucht. Kraus war ein gesuchter Gutachter, der mitunter brisante Vorschläge unterbreitete. 1802 etwa votierte er für die Aufhebung der Leibeigenschaft; 1807 reflektierte er „über die Mittel, das zur Bezahlung der französischen Kriegsschuld erforderliche Geld aufzubringen“. Kraus hatte einflußreiche Schüler, darunter von Schrötter und von Schön. 1794/1795 skizzierte er Pläne zur Reform des kameralwissenschaftlichen Studiums in Königsberg, die als eine Grundlage des Stein-Hardenbergschen Reformwerks gelten. Im Jahr 1800 ordnete von Schrötter an, daß in den Verwaltungsdienst nur eingestellt werden konnte, wer den Besuch der Vorlesungen von Kraus nachweisen konnte. Zumindest in Preußen ist Kraus der erste gewesen, der die Kameralistik auf der Grundlage des Gedankengebäudes von Adam Smith vortrug. Der Göttinger Sartorius legte 1796 ein „Handbuch der Staatswirtschaft“ vor, das sich ebenfalls strikt auf Smith bezog. Kraus scheint aber zu recht der Auffassung gewesen zu sein, daß er schon seit sechs Jahren eben nach dieser Methode Collegia lese.

Kein geringerer als Herbart edierte aus dem Nachlaß Kraus’ Vorlesung über Moralphilosophie. Darin wird der Versuch deutlich, die Kantische Moralmetaphysik mit der empiristischen Ethiktradition zu verbinden. Philosophiegeschichtlich ebenso wie systematisch kann dieses Unternehmen für obsolet gelten; im Grund neigte Kraus eher zu einem radikalen Skeptizismus. Schon in früher Jugend war er von David Hume beeinflußt; 1800 legte er eine Auswahlübersetzung von Humes Essays und Schriften zur Politik vor.

Ein drittes Feld, auf dem Kraus bleibende wissenschaftliche Meriten erwarb, ist die Sprachwissenschaft. Er begründete die Lehre von der ‚inneren Sprachform‘, die Wilhelm von Humboldt entfalten sollte. Der eigenen Unfähigkeit zur schriftlichen Fixierung seiner Forschungen begegnete Kraus mit einem ungewöhnlichen pädagogischen Eros. Er wolle lieber „in Männern [fortleben], die ihm ihre Bildung verdankten,“ als „in todten Büchern“; gleichwohl wußte er, daß „alle Geschichte erst mit Schriften“ anfängt. Auch die Selbstironie war ihm nicht fremd. Eine Lebensform, die zunehmend auf ein Werk zielte, wie jene des Freundes Kant, blieb ihm letztlich fremd. Der Anekdote zufolge vermutete er, Kant schreibe so viel, „weil er Abends nicht mehr in Gesellschaft gehen möchte, und seine Gedanken doch gerne los seyn wollte“.

Unter seinen Zeitgenossen war Kraus, ungeachtet seiner publizistischen Unproduktivität, hoch geehrt: Kant bezeugte, Krausens Ingenium sei nur Kepler vergleichbar, Herbart pries ihn anläßlich der Nachlaßedition der ‚Moralphilosophie‘ – immerhin im Jahr 1812! – als einen Metaphysiker, „dem schwerlich Einer unter den jetzt lebenden Philosophen […] Tiefe des Denkens und Kenntnis der Gegenstände“ werde streitig machen wollen, und der Freiherr vom Stein bezeugte: „die ganze Provinz hat an Licht und Anbau durch ihn zugenommen, seine Belehrung drang in alle Zweige des Lebens ein […] eine geniale Persönlichkeit, die seine Umgebungen mächtig ergriff“. Neben Kant und Herbart war Kraus der dritte Philosoph, dem die Universität Königsberg im Jahr 1862 ein Portrait, unter den neun bedeutendsten Gelehrten der Geschichte der Albertina, errichten ließ. Das Echo der Nachwelt war freilich keineswegs einhellig. Adam Müller wandte sich in einem Artikel vom 12.10.1810 in den von Kleist mit herausgegebenen ‚Berliner Abendblättern‘ gegen den Dogmatismus und die Buchstabengelehrsamkeit von Kraus, eines „völlig unproduktive(n) und abhängige(n) Kopf(es)“, über dessen „fixierte(m) Adam Smith“ die junge akademische Elite „nicht das Studium ihrer lehrreichen Zeiten versäumen“ dürfe. Heute ist Kraus ein fast vergessener, einzig im Umkreis der Kant- und Königsberg-Forschung bekannter Philosoph.

Kant indes hatte Kraus ein Zeugnis ausgestellt, mit dem er sich wohl mehr als mit anderem Lob hätte einverstanden erkennen können: er sei ein „ganz einziger Mensch“.

Lit.: Christian Jakob Kraus, Staatswirtschaft. Hrsg. von H. von Auerswald, Königsberg 1808-1811. – Ders.: Vermischte Schriften. Hrsg. von H. von Auerswald, Königsberg 1809-1819. – Benny Dobbriner: Christian Jakob Kraus. Ein Beitrag zur deutschen Wirtschaftsgeschichte, Frankfurt/Main 1926. – Gottlieb Krause: Beiträge zum Leben von Christian Jakob Kraus, in: Altpreußische Monatsschrift 18 (1881), S. 53-96 und S. 193-224. – Jürgen Manthey: Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik, München/Wien 2005, S. 337ff. und 371ff. – Kurt Röttgers: Kants Kollege und seine ungeschriebene Schrift über die Zigeuner, Heidelberg 1993 (mit Edition der wichtigsten Partien des Kraus’schen Manuskriptes über die Zigeuner). – Ders.: Christian Jakob Kraus, in: D. Rauschning und D. v. Nerée (Hrsg.), Die Albertus Universität zu Königsberg und ihre Professoren (Jahrbuch der Albertus Universität zu Königsberg/Pr. 1994 (Bd. XXIX), S. 125-136. – Werner Stark: Kant und Kraus. Eine übersehene Quelle zur Königsberger Aufklärung, in: R. Brandt und W. Stark (Hrsg.): Neue Autographen und Dokumente zu Kants Leben, Schriften und Vorlesungen, Hamburg 1987, S. 165-200. – Wilhelm Treue: Adam Smith in Deutschland. Zum Problem des ‚Politischen Professors‘ zwischen 1776 und 1810 in Deutschland und Europa, in: Festschrift für Hans Rothfels, hrsg. von W. Conze, Düsseldorf 1951, S. 101-133.

Bild: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen

Harald Seubert