Der Vater Eugen Kühnemanns, in Ratibor als Sohn eines Berliners geboren, war als Regierungsassessor von Königsberg i. Pr. in die neugebildete Provinz Hannover gekommen. Die Mutter stammte aus Mecklenburg. Eugen Kühnemann selbst hat Breslau als "die eigentliche Heimatstadt meines Lebens" bezeichnet, in der er 38jährig akademisch fußfaßte.
Kühnemann hatte in Marburg, München und Berlin Philosophie, Altphilologie und Germanistik studiert und wurde 1889 in München von Michael Bernays mit einer Arbeit über Die Kantischen Studien Schillers und die Komposition des "Wallenstein" promoviert. Nach Aufenthalten in Paris und abermals in Berlin sowie der Familiengründung folgte 1894/95 die Habilitation in Marburg bei dem Neukantianer Hermann Cohen, als dessen Schüler er sich "nur im allerbedingtesten Sinne" empfand. Die Habilitationsschrift handelte von Kants und Schillers Begründung der Ästhetik.
Schon den Studenten Kühnemann hatte die akademische geisteswissenschaftliche Lehre seiner Zeit unbefriedigt gelassen. An den Vorlesungen Erich Schmidts in Berlin vermißte er, wie seinen Erinnerungen zu entnehmen ist, den "Blick in die Tiefen seelischer und geistiger Kämpfe", in denen es um die großen Anliegen der Menschheit ging. Hier setzte sein Interesse an, als er als Habilitant durch den Auftrag, für Kürschners Deutsche Nationalliteratur einige Bände mit Schriften Johann Gottfried Herders herauszugeben, auf dessen Spuren gelenkt wurde. Er gewann mit einer Arbeit über Herders Geschichtsphilosophie einen Preis der Berliner Universität, veröffentlichte 1893 das Buch Herders Persönlichkeit in seiner Weltanschauung und 1895 Herders Leben (3. Auflage 1927 unter dem Titel Herder). "Es war… der Hauptgedanke meiner Biologie des Geistes", so schrieb er in seinen Erinnerungen, "daß auch das Gedanken- und Gedichtwerk der großen Geistesschöpfer als Leben begriffen werden müsse, als die Art, wie Leidenschaft und Sinn ihres Lebens sich als Gestalt in das Leben der Empfangenden überträgt und in ihnen neues Leben wirkt."
Während Kühnemann die Überzeugung, die "deutsche akademische Jugend große Philosophie lehren und zugleich die Lebensgedanken großer Philosophie hinaustragen" zu sollen "unter die Menschen" und somit seine Ablehnung der rein philologischen Betrachtungsweise der Geisteswissenschaften an der Universität zum Außenseiter machten, wurde der Universitätsdezernent im preußischen Kultusministerium, Friedrich Althoff, auf ihn aufmerksam. Nach sechs Jahren als Privatdozent und zweien auf einem außeretatmäßigen Extraordinariat in Marburg sowie dem Sommersemester 1903 in Bonn (gegenden Willen der dortigen Fakultät) erreichte es Althoff, daß Kühnemann zum ersten Rektor der neugegründeten Akademie in Posen berufen wurde, die im November 1903 ihre Pforten öffnete.
Für die Akademie, die als "eine Volkshochschule auf einer ungekannt hohen Ebene" (Kühnemann) weit ins Land wirken und damit zu einer Stärkung des deutschen Volkstums in der Provinz Posen beitragen sollte, mußte sich Kühnemann, dem nichts ferner lag als weltfremde Gelehrsamkeit und der als Universitätslehrer wie als passionierter Vortragsredner bedeutende Resonanz fand, empfehlen. Seine Themen waren vor allem Kant, Herder, Goethe, hier insbesondere das Faust-Werk, und Schiller, dem Kühnemann in seiner Posener Zeit ein Buch widmete, das 14 Tage vor dem 100. Todestag des Dichters, dem 9. Mai 1905, erschien. Der leitende Gesichtspunkt war ihm dabei wie stets das "Weltreich deutscher Kultur".
Dieses wirksam zu machen, war auch das Ziel der Vortragstätigkeit Kühnemanns in den Vereinigten Staaten von Amerika, zu der er erstmals 1905 im Auftrag Althoffs, also des preußischen Kultusministeriums, aufbrach. Ziel war die geistige Stärkung des Deutsch-Amerikanertums. 1906/07 bis 1908/09 weilte Kühnemann als Austauschprofessor an der Harvard-Universität, 1912 als erster Carl-Schurz-Professor in Wisconsin, 1914 bis 1917 und noch einmal 1932 zu Vortragsreisen in den USA. Wenn Kühnemann sich hier auch im Dienste einer geistigen Sendung der Deutschen wußte, die dazu bestimmt seien, "die Lehrer der Welt" zu sein, so fühlte er sich doch in seiner unkonventionellen Geistesart durch das spezifische Amerikanertum angezogen, brachte diesem Sympathie und Verständnis entgegen.
In der akademischen Welt hatte Kühnemann trotz seiner Lehr- und Redeerfolge – oder vielleicht gerade deswegen – weiterhin sein Außenseitertum zu schaffen gemacht: Er war als Rektor der Akademie zu Posen nicht wiedergewählt worden und 1906, wiederum auf Betreiben Althoffs, als Ordinarius an die Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität in Breslau übergewechselt, dort aber als angebliche Fehlbesetzung auf dem Lehrstuhl für Philosophie angefeindet worden. "Wer… über Herder und über Schiller schrieb", so Kühnemann im Rückblick, "war eben ein Literarhistoriker. Daß in diesen Büchern die Geisteswissenschaft als eine philosophische Wissenschaft neu begründet wurde, indem die kritische Methode Kants, die am Naturerkennen entwickelt war, zur Geisteserkenntnis fortgebildet wurde, das zu erkennen mußte man mehr philosophische Bildung haben, als man bei den meisten Mitgliedern einer philosophischen Fakultät und leider auch bei so manchem, der Philosophie lehrt, voraussetzen darf."
Dessen ungeachtet wurden die Breslauer Jahre für Kühnemann die Zeit der Reife und der Ernte. Es erschienen seine Werke Deutschland und Amerika (1917, 41925),Gerhart Hauptmann. Aus dem Leben des deutschen Geistes in der Gegenwart. Fünf Reden (1922), Kant, 2 Bände (1923-24), Goethe, 2 Bände (1930) und George Washington. Werden und Wachsen des Amerikagedankens (1932). Das Leben und Wirken im geliebten Schlesien wurde auch durch den Ersten Weltkrieg (von dem sich Kühnemann in Amerika überrascht und bis 1917 festgehalten sah) und die Not der Nachkriegsjahre geprägt. Kummer über den Niedergang Deutschlands und ein dadurch verschärfter antidemokratischer Affekt ließen ihn in den Nationalsozialismus und namentlich in die Person Adolf Hitlers große Hoffnungen setzen. Nachdem dieser zur Macht gekommen war, sprach Kühnemann in einem Brief an einen besorgten Amerikaner "von dem Gefühl unserer Genesung von vierzehn Jahren schwerer Krankheit" und setzte hinzu: "Uns ist unser Washington gekommen und heißt Adolf Hitler."
Kühnemann scheint im weiteren in diesem Glauben wankend geworden zu sein, auch hörbar für die vielen Zuhörer seiner Vorlesungen und Vorträge. So mag es sich erklären, daß der Breslauer NS-Studentenbund, dem Kühnemann im übrigen als ein Relikt überwundener Zeiten erscheinen mußte, nach seiner Emeritierung 1935 auf ein Ende seiner Lehrtätigkeit drängte – und zwar mit Erfolg, obwohl sich der Gelehrte der Wertschätzung des Reichserziehungsministers Rust erfreute. Diesem dankte er wohl die Ehre, als einstmaliger Gründungsrektor der Posener Akademie zu deren Wiedereröffnung 1941 eine Festrede halten zu dürfen. Kühnemanns letztes Jahr, in seinem Refugium in Fischbach im Riesengebirge, in das er sich Anfang 1945 aus Breslau zurückgezogen hatte, muß hoffnungslos gewesen sein. Der Austausch mit dem wie er in Schlesien zurückgebliebenen Gerhart Hauptmann im nahen Agnetendorf mag ihm letzte Lichtblicke geboten haben.
Weitere Werke: Tugenjew und Tolstoj, Berlin 1893. – Grundlehren der Philosophie. Studien über Vorsokratiker, Sokrates und Platon, Berlin und Stuttgart 1899. – Über die Grundlagen der Lehre des Spinoza, Halle a.S. 1902. – Vom Weltreich des deutschen Geistes. Reden und Aufsätze, München 1914 (2. Auflage: Aus dem Weltreich deutschen Geistes, 1927). – Mit unbefangener Stirn. Mein Lebensbuch (Erinnerungen), Heilbronn 1937.
Lit.: Neue Deutsche Biographie, Bd. 13 (1982), S. 205 f. (Friedbert Holz)