Biographie

Kutta, Martin Wilhelm

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Mathematiker
* 3. November 1867 in Pitschen/ Oberschlesien
† 25. Dezember 1944 in Fürstenfeldbruck

Martin Wilhelm Kutta, sein Rufname war Wilhelm, wurde in der Pitschen (heute polnisch: Byczyna) geboren. Diese oberschlesische Kleinstadt liegt etwa 53 km nordöstlich von Oppeln (Opole), nahe der alten Grenze zu Polen.

Über seine Familie ist nicht viel bekannt außer, dass sie evangelisch war. Der Vater, ein Grundbesitzer, Seifenfabrikant und Großkaufmann, betätigte sich gelegentlich auch als Kunstmaler. Über seine Mutter Anna, geborene Koschinsky gibt es keine Angaben. Sein drei Jahre älterer Bruder, Karl Friedrich Thomas (1864-1944), war später Doktor der Philosophie und als Privatgelehrter tätig. Die Brüder wurden nach dem frühen Tod der Mutter bei einem Onkel in Breslau aufgezogen, der sich sehr um eine gute Bildung seiner Neffen bemühte.

Bis zur Reifeprüfung besuchte Kutta von 1875 bis 1885 in Breslau das Heilig-Geist-Gymnasium (Realgymnasium) und begann danach an der Universität dieser Stadt ein Studium der Mathematik, sowie der Physik und Astronomie. Anschließend setzte er 1891 seine Studien in den gleichen Fächern an der Universität in München fort. Da er viele Neigungen hatte, besuchte er in dieser Zeit zusätzlich weitere Vorlesungen mit Themen aus der Musik und anderen Kunstrichtungen. Auch Sprachkurse erachtete er als notwendig, u.a. lernte er auch Arabisch. Im Sommer 1894 legte er die Höhere bayrische Lehramtsprüfung für Mathematik und Physik ab, jedoch den Schuldienst trat er nicht an.

Seine künstlerischen Interessen wirkten vielleicht unterstützend, als er eine Assistentenstelle bei Prof. Walter von Dyck (1856-1934) an der Königlich Bayerischen Technischen Hochschule München (= TH München) erhielt. Von Dyck war ein hervorragender Mathematiker und als Sohn von Hermann von Dyck (1812-1874), dem Direktor der Münchener Kunstgewerbeschule auch künstlerisch vorbelastet. Das war für den kunstinteressierten Kutta bestimmt ein hilfreicher Umstand für die erfolgreiche Bewerbung. Die Tätigkeit an dieser Hochschule füllte ihn bis 1909 leidenschaftlich aus und wurde nur durch einen halbjährlichen Studienaufenthalt an Universität Cam­bridge unterbrochen.

Seiner Promotion 1900 als Dr. phil. an der Universität München folgte in März 1902 an der TH München die Habilitation auf dem Gebiet der Reinen und Angewandten Mathematik.

Mit Beendigung des Habilitationsverfahren übernahm er 1902 einen Lehrauftrag für Trigonometrie und von 1906 bis 1909 hielt er Vorlesungen zu Ausgleichsrechnungen (= mathematische Optimierungsmethoden). Im Jahre 1907 ernannte ihn die TH München zum außerordentlichen Professor für Angewandte Mathematik.

Kuttas praxisorientierte wissenschaftliche Arbeit führte schnell zu einem hohen Bekanntheitsgrad in Fachkreisen. Seine mathematischen Lösungsverfahren wurden in die einschlägigen Lehrbücher übernommen und einige sind bis heute mit seinem Namen verbunden.

Die Ergebnisse der Dissertation fand Beachtung bei Ingenieuren und Wissenschaftlern, die bei der beruflichen Tätigkeit Differentialgleichungen lösen mussten. Ausgehend von einer Vorarbeit vom Mathematiker Carl Runge (1856-1927) zur Berechnung von Differentialgleichungen, war das von ihm entwickelte Verfahren komplexer. Die Formeln des sogenannten „Runge-Kutta-Verfahrens“ wurden zum allgemein gebräuchlichen, mathematischen Werkzeug für die näherungsweise (= numerische) Berechnung totaler Differentialgleichungen. Noch heute, im Zeitalter der Computer, haben sie eine Berechtigung.

