Biographie

Lassel, Rudolf

Herkunft: Siebenbürgen
Beruf: Organist, Chordirigent, Komponist
* 15. März 1861 in Kronstadt/Siebenbürgen
† 18. Januar 1918 in Kronstadt/Siebenbürgen

„Ein eifriger Kunstbeflissener äußerte gelegentlich, das musikalische Leben in Kronstadt sei das einzige, was einen hier noch an Westeuropa erinnere“ – diese markanten Worte konnte man im Jahre 1894 in einer der zahlreichen Konzertkritiken der renommierten Kronstädter Zeitung lesen. Der Umstand, dass ausgerechnet das Musikleben des ausklingenden 19. Jahrhunderts auf kulturell interessierte Kronstädter besonders westlich wirkte, hat die Stadt im äußersten Südostzipfel Siebenbürgens vor allem einem ihrer Söhne zu verdanken, der schon vergessen schien und jetzt langsam wieder entdeckt wird: dem Dirigenten, Musikpädagogen und Komponisten Rudolf Lassel.

Als zweites Kind des späteren evangelischen Gymnasialrektors Franz Lassel (1824-1876) erblickte Rudolf am 15. März 1861 das Licht der Welt. Er wurde bereits in eine musikalische Familie hineingeboren: Vater Franz komponierte selbst Lieder und Großvater Franz Lebrecht wirkte nicht nur als Rektor des traditionsreichen Honterus-Gymnasiums, sondern erteilte auch Klavierunterricht. Die Beschäftigung mit Musik und ein besonderer Hang zur Pädagogik gehörten somit zur Tradition der Lassels. So verwundert es nicht, dass auch der junge Rudolf bereits in frühen Jahren Klavierstunden bei seinem Vater erhielt und danach von Johann Hedwig unterrichtet wurde, einem Sohn des in Siebenbürgen bekannten Kronstädter Komponisten Johann Lukas Hedwig (1802-1849).

Seine allgemeine schulische Ausbildung erfuhr Rudolf Lassel selbstverständlich am evangelischen Gymnasium in Kronstadt, wo er als „vielseitig verständiger“ Schüler galt. Dabei bemerkten seine Lehrer zuweilen einen „träumerischen Zug“ – vielleicht schon ein Hinweis auf die Berufung zur Künstlerpersönlichkeit. In Lassels Schulzeit fielen traurige Ereignisse wie das Ableben seines Vaters und der frühe Tod seines ebenfalls musikalisch begabten vier Jahre älteren Bruders Moritz. Erste Kompositions­versuche am Klavier zeugen von erwachender Kreativität: Intro­duction und fünf Walzer wurden von ihm nachträglich mit der Anmerkung „Aus meiner Knabenzeit – etwa Quarta 1876“ datiert und Jugendidyll, Ländler und Walzer laut Anmerkung des Autographs am 15. September 1877 komponiert. Trotz dieser Begabung hatte der junge Abiturient 1880 gar nicht die Absicht, eine musikalische Berufsausbildung zu beginnen. Zunächst hegte er den Wunsch Kaufmann zu werden, entdeckte dann aber bei einer Aushilfspredigt seine Befähigung für den Kanzeldienst. Er machte sich auf den Weg zum Theologiestudium ins Deutsche Reich, wozu er sich die traditionsreiche Universität Leipzig aus­erkor.

Der junge Siebenbürger begann seine Studien Mitte Oktober 1880 und widmete sich neben der Theologie auch der Philo­so­phie. Letztlich überstieg aber Lassels Liebe zur Musik doch die Ambitionen für das Pfarramt. So immatrikulierte er sich am 22. April 1881 am Königlichen Conservatorium zu Leipzig, das da­mals die bemerkenswerte Zahl von über vierhundert Schülern aufzuweisen hatte. Zu den Absolventen dieser europaweit ange­sehenen Lehrstätte zählten neben späteren Berühmtheiten wie Edvard Grieg auch einige siebenbürgische Musiker wie die Rumänen Jakob Mureşianu und George Dima oder die Sachsen Ella Gmeiner und Paul Richter. Im Leipziger Konservatorium wehte auch im ausgehenden 19. Jahrhundert noch der traditi­o­nelle Geist seines Gründers Felix Mendelssohn Bartholdy, der heute als der große Wiederentdecker Johann Sebastian Bachs gilt. So legten die seinerzeit bekannten Lehrkräfte wie der Musik­direktor und Theoretiker Salomon Jadassohn (1831-1902) viel Wert auf die „contrapunktische Kunstform“, die von den dama­ligen Zeitgenossen bedauerlicherweise „verhältnissmässig nur wenig und selten gebraucht“ werde. Somit zählten auch die Bach’schen Kantaten und Passionen sowie seine Orgelwerke in den achtziger Jahren zum festen Bestandteil des Unterrichts- und Prüfungsprogramms im Konservatorium. Auch der junge Lassel spielte anlässlich seiner gut bestandenen ersten Orgelprüfung 1882 Werke des berühmten Barockmeisters. Grundlegend für die spätere Kronstädter Tätigkeit Lassels wurde aber nicht nur die Bekanntschaft mit dem Erbe Bachs, sondern auch mit den in Leipzig noch allgegenwärtigen Werken Mendelssohns. Daneben sollte die Begegnung mit dem traditionsreichen Thomanerchor in Siebenbürgen noch ihre Spuren hinterlassen. Musikalisches Ergebnis seiner Ausbildung war Lassels bekanntestes Orgelwerk, Präludium und Fuge in c-Moll (op. 1 Nr. 1), das er zu seiner Abschlussprüfung am 28. April 1883 in der Leipziger Nikolai­kir­che vortrug. Diese Komposition ist mittlerweile mehrfach einge­spielt worden und zählt heute dank zahlreicher Konzertdar­bie­tun­gen in den letzten Jahren zum Repertoire vieler Organisten, die sich mit dem 19. Jahrhundert befassen.

In Lassels Leipziger Studienzeit fallen auch einige Liedkomposi­ti­o­nen – eine Gattung, die den Großteil seines kompositorischen Vermächtnisses ausmachen sollte. Betrachtet man die noch erhal­tenen Zeugnisse des Leipziger Konservatoriums, konnte Lassel seine Studien in Mitteldeutschland mit Bravour abschließen. So attestierte ihm Jadassohn am 23. Februar 1882: „H. Lassel ist ein außergewöhnlich glücklich begabter junger Mann. Da derselbe mit seinem reichen Talente reges Streben u. ernsten ausdau­ern­den Fleiß verbindet, so macht er überraschende Fortschritte in der Theorie der Musik. Seine Arbeiten verdienen das Prädikat ‚vorzüglich‘.“ Lassels Orgellehrer und Nikolaiorganist Robert Papperitz (1826-1903) resümiert im Abschlusszeugnis vom 8. Juli 1883: „Herr Lassel hat seine Studien mit vorzüglichem Fleiß betrieben und ist bereits im Besitz einer virtuosen Technik. Die Fähigkeiten für Orgelkomposition und für practischen Kirchen­dienst reifen einer nach jeder Seite hin künstlerischen Entwick­lung zu.“

Obwohl Lassel mit seinen ausgezeichneten Zeugnissen wohl auch im Deutschen Reich gute Berufsaussichten gehabt hätte, ent­schloss er sich im September 1883, in seine siebenbürgische Heimat zurückzukehren. Nach einer kurzen Beschäftigung als Volksschulgesangslehrer in Kronstadt fand er Ende Dezember 1884 eine Anstellung als Musikpädagoge am Seminar und Gym­na­sium im nordsiebenbürgischen Bistritz. Zu den privaten Ereignissen dieser Zeit zählte seine Heirat mit Bertha Gusbeth, der Tochter eines Kronstädter Arztes. Die Zuneigung fand auch einen musikalischen Niederschlag: Er widmete seiner Liebsten im Februar 1885 gleich mehrere Lieder für Singstimme und Klavier mit den teils bezeichnenden Titeln: „Frühlingsglaube“, „Liebes­frühling“, „Und ob der holde Tag vergangen“ und „Mädchen mit dem roten Mündchen“.

Während dieser Zeit lag das kirchliche Musikleben in Lassels Geburtsstadt darnieder. Der damalige Kronstädter Organist und Dirigent Hermann Geifrig vernachlässigte seine Aufgaben zuneh­mend, hatte psychische Probleme und wurde schließlich im Sommer 1886 in eine Irrenanstalt eingewiesen. Lassel erfuhr natürlich von der Vakanz in der Kirchenmusik der Schwarzen Kirche. Er bewarb sich und wurde schließlich vom Kronstädter Presbyterium im Februar 1887 einstimmig gewählt. So kehrte er in seine Heimatstadt zurück, der er bis zu seinem Tod im Januar 1918 treu bleiben sollte.

Kronstadt besaß zu dieser Zeit mit der frühromantischen Buch­holz-Orgel der Schwarzen Kirche eines der größten und besten Kircheninstrumente in ganz Europa. Von daher verwundert es nicht, dass am Anfang von Lassels Wirken die Bemühungen um das Orgelspiel standen. Der traurige Zustand der Sakralmusik unter Lassels Vorgänger fand sogar seinen Niederschlag in einem kirchlichen Aktenprotokoll des Jahres 1884: „Es muß schon ein Orgelvirtuos nach Kronstadt kommen, damit wir wieder einmal daran erinnert werden, daß wir eine Orgel besitzen, welche weit und breit ihres Gleichen nicht hat.“ Sofort nach Lassels Amts­antritt im Frühjahr 1887 änderte sich dies schlagartig. Der „Orgel­vortrag zum Schluss“ bekam einen eigenen liturgischen und beinahe konzertmäßigen Wert in jedem Sonntags­got­tes­dienst, wovon sogar die allwöchentlichen Vorankündigungen in der Kronstädter Zeitung zeugen. Dabei lassen sich zwei Vorlie­ben Lassels ausmachen, zum einen die in Kronstadt noch unbe­kannten großen Orgelstücke von Johann Sebastian Bach, zum anderen die Werke zeitgenössischer Komponisten. Auch diese waren in Siebenbürgen bis dato noch sozusagen unerhört geblie­ben. Dazu zählen allen voran Kompositionen von Alexandre Guilmant (1837-1911), Joseph Rheinberger (1839-1901), Franz Liszt (1811-1886), Max Reger (1873-1916) oder Johannes Brahms (1833-1897). Auch im Bereich der Vokalmusik gab Lassel zunächst den Meistern des 19. Jahrhunderts den Vorzug, dabei interpretiert er mit dem Evangelischen Kirchenmusikverein überwiegend Werke Leipziger Romantiker wie Moritz Haupt­mann (1792-1868), Ernst Friedrich Richter (1808–79) oder Chöre und Lieder seiner einstigen Lehrer Salomon Jadassohn und Carl Piutti.

Natürlich war die sonntägliche Liturgie für Lassel auch der Ort, die wenigen eigenen Orgelkompositionen vorzutragen. Des Öfteren spielte er sein Präludium und Fuge c-Moll oder seine Choralphantasie über „Ein feste Burg ist unser Gott“ (op. 1 Nr. 2). Daneben dürfte Lassel häufig improvisiert haben, denn in den zahlreichen Nachrufen seines Todesjahres 1918 ist von seiner „unerschöpflichen Erfindungsgabe“ die Rede. Auch in sommer­li­chen Kirchenkonzerten gab es zuweilen Improvisationen Las­sels. So phantasierte er im Juli 1912 im Rahmen einer solchen Veranstaltung über die Choralmelodie „Näher mein Gott zu dir“. Der Anlass der Improvisation war der Untergang der Titanic am 15. April gleichen Jahres, der mit 1.517 Todesopfern die zeitge­nös­sischen Gemüter selbst im fernen Siebenbürgen bewegte. Laut Zeitungskritik beschrieb Lassel mit seiner Orgelmusik das Leid der unglücklichen Schiffbrüchigen und deutete ihren Tod als „Befreiung von allem Irdischen“. Lassel wurde als großer „Poet an der Orgel“ gefeiert.

Nach der Erneuerung der Orgelmusik widmete sich Lassel in den Neunzigerjahren intensiv dem großen Feld des Vokalen. Parallel zu seinem Kirchendienst engagierte er sich dabei von 1889 bis 1901 auch als Konzertmeister des schon 1859 gegründeten Kron­städter Männergesangvereins. Er wollte „dem feineren musika­lischen Geschmack“ des Bürgertums Rechnung tragen, erweiterte das Repertoire des Vereins beständig und integrierte ihn fest in das kirchliche und städtische Konzertleben. Zu den Höhepunkten gehörten dabei vor allem regelmäßige Konzerte in der Schwarzen Kirche und große Oratorienaufführungen, die als Koproduktionen mit den anderen Musikgemeinschaften der Karpatenstadt statt­fan­den. Dazu zählten im ausgehenden 19. Jahrhundert vor allem die Philharmonische Gesellschaft, die Stadtkapelle und der Rumä­nische Turn- und Gesangverein. So erklangen unter Lassels Diri­gat in den Jahren 1891 und 1901 in multiethnischer Besetzung beispielsweise Mendelssohns „Elias“ oder im Jahre 1896 Josef Haydns „Schöpfung“. Lassel komponierte natürlich auch selber fleißig für den Männergesangverein: Männerchöre im Stile Men­dels­sohn Bartholdys machen einen bedeutenden Teil seines musikalischen Nachlasses aus.

Nicht nur in der ästhetischen Aspekten lehnte sich Lassel eng an das Vorbild des Leipziger Konservatoriumsgründers an, sondern auch in seinen Bemühungen um das Erbe von Johann Sebastian Bach könnte man ihn als „siebenbürgischen Mendelssohn“ bezeichnen. Nachdem sich nämlich das Kronstädter Publikum an den Klang der Orgelmusik des Thüringers gewöhnt hatte, begann Lassel ab der Jahrhundertwende mit der Aufführung der Bach’schen Vokalmusik – ein Novum für Siebenbürgen. Er ging dabei recht behutsam vor und brachte zunächst vereinzelt einmal sonntags vor der Predigt eine Arie oder einen Chorsatz aus einer Kantate zu Gehör. Auch auf den Programmzetteln der Kirchen­konzerte waren nun Stücke aus dem Vokalschaffen Bachs zu finden – zumeist eingängige und populäre Arien und Chorsätze, also gleichsam der leicht bekömmliche Bach. Lassel wollte den Kronstädtern so die unbekannte Musik schmackhaft machen. Dem engagierten Kantor schwebte dabei ein ganz konkretes Ziel vor, das sich im Jahre 1907 offenbaren sollte: die erste Darbie­tung einer vollständigen Bachkantate in Südosteuropa überhaupt. Lassel zeigte dabei pädagogisches Fingerspitzengefühl: Zur Vor­bereitung seines Publikums auf das Konzertereignis hielt er Ein­füh­rungsvorträge und verfasste erläuternde Artikel in der Kron­städter Zeitung, in welchen er von Bach als dem „Altmeister der Tonkunst“ und „Grund- und Eckstein aller Musik seit zwei Jahrhunderten“ sprach. Er hob die Bedeutung hervor, die dem Thomaskantor für den Protestantismus zukam. Die Kantaten-Aufführung selbst fand am 20. Februar 1907 statt. Zu den jungen Mitwirkenden gehörte auch der spätere Kronstädter Musikschrift­steller Konrad Nußbächer, der fast zwanzig Jahre später schrieb: „Ich erinnere mich deutlich an die Begeisterung, mit dem [sic!] unser Führer und wir Kirchenbuben an die Aufführung heran­traten, an die Freude, die uns das herrliche Werke, das uns bald so vertraut war, machte, ich erinnere mich auch an die langen Gesichter und die Verständnislosigkeit des Publikums bei der Aufführung. Kein besseres Zeugnis für Lassels erzieherische Wirksamkeit kann es geben, als gerade das allmählich erwachen-de Verständnis unserer Bevölkerung für Bach.“

Größere Sympathien als das offenbar überforderte Publikum schien im Jahre 1907 der Kommentator der Kronstädter Zeitung der Aufführung entgegengebracht zu haben: „Das Werk ist von wunderbarer Schönheit, durchaus nicht schwer verständlich (wie das landläufige, aber falsche Urteil über Bach lautet), sondern im Gegenteil klar, durchsichtig, … und im besten Sinne volkstümlich. … Aber dankbar müssen wir dem Herrn Musikdirektor Lassel sein, daß er mit seinem Konzert, … die Erschließung eines bisher bei uns wenig bekannten musikalischen Gebietes beginnt, das die viele in den Proben darauf verwendete Mühe wert ist.“ Die apologetische Stimmung des Artikels bestätigt den eher negativen Eindruck, den die Aufführung beim Publikum hinterlassen haben muss. Trotzdem ließ sich Lassel von einer Fortsetzung seiner Bemühungen um das Erbe Bachs nicht abschrecken. In den Folgejahren kam es nun häufiger zu Kantatenaufführungen: Der Anfang der Bachrenaissance in Südosteuropa war gemacht.

Wie konnte Lassel jedoch die Aufführungen der Bach’schen Vokal­musik technisch ermöglichen? Hier dürfte sein pädago­gi­sches Geschick und seine Leipziger Erfahrungen eine fruchtbare Symbiose eingegangen sein: Neben seiner Beschäftigung als Kirchenmusiker war Lassel gemäß Kronstädter Tradition auch Musik­lehrer am evangelischen Gymnasium. Seine auch heute noch modern wirkenden Ansichten zur Ausführung von Kirchen­musik gab er als Herausgeber eines fünfbändigen Liederbuches kund: Mattigkeit ist für ihn der „Tod jeder Leistung“, ohne Temperament gibt es kein Musizieren, auch und gerade in der Kirche. Er warnt vor der Ansicht, dass alles „auf der Orge­l-empore auch immer schön gemütlich und langweilig herge­hen müsse“. Bereits nach wenigen Jahren sollte Lassels päda­go­gisches Bemühen Früchte tragen: Er gründete aus musisch begabten Schülern einen fest strukturierten Chor für die Auf­führung anspruchsvoller Werke der sakralen Tonkunst. Dieser so genannte Schülerkirchenchor wuchs von anfänglich 30 Sän­gern auf über 70 Mitglieder schon im Sommer 1898. Er wurde zur festen Institution im Kronstädter weltlichen und kirchlichen Musikleben. Die Leipziger Thomaner ließen grüßen! Bach’sche Kirchenmusik und die Werke Leipziger Romantiker gehörten zum Repertoire der Singgemeinschaft. Daneben führte Lassel auch eigene sakrale Werke auf, zu deren bedeutendsten zwei­felsohne die ersten drei Teile seiner unvollendeten „Leidensge­schichte“ nach Matthäus für Chor, Solisten und Orgel (op. 23) zählen dürften. Einen Einschnitt brachte der Erste Weltkrieg, während dessen die Zahl der Choristen durch Rekrutierungen rückläufig war. In dieser Zeit wurden erstmals Schülerinnen auf­ge­nommen. Die Chorgründung Lassels bekam im Laufe der Zeit auch überregionale Bedeutung: Vom Kronstädter Vorbild angeregt wurden in vielen deutschen Gemeinden Siebenbür­gens Schülerchöre gegründet.

Neben seinen dienstlichen Verpflichtungen war Lassel auch im Privaten musikpädagogisch tätig. Er erteilte Unterricht in den Fächern Gesang sowie Klavier- und Orgelspiel. Lassels wich-tigster Schüler dürfte Paul Richter (1875-1950) gewesen sein, der heute zu den angesehensten Komponisten Rumäniens gezählt wird. Von Richters Dankbarkeit und Freundschaft zeugt die Widmung seiner Klaviersonate op. 12 Nr. 1 in c-Moll an seinen „lieben Lehrer und Freund Rudolf Lassel“.

Eine Wende in Lassels positivem Lebensgefühl brachte offenbar die Zeit des Ersten Weltkrieges. Das Sterben auf den Schlacht­feldern ließ „die Augenblicke der Heiterkeit“ in seinem Leben seltener werden. Auch einige seiner ehemaligen Schüler wurden Kriegsopfer. Am 6. Juni 1915 fiel dann Sohn Erwin, ältestes von insgesamt drei Kindern Lassels. Der Vater verarbeitete seine Er­fahrungen mit dem Kriegssterben auf musikalische Art, in seinem Werk Für uns op. 29 Nr. 2 für gemischten Chor, Soli und Orchester oder Klavierbegleitung. Es ist „dem Andenken an unsere gefallenen Helden“, dabei auch dem gefallenen Sohn Erwin Lassel gewidmet. Der Tod der jungen Soldaten wird dabei als Heldentat und Opfer gedeutet, sicherlich eine Möglichkeit der Trauerbewältigung. Andererseits zeigt sich hier ein gewisser unkritisch-opportunistischer Zug im Umgang mit den politischen Verhältnissen.

Hervorzuheben sind Lassels häufige Reisen an den rumänischen Königshof in Bukarest und in die Residenz in Sinaia, die vierzig Kilometer südlich von Kronstadt in dem damals schon rumäni­schen Teil der Karpaten liegt. Dort spielte er Klavier und Orgel vor Königin Elisabeth, einer geborenen Prinzessin zu Wied, die unter ihrem Dichternamen Carmen Sylva bekannt ist. Lassel vertonte zwei Texte der Monarchin zu Liedern für eine Sing­stimme und Klavier. Nach dem Tod der Königin im März 1916 und der Kriegserklärung Rumäniens an Österreich-Ungarn im August selbigen Jahres waren Lassels künstlerische Auftritte am rumänischen Hof nicht mehr opportun.

Starb der Vorgänger Lassels, Hermann Geifrig, in der Irrenanstalt und dessen Vorgänger am Alkohol, so ereilte auch Lassel ein tra­gischer Tod: Wohl aufgrund des engagierten Dienstes in der unbe­heizten Schwarzen Kirche wurde er am 18. Januar 1918 Opfer einer Lungenentzündung. Noch in der gesamten Zwischen­kriegszeit wurden Lassels Vokalwerke vor allem in Kronstädter Vereinen gepflegt, ohne dass sie jedoch über die siebenbürgi­schen Grenzen hinweg Bedeutung erlangen konnten. Zum 150. Geburtstag des Künstlers wurde endlich eine Gedenktafel in der Schwarzen Kirche enthüllt. Langsam erlebt das kompositorische Vermächtnis des „siebenbürgischen Mendelssohn“ durch neue CD-Einspielungen und Notenpublikationen eine überregionale und durchaus verdiente Renaissance!

Lit.: Schriftsteller-Lexikon der Siebenbürger Deutschen, Band 8, S. 349-356. – Egon Hajek, Die Musik. Ihre Gestalter und Verkünder in Sie-benbürgen einst und jetzt. Klingsor-Verlag, Kronstadt 1927, S. 49-61. – Wolfgang Sand, Kronstadt. Das Musikleben einer multiethnischen Stadt bis zum Ende des Habsburgerreiches (= Musikgeschichtliche Studien Band 8), Gehann-Musik-Verlag, Kludenbach 2004, ISBN 3-927293-26-1. – Wolfgang Sand, Rudolf Lassel und die evangelische Kirchenmusik in Kronstadt (Siebenbürgen) auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert (= Musikgeschichtliche Studien Band 3). Gehann-Musik-Verlag, Kluden-bach 1999, ISBN 3-927293-15-6.

Notenausgaben: Orgelwerke (Präludium und Fuge c-Moll, Choralphan­tasie über „Ein feste Burg“), hrsg. von Raimund Schächer. Cornetto-Verlag. Stuttgart 1996. – Chorwerke für Soli, Chor und Orgel, hrsg. von Wolfgang Sand, Gehann-Musik-Verlag, Kludenbach 1997. – Rudolf Lassel: Die Leidensgeschichte unseres Herrn Jesus Christus (Matthäus­passion), hrsg. von Kