Biographie

Külpe, Oswald

Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen), Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Philosoph, Psychologe
* 3. August 1862 in Kandau/Kurland
† 30. Dezember 1915 in München

Oswald Külpe war sogleich nach seiner Promotion in den Jahren 1887-1896 Assistent von Wilhelm Wundt in Leipzig. Ihm kam schon in frühen Jahren große Lehrfreiheit zu, indem er im wesentlichen Wundts Psychologievorlesungen übernahm, während sich Wundt selbst auf die Philosophiekollegs konzentrierte. 1893 publizierte Külpe seinen Grundriss der Psychologie, der auf Anregungen Wundts zurückging, aber vor allem aufgrund des Vorschlags, die experimentell positive Psychologie als eigenständiges Fach von der Philosophie zu trennen, Wundts Missbilligung erregte. Naturgemäß war Külpe zunächst in seinen leitenden Auffassungen dem Lehrer gefolgt. Die Differenz wurde jedoch rasch größer, auch weil sich Külpe zunehmend von Husserl und Brentano und der Idee der Intentionalität der seelischen Vorgänge inspirieren ließ.

1894 wurde Külpe zum Extraordinarius in Leipzig ernannt und noch im gleichen Jahr gelangte er auf einen Lehrstuhl in Würzburg, wo er die wichtige Würzburger Schule der Denkpsychologie begründete. Institutionell fußte sie erstmals auf einem psychologischen Labor. Er wechselt 1904 nach Bonn, wo Karl Bühler sein Assistent wird und 1912 nach München. An allen diesen Universitäten begründete Külpe eigene Institute und hatte Schüler. Zu seinem weiteren Schülerkreis zählen so große Namen wie Ernst Bloch, Karl Bühler und Gottlieb Söhngen.

Eine wichtige Innovation innerhalb der Psychologie ist der in Würzburg in Angriff genommene Versuch, auch Willens- und Denkvorgänge psychologisch experimentell zu untersuchen. Dies erforderte eine adäquate Methode, die bei Külpe in der Regel von objektivierter Selbstbeobachtung ausging. Qualitativen Beschreibungen kam dabei größere Bedeutung zu als dies im naturwissenschaftlichen Positivismus der Assoziationspsychologie der Zeit zunächst der Fall gewesen war.

Kritik übte Külpe vor allem am Begriff des ‚psychischen Individuums‘, wie ihn sein Lehrer Wundt geprägt hatte. Bei Wundt ist dieser Terminus zwar als Abstraktion ausgewiesen, da das Einzelbewusstsein die Individualität in zweifacher Richtung überschreitet: zum einen in Richtung auf die Naturumgebung, zum anderen aber in Richtung auf das geistige Umfeld. Dennoch spielte er eine entscheidende Rolle. Hatte Wundt doch seinerzeit die Psychologie als die Grundwissenschaft innerhalb der Geisteswissenschaften zu etablieren versucht und nicht zuletzt vom ‚psychologischen Individuum‘ her seinen eigenen Ansatz sowohl gegen den Materialismus als auch den Intellektualismus abgegrenzt. In diesem Horizont hatte Wundt auch den Begriff einer ‚psychischen Kausalität‘ entwickelt, der darauf beruht, dass einzelne psychische Vorgänge nur zu verstehen sind, sofern es gelingt, sie mit anderen in eine Verknüpfung nach Grund und Folge zu bringen. Solchem assoziationspsychologischen Ansatz misstraute Külpe in zunehmendem Maß. Külpe hat weiterhin darauf insistiert, dass das Individuum nicht als ‚psychologisches‘, sondern zunächst als körperliches Individuum zu denken sei.

Erst nach Külpes Tod erschienen seine Vorlesungen über Psychologie (1920), die seinen Aufriss am klarsten exponieren. Sie lassen erkennen, dass es ihm darum geht, die verschiedenen Elemente des Bewusstseins zu Einheiten zusammenzufassen. Aufgabenstellung, Gedanken, Ziel, Lösung formen für die experimentelle Methode das Set solcher Einheiten. Bemerkenswert ist auch, dass Külpe neben dem bewussten auch ein unbewusstes Seelenleben annahm. Zu einer weitergehenden Annäherung an die Tiefenpsychologie ist es freilich nicht gekommen.

Zentral etablierte Külpe eine Psychologie der ‚höheren‘ Seelenvermögen und er ging, im Unterschied zu Wundt, davon aus, dass auch sie experimenteller Wissenschaft zugänglich seien. In seinen Versuchsanordnungen wies Külpe die Wirkung von dynamischen Faktoren, namentlich der Einstellung, auf neu hinzutretende Bewusstseinsinhalte nach. Experimentelle Selbstbeobachtung sollte durch Introspektion und bewusste Nacherzählung des Erlebten erweitert, kontrolliert und vertieft werden.

Zu diesem Zweck wurden die Versuchspersonen in Selbstbeobachtung unterwiesen. Der Versuchsleiter ist nicht nur für die technische, sondern auch für die psychologische Begleitung der Versuchsanordnung verantwortlich. Entscheidend ist das ‚Erlebnisprotokoll‘, das die Personen während der Versuche, zumeist der Lösung spezifischer Textaufgaben, niederzulegen haben. Külpe bevorzugte routinierte Versuchspersonen, unter anderem Professorenkollegen, was ihm berechtigte Einwände eintrug. Sekundär spielte die Messung der Zeit zwischen Reiz und Reaktion eine Rolle. Offensichtlich ist sie aber nur selten in die psychologische Interpretation eingeflossen.

Wundt verwarf diese oft in Dialoge mündenden Anordnungen als Missbrauch des Experimentes. Dennoch kann Külpes Ansatz im Rückblick durchaus Interesse für sich verbuchen, zumal er in manchen Zügen mit der Tiefenpsychologie konvergiert. Das Verhältnis zwischen Külpe und seinem einstigen Lehrer Wundt war alles andere als einfach: Wundt unterstellte, Külpe, den er als naturwissenschaftlichen Positivisten kannte, betreibe solche Experimente gar nicht aus eigener Überzeugung, sondern lasse sie aus Liberalität gegenüber seinen Schülern zu.

Külpe ließ sich von Kritik nicht entmutigen. Er suchte weiterhin die zumindest relative Unabhängigkeit der Denkvermögen von Assoziationsvorgängen zu plausibilisieren, wobei er vor allem zeigte, dass Denkvorgänge bildlos sein und sich von Anschauung lösen können. Wesentlich wurde dabei auch, dass Külpe die primäre Rolle der Empfindungen in Frage stellte. Sie seien erst Ergebnisse einer wissenschaftlichen Analyse, weshalb die Assoziationspsychologie, die sich im letzten auf Hume zurückführen lasse, „Steine und nicht Brot“ biete. „Elementare Inhalte, wie einfache Farben oder Helligkeiten, Töne oder Geräusche, Elemente überhaupt finden wir bei unserer Untersuchung des im Bewusstsein Gegebenen durchaus nicht vor“.

Außerhalb der eigenen Schule stieß Külpes Introspektionsmethode weiterhin auf Kritik und teilweise auch auf offene Ablehnung. Innerhalb der Schule fand sie mannigfache Ergänzung: Marbe erweiterte sie auf eindeutige Bewusstseinslagen (Spannungen, Ungewissheiten) hin. Die Bedeutung der bildhaften Vorstellungen, die für Külpe selbst zentral gewesen war, trat dadurch in den Hintergrund. Marbe führte dies später auf alltagsorientierte Fragestellungen weiter, mit einem wesentlich weiter gestreuten Probandenkreis. Nur relevante Reize würden während der Bearbeitung von Aufgaben beachtet, von irrelevanten werde abgesehen, womit eine grundlegende empirische Bestimmung von Abstraktion gegeben ist.

Eine umfassende Theorie des Denkens zu entwickeln, blieb Külpe selbst übrigens versagt. Diesen Versuch unternahm später sein Schüler Selz. Auswirkungen hatte die Külpesche Psychologie indessen auf die Pädagogik: auf Külpe geht die heute triviale Erkenntnis zurück, dass Aufgaben wirklichkeitsselegierend wirken. Nur relevante Reize würden während der Bearbeitung von Aufgaben beachtet, von irrelevanten werde abgesehen, womit eine grundlegende Bestimmung von Abstraktion gegeben ist.

Seine Philosophie hat Külpe nicht unabhängig von der Psychologie entwickelt, aber doch auf eine eigenständige philosophische Begründung wert gelegt. Er kritisierte den Psychologismus und unterstrich die Bedeutung der Geltung von Begriffen und Urteilen. Von hier her nimmt es nicht wunder, dass er selbst manche seiner Schüler für den Einfluss der Husserlschen Phänomenologie empfänglich geworden sind. Külpe arbeitete in der Folge eine realistische Erkenntnistheorie aus, die sich vor allem um die folgenden vier Fragen gruppieren sollte: 1. Ist die Setzung von Realität zulässig? 2. Wie ist diese Setzung möglich? 3. Ist eine Bestimmung von Realem zulässig? 4. Wie ist sie möglich? Im Zusammenhang der Fragen 1 und 2 widersprach Külpe entschieden dem ‚Konszientialismus‘ des Neukantianismus, der nur der Bewusstseinswirklichkeit überhaupt Realität zuerkennen konnte. Dabei betonte Külpe im Einzelnen, dass die von ihm bejahte Realitätssetzung weder rein empirisch noch rein rational möglich sei. Es bedürfe vielmehr eines „gemischten Verfahrens“, einer Forschung, bei der nach und nach Beziehungen zwischen den Bewusstseinsinnhalten und vorhandenen Objekten hergestellt werden. Auszugehen sei dabei von der „vorgefundene(n) Wirklichkeit des Bewusstseins“, den „Erlebnisse(n) in ihrer vollen und unmittelbaren Tatsächlichkeit und Gegebenheit“. Külpe verteidigt den Realismus nicht nur als bewährte Alltagsontologie, sondern zugleich als wohl bewährtes Konzept in den Einzelwissenschaften. Dafür dass er überhaupt in Frage gestellt werden konnte, macht er die Auffassung von Realgegenständen nach dem Maßstab mathematischer Entitäten namhaft.

In der Unterscheidung zwischen dem Gegenstand und dem Inhalt des Denkens weist Külpe deutliche Affinitäten zum Realismus des frühen Husserl auf. Der Gegenstand des Denkens kann sehr wohl unabhängig vom Denkakt existieren. Anders sei es bei Empfindungen, die an den Akt des Empfindens gebunden seien. So betont er, wiederum gegenüber dem Neukantianismus, die Transzendenz der Objekte gegenüber der Bewusstseinsrealität. Konstitutiv sei für das Denken ein „Hinausweisen […] über sich selbst“, das aber keineswegs die Realität vollständig erreichen müsse.

So plausibel der Realismus aber zunächst ist, so schwer ist er philosophisch zu begründen. Der rationale Weg scheidet aus, weil aus der Realität des Ich nicht auf die des Nicht-Ich geschlossen werden kann (1), weil Regularitäten, wie sie die Induktion aufweisen kann, auch auf Regularität im Binnenbereich des Bewusstseins zurückführbar sein könnten (2) und weil schließlich das Kausalitätsprinzip nicht zwischen psychischen und physischen Entitäten anzuwenden sei (3), zumal seit Hume und Kant nicht mehr eindeutig festgestellt werden kann, dass es selbst eine reale Beziehung ist. Auch die empirische Begründung scheidet aus. Denn sie setzte voraus, dass die Eigenschaften der Empfindungen unmittelbar auf die Realität des Empfundenen und Wahrgenommenen schließen läßt. Külpe konstatierte: „Bestimmte Erfahrungen weisen nicht über sich hinaus auf eine Außenwelt hin“.

Die Crux der ‚gemischten Methode‘ besteht darin, dass die Konstatierung gesetzmäßiger Beziehungen zwischen einzelnen Wahrnehmungen nur mit Rekurs auf eine dieser Gesetzmäßigkeit zugrunde liegende Realität zu erklären sei. Diese Verklammerung von Empirie und Rationalität sei anderen Erklärungsversuchen überlegen, weil sie nicht von der Korrelation einzelner Wahrnehmungen auf einzelne Dinge, sondern von einem nomologischen Zusammenhang ausgeht. Dennoch musste Külpe letztlich konstatieren: „Der Realismus ist in diesem Sinne ein Glaube“.

Im dritten Teil seines großen Realismus-Werkes widmet sich Külpe sodann der Frage nach der Möglichkeit der Bestimmung von Realem im Einzelnen. Er kritisiert dabei insbesondere den ‚Phänomenalismus‘, den er in Kants Konzeption des Verhältnisses von Erscheinung und Ding an sich ausmacht. Fraglich sei schon der doppeldeutige Sinn des Apriori bei Kant. Ein ursprünglich berechtigter logischer Begriffssinn werde in eine genetische Erklärung verschoben. Als Kantischen Grundfehler macht er namhaft, dass dieser sich an Formalwissenschaften orientiert habe. Empirischer Forschung habe Kant zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet, eine Auffassung, die sich ihrerseits nicht verifizieren lässt.

Es ist das Denken, nicht die Empfindung, das zur Realität führt, so Külpes entscheidende These. „Realitäten können nur gedacht werden, und ihre Bestimmung kann nur im Denken und durch das Denken vollzogen werden“. In Frage stehen dann nach wie vor die Kriterien für Reales, denn auch imaginäre und fiktive Gehalte können bekanntlich Gegenstand des Denkens werden. Külpe geht von einem allgemeinen Realitätskriterium aus: der selbständigen Gesetzlichkeit von Gegebenem. Dies ermöglicht weitere Präzisierungen und Detaillierungen: Wenn ein Faktor konstant bleibt, während sich zugleich alle anderen Faktoren ändern, so hat man Gründe, ihm Realität zuzuweisen. Nicht alle Realitäten sind schon in der Erscheinung enthalten, sie können vielmehr im Sinn theoretischer Konstrukte dann weiter erschlossen werden. Diesen Status wies Külpe nicht nur dem Atom- oder Energiebegriff, sondern auch dem Begriff der Substanz zu.

In seinem Schlusswort fügt sich Külpe dann doch, vielleicht nicht ganz überzeugend, in die Geschichte des Kantianismus ein. Er versteht seine Ausarbeitung als ‚Seitenstück‘ zur ‚Kritik der reinen Vernunft‘, bzw. als Prolegomena einer künftigen Metaphysik der Realwissenschaften. Komplementär zu Kant, und keineswegs in vollständiger Abkehr von dessen Einsichten, sei es ihm darum gegangen, die Erkenntnistheorie der Realwissenschaften und eine Metaphysik aposteriori zu entwickeln.

Für das Nachleben Külpes ist bemerkenswert, dass im Jahr 2004 durch die anonyme Stiftung von € 100.000,- ein Oswald Külpe-Preis für Denkpsychologie ins Leben gerufen, der, nicht zuletzt durch die namhaften ersten Preisträger (2005 Asher Koriat; 2007 Richard E. Nisbett; 2009: Michael Tomasello; 2011: Wolfgang Prinz) in kurzer Zeit zu einer sehr renommierten Auszeichnung avanciert ist. Für die Vergabe ist das Institut für Psychologie der Universität Würzburg verantwortlich.

Werke: Grundriss der Psychologie auf experimenteller Grundlage. 1893. – Einleitung in die Philosophie (erstmals 1895; 121928). – Die Philosophie der Gegenwart in Deutschland (1902; 71920). – Die Realisierung (Phil. Hauptwerk: 3 Bände I 1912; II und III 1920/23, hrsg. von A. Messer). – Vorlesungen über Psychologien, hrsg. von K. Bühler (1920, 21922). – Grundlagen der Ästhetik, hrsg. von S. Behn (1921).

Lit.: M. G. Ash/U. Geuter (Hrsg.), Geschichte der deutschen Psychologie im 20. Jahrhundert. Ein Überblick, Opladen 1985. – M. Galliker/M. Klein/S. Rykart, Meilensteile der Psychologie. Die Geschichte der Psychologie nach Personen, Werk und Wirkung, Stuttgart 2007, S. 251 ff.– H. E. Kück/R. Miller (Hrsg.), Illustrierte Geschichte der Psychologie, Weinheim und Basel 1999. – H. Holzhey/W. Röd, Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts, Band 2, München 2004.

Bild: Ludwig-Maximilians-Universität München.

Harald Seubert