Seine Habilitationsschrift über Auftriebskräfte an zylindrischen Flächen in strömenden Flüssigkeiten wurde nur auszugsweise veröffentlicht. Die Zusammenhänge und die Proportionalität von dynamischen Auftriebskräften und Zirkulation sind hier in einem allgemeinen Grundsatz gefasst worden. Das ermöglichte dann die mathematische Berechnung durch ein Näherungsverfahren. Die Habilitationsschrift wurde vom hoch angesehenen und führenden Mathematiker an der TH München, Prof. Sebastian Finsterwalder (1862-1951), und dem Direktor von Dyck beurteilt.

In zwei weiteren umfangreichen Schriften 1910 und 1911 dehnte Kutta diese Erkenntnisse aus und legte u.a. auch die Anwendung konformer Abbildungen für aerodynamische Problemlösungen dar. Für viele ingenieurtechnische Berechnungen bei der Strömungslehre war das von großer praktischer Bedeutung. Mit bisherigem Wissen nicht zu beantwortende Fragen über Luftwiderstand und Auftrieb wurden jetzt mathematisch beherrscht. Damit war z. B. das Bestimmen der Auftriebskräfte an Tragflügelprofilen von Flugzeugen und die Optimierung ihrer Konstruktion möglich. Strömungstechnikern ist die sogenannte „Kutta-Abflussbedingung“ (auch „Kutta-Schukoeski-Trans­formation“) vertraut, eine von ihm gemachte Beobachtung zu den Bedingungen, bei denen Strömungen an der Ober- und Unterseite eines umströmten Profils dieses ohne Verwirbelungen verlassen und keine in Druck- und Geschwindigkeitsunterschiede an der Unter- und Oberseite auftreten.

Der russische Mathematiker, Nikolai Jegorowitsch Schukowski (1847-1921) (Anm.: verschiedene Transkriptionen, häufig: „Jou­kow­ski“) kam unabhängig und unbeeinflusst von Kutta zu den gleichen Forschungsergebnissen, weshalb man heute für das mathematische Verfahren die Bezeichnung „Kutta-Schu­kowski-Theorem“ verwendet.

Typisch für Kuttas wissenschaftliche Arbeitsweise war stets, dass er jede Theorie immer durch praktische Anwendung und Zahlen belegte und auch die Grenzen der Verfahren aufzeigte.

Eine Berufung 1909 als ordentlicher Professor für Angewandte Mathematik an die Universität Jena war nur folgerichtig. Auch weitere führende Technische Hochschulen bemühten sich um ihn. Von 1910 bis 1912 hatte er eine Professur an der RWTH Aachen und danach übernahm er eine solche Position an der TH Stuttgart. Hier blieb er bis zur seiner Emeritierung 1935.

Seine inspirierenden, interessanten Vorlesungen an dieser Hoch­schule für Lehramtskandidaten der Mathematik und angehende Ingenieure hatten einen gewissen legendären Ruhm, der sich auch durch sein Fachwissen in Randgebieten und das umfangreiche Allgemeinwissen begründete. Er selbst sah als außerordentlich wichtig an, dass seine Darlegungen nicht nur die Inhalte der Mathematik vermittelten. Mindestens Anregungen für Themen zur „geistigen Horizonterweiterung“ sollten die Studenten nebenbei stets mit erhalten. Auf solche Weise wurde von ihm der Lehrstoff belebend ergänzt und beschränkte sich nie auf die reine Vermittlung von mathematischem Fachwissen.

Seine Seminare waren durch entsprechend aufbereitetes Arbeitsmaterial immer gut vorbereitet. Für Gespräche und Beratungen mit Studierenden nahm er sich viel Zeit, was damals lange noch nicht von allen Hochschullehrern so praktiziert wurde.

Einmal ins Dozieren gekommen, war er öfters kaum noch zu bremsen und verlor beim Redefluss manchmal jedes Gefühl für die Situation. Laut Überlieferung hat er in der Nazi-Zeit in einem Schalterraum einer Stuttgarter Bank einem Bekannten lautstark aus Uhlands Werken vorgelesen und deutlich mit den Worten „Das war ein Demokrat“ den Vortrag abgeschlossen. Diese öffentlichen Demonstrationen seiner politisch-geistigen Einstellung hätte ihm damals leicht seine Position kosten können.

Solche öffentlich gezeigte Begeisterung stand in einem gewissen Widerspruch zu seiner sonst zurückgezogenen Lebensweise. In seine Privatsphäre bestanden kaum Einblicke und persönliche Kontakte hatte er nur zu wenigen Personen. Einzig mit Bruder Karl gab es enge Verbindungen. Kutta nahm stets an den Studien des Bruders Anteil und erweiterte so laufend auch seine Kenntnisse über Kunst, Musik, Literatur, Geschichte u.a.. Kaum ein anderer Mathematiker in einer Zeit hatte solches Wissen und inneren Zugang zu geistigen Themen dieser Art.

Weitere mathematisch-wissenschaftliche Arbeiten aus seiner Feder fanden ebenfalls in der Fachwelt Interesse, wie z. B. die Darlegungen zur Theorie des Stephanschen Kalorimeters. Die Veröffentlichungen zu Gebieten der Wärmelehre und der Photogrammetrie (= Bildmessung) von Alpengletschern waren zu dieser Zeit noch Wegbereiter für die heutige, breite Anwendung dieser Verfahren. Auch zur Geschichte der Mathematik verfasste er bemerkenswerte Schriften. Allerdings entwickelte er für Publikationen nur wenig Ehrgeiz und so blieb die Zahl seiner Schriften sehr begrenzt. In der Stuttgarter Zeit erschien nichts mehr. Dort war sein Arbeitsschwerpunkt ausschließlich die Lehre.

Am 25.12.1944 ist Wilhelm Kutta in Fürstenfeldbruck, einer Vorstadt der Bayrischen Landeshauptstadt München und Alterssitz der Brüder Kutta, fast vergessen, vereinsamt, zwei Tage nach dem Bruder verstorben. An seinem Grab an der Magdalenenkirche fanden sich kaum Besucher ein. Heute existiert dieser Platz nicht mehr – ein öffentlicher Spazierweg führt darüber!

Er war ein herausragender Mathematiker und engagierter Hochschullehrer und einzigartig war sein Umgang mit den Geisteswissenschaften. Als Hochschullehrer holte er die Ma­the­­matik aus der Ecke einer trockenen, abstrakten, einseitigen Wissenschaft heraus und zeigte ihre zahlreiche Möglichkeiten für praktische Anwendungen in der modernen Zeit auf.

Lit.: Werner Schulz: Kutta, Wilhelm in: Neue Deutsche Biographie 13 (1982), S. 348-350. Online-Version https://www.deutsche-biographie. de/pnd128222557.html#ndbcontent, abgerufen am 13.03. 2018. – Sen­ta Braun, Kutta, Wilhelm Martin, in: LEO BW (Landeskundliches Informationssystem Baden Württemberg). https://www.leo-bw.de/web/ guest/detail/-/Detail/details/PERSON/kgl_biographien/128222557/bio­ grafie, abgerufen am 13.03. 2018. – Roland Bulirsch u.a., Wilhelm Martin Kutta 1867-1944. Lebensbilder, Technische Universität München, Fakultät für Mathematik. http://www-hm.ma.tum.de/ geschichte/ node21.html, abgerufen am 13.03.2018. – Wikipedia Wilhelm Kutta. https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Kutta, abgeru­fen am 13.03. 2018. – Martin Wilhelm Kutta (1867-1944). kk.s.bw.schule.de. http:// www.kk.s.bw.schule.de/mathge/kutta.htm, abgerufen am 13.03.2018. – Martin Wilhelm Kutta. MacTutor, Uni­ver­­sity of St Andrew, Scotland. http://www-history.mcs.st-an drews.ac.uk/Biographies/ Kutta.html, abgerufen am 13.03.2018. – Ulf Hans­ha­gen, Wahrscheinlichkeitsrechnung für Ingenieure, in Rudolf Seising u.a., Form, Zahl. Ordnung, Studien zur Wissenschaftsgeschichte. Wis­senschafts­geschichte Boethius, Bd. 48, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2004, S. 325. – „Die Kutta-Bedingung“. Homepage Hochschule Bre­men. http://homepages.hs-bremen.de/~kortenfr/Aerodynamik/script/node35. html, abgerufen am 29.04.2018.

Bild: Wikipedia.

Helmut Steinhoff