Biographie

Kubin, Alfred

Herkunft: Sudeten (Böhmen u. Mähren, österr. Schlesien)
Beruf: Graphiker, Illustrator
* 10. April 1877 in Leitmeritz/Böhmen
† 20. August 1959 in Zwickledt, Wernstein/Österreich

In einem selbstbiographischen Abriß (zur Mappe „Sansara“) berichtet Alfred Kubin: „Ich wurde am 10. April 1877 in Leitmeritz, einer kleinen Stadt Nordböhmens, geboren. Über die beiden ersten Jahre meiner Kindheit schweigt meine Erinnerung vollkommen. Doch ungefähr bis tief ins dritte Lebensjahr zurück mögen vage Erinnerungen an Spielzeug, grüne sonnendurchflutete Lauben und an das schmale, blasse Gesicht meiner Mutter reichen. – Meinen Vater, einen ehemaligen Jägeroffizier, der nach dem 66er Feldzug als Geometer in den Staatsdienst eintrat, traf ich zum erstenmal in Salzburg; er hatte seine junge Familie für zwei Jahre verlassen müssen, um im fernen Dalmatien seinen Dienst zu erfüllen.“

Zwischen dieser 1911 veröffentlichten Lebensbeschreibung und dem Bekenntnis des Fünfundsiebzigjährigen zu Eingang des Bändchens „Abendrot“ – „Meine Kindheit verlebte ich in den Salzburger und Pinzgauer Bergen, doch bis heute und in wachsender Sehnsucht zieht es mich nach der Landschaft der böhmischen Heimat“ – liegt ein umfangreiches Lebenswerk, das längst weltgültig geworden ist. Die väterlichen Vorfahren stammen aus Nordböhmen und Brüx, die Mutter ist eine geborene Kletzl, deren Vater k. u. k. Stabsarzt war und aus Brünn stammt. Aus Kubins autobiographischen Skizzen aus verschiedenen Jahren erfahren wir mehr als aus den nicht allzu umfangreichen und häufigen äußeren Wiederbegegnungen mit der böhmischen Heimat von seiner untergründigen, ihn immer wieder bannenden Verbundenheit mit ihr. Ein Traum, wenige Wochen vor seinem Besuch in Leitmeritz, nach vierzigjähriger Abwesenheit, bringt ihm mit der frohen Kindheit ein Schützenfest auf der Elbinsel ins Bewußtsein zurück. Und als er dann dorthin wirklich kommt, ist er erstaunt, „mit welcher fast photographischen Schärfe die Bilder des Lebens im Unbewußten bewahrt werden“. Im Traum war ihm freilich entsprechend den anderen Größenordnungen der kindlichen Vorstellungswelt alles größer vorgekommen.

Von 1880-1884 lebte Kubin in Salzburg, ab 1885 in Zell am See. 1891-1892 besuchte er die Kunstgewerbeschule in Salzburg. Danach war er bis 1896 bei einem Onkel in Klagenfurt in Fotografenlehre. Nach kurzem Wehrdienst 1897 und Nervenkrisen, darunter einem im Jahr davor erfolgten Selbstmordversuch am Grab seiner Mutter, begann Kubin seine künstlerische Ausbildung, zunächst von 1898-1901, in der privaten Kunstschule Schmidt-Reutte und in der Klasse Gysis an der Kunstakademie in München. Erste Erfolge brachten 1902 eine Ausstellung bei Bruno Cassierer in Berlin und die Veröffentlichung von Zeichnungen bei Hans von Weber in München mit fantastischen Darstellungen, die als sogenannte „Weber-Mappe“ die Berühmtheit, ja Weltberühmtheit des Künstlers begründeten. Nach der Heirat mit Hedwig Gründler, geb. Schmitz, 1904 (t 1948), erwarb Alfred Kubin das Barockschlößchen Zwickledt bei Wernstein am Inn, oberhalb von Passau in Oberösterreich, in dem er bis zu seinem Tode lebte. Beim ersten Aufenthalt in Paris 1906 kam er mit Odilon Redon zusammen. 1909 trat er der „Neuen Künstlervereinigung München“ bei, 1912 wurde er Mitglied des „Blauen Reiters“. Außer einer weiteren Reise nach Paris, kurzen Aufenthalten in Böhmen, einer Reise auf den Balkan wirkte Kubin die meiste Zeit in seinem österreichischen Domizil. In den Jahren 1930-1940 verbrachte er die Sommer im Böhmerwald, mit reichem motivlichem Ertrag. Zu den besonderen Ehrungen, die ihm zuteil wurden, gehörten die Mitgliedschaft der Preußischen Akademie der Künste Berlin (1930), die Ernennung zum Professor (1937), zum Ehrenbürger der Stadt Linz (1947), die Mitgliedschaft in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (1949), der Österreichische Staatspreis für bildende Kunst (1951), die Ehrenmitgliedschaft der Künstlergilde (1951), der Ulisse-Preis der Biennale Venedig (1952), der Internationale Preis für Zeichnungen der Biennale São Paulo (1952).

Die zahllosen Zeichnungen, Hunderte von Lithographien, eine große Reihe lithographischer Folgen und die Illustration vieler Bücher der Weltliteratur – wobei sich Kubin immer ihm angemessene Stoffe aussuchte – weisen diesen Künstler als den fruchtbarsten und einfallsreichsten Illustrator der Weltliteratur im 20. Jahrhundert aus. Er hat in der Frühzeit sich vor allem mit der Welt des Übersinnlichen, des Absurden, nicht zuletzt unter dem Einfluß des Philosophen Otto Weininger und der Psychoanalyse, beschäftigt. Zu vielen seiner auch gewagteste Perversionen künstlerisch verarbeitenden Darstellungen kann gesagt werden, daß ihm nichts Menschliches fremd gewesen sei. Über eine fast abstrakte Epoche hinaus (um 1905), besonders die fantastischen, fast ganz den Gegenstand verlassenden Temperabilder, hat sein im wesentlichen expressiver Stil, oft im barocken Wirrwarr gekräuselter zeichnerischer Linien, die sich dann doch zu einem bildhaften Kosmos ordnen, immer wieder die Schattenseiten des Lebens aufgesucht, aber auch die Welt des Märchens, der Skurrilität und des Humors. Kubin hat Einflüsse verschiedenster Künstler, von der Renaissance und dem Manierismus bis zu Goya, Delacroix, Daumier, Dore, Ensor und Redon, um nur diese zu nennen, verarbeitet, aber sehr früh zu einem ganz eigenen Stil gefunden, der, in der Grundlage expressiv, bald episch gesänftigt, bald aufgewühlt und exstatisch sich ausbreitete.

Längst ist in die Kunstgeschichte, aber auch in die Literatur die Nomenklatur von „kubinisch“ und „kubinesk“ (etwa in Entsprechung zu „hoffmannesk“) eingegangen. Kubins Kunst und geistige Welt ist mit tausend Fäden der Gegenwart und der Vergangenheit verbunden, seine Meisterschaft reiht sich an die der größten deutschen und abendländischen Zeichner, seine Stoffe umfassen die Bibel ebenso wie E. A. Poe oder Dostojewski. Was seine seismographische Bedeutung und seine Sehergabe in der heutigen Welt gelten, haben längst zahlreiche Dichter beschrieben, unter ihnen nicht zuletzt der Freund Hans Carossa. Hermann Hesse bekannte 1928: Kubin sei „inmitten unserer blöden Unterhaltungs- und Industriekunst … einer von den wenigen, die ich als Brüder und meinesgleichen irgendwo verborgen sitzen weiß, in ihre Spiele verloren, leidend aber fruchtbar, niemals käuflich, außerhalb des Tages und des Schwindels“.

Kubin ist weltoffen und weltverhaftet. Er ist aber sehr deutsch, nicht zuletzt in seiner gelegentlichen stilistischen Nachfolge der Meister der Donauschule. Man braucht ihn nicht einzugrenzen. Aber wie bei einem Rilke, einem Stifter liegen seine Wurzeln in der böhmischen Heimat. Das hat er selbst bekannt, das ist immer wieder eindringlich, so von Ernst Jünger, vor allem in seinem Essay „Staubdämonen“ dargestellt worden.

„Er stellt eine Chronik dar, als deren Quellen das Knistern im Gebälk, die Risse im Mauerwerk und die Fäden der Spinnwebe zu betrachten sind.“ Kubin hat das Österreich des Untergangs und den Untergang Österreichs immer wieder faszinierend gezeichnet, nicht zuletzt, um Österreichs Bedeutung für die Welt sichtbar zu machen. Als am Schluß des Zweiten Weltkrieges um die Gegend seines Wohnorts gekämpft wurde, saß er über den Prosadichtungen des mit einem Elternteil aus Böhmen stammenden Georg Trakl, eines aus der Reihe seiner Geistesverwandten. Mit seinem Roman „Die andere Seite“ (verfilmt unter dem Titel „Traumstadt“), 1908 geschrieben, 1909 veröffentlicht, brachte Kubin in der Vorausschau von Diktatur und Verfallswelt voll überquellender makaberer Fantasie den ersten eigentlichen surrealistischen Roman, etliche Jahre vor den Romanen Franz Kafkas, mit dem er sich – wie mit anderen Angehörigen des Prager Kreises – öfters traf. Übrigens waren die ersten Zeichnungen zu dem Roman „Die andere Seite“ zunächst für den Roman „Der Golem“ von Gustav Meyrink bestimmt, der aber als Schreiber von Fortsetzungen dem ungeduldigen Kubin nicht rasch genug arbeitete, so daß sich dieser zu einem eigenen Roman entschloß, den er dann ergänzend selbst illustrierte. Einen wesentlichen Teil des Schaffens Alfred Kubins nimmt die Welt seiner Heimat Böhmen ein. Zahllos die Motive und die Einfälle, angefangen von Illustrationen zu des Prätorius‘ „Rübezahl“ (1927) bis zu Zeichnungen zu Franz Werfel und Franz Kafka und vor allem den großen Bildfolgen.

Von 1930 bis 1940 verbrachte Kubin seine Sommer im Bayrischen und im Böhmerwald. Meistens war er in Waldhäusern bei den Freunden Koeppel. Mit dem Zeichner und Sammler Ludwig Rosenberger in Lakenhäuser verbanden ihn gemeinsame Interessen und die Liebe zur Landschaft Stifters. Diese Waldsommer des heimatlichen Bereiches fehlen dem Greis, wie er immer wieder betont. Im „Tätigkeitsbericht“ vom Jahre 1943 schreibt er:

„Wenn nicht Wald, Seeufer, Wiesen seit je meine Tummelplätze gewesen wären, kaum glaube ich, daß mir dann als reifem Menschen der Böhmerwald in seiner Ursprünglichkeit so unvergeßliche Eindrücke gebracht hätte, wie ich sie in der Folge von 35, zum Teil auch mit Texten versehenen Tafeln, den Phantasien im Böhmerwald, nun anderen vermitteln möchte.“ Diese im wesentlichen 1935 entstandene, erst 1951 veröffentlichte Reihe grandioser, düsterer Blätter mit dickem Strich ist ein Stück Folklore, hinter deren Begebenheiten sich ebenso wie hinter den Naturerzählungen dieser Mappe das Dämonische, Hintergründige erhebt, das dann in dem scheinbar ganz idyllischen, letzten Blatt „Gesperrte Straße“ unheimliche Wirklichkeitsbedeutung für unser Schicksal nach 1945 erhält, Ausdruck auch der Trauer, daß dem Künstler der Zugang zu seinem Heimatland verwehrt bleibt. In zeichnerisch großartiger Verbindung ist die ganze Mappe gestaltet, Zeichnungen, handgeschriebener Text und Bildertitel. Mit einem Blatt ist das Thema des „Kobold Stilzel“ noch einmal wuchtig aufgegriffen, das im Gewirr des dichten Kräuselstrichs und gezeichneten Gewirr von Landschaft, Menschen und dem aufhockenden Böhmerwaldgeist die ganze barocke Fabulierfreude, Skurrilität und Zwielichtigkeit der Geschichten von Hans Watzlik wiedergibt. Die Mappe der 11 Lithographien zu Hans Watzliks Volksbuch „Stilzel der Kobold des Böhmerwaldes“ war 1930 in Eger im Verlag der literarischen Adalbert-Stifter-Gesellschaft gesondert erschienen, zu Watzliks 50. Geburtstag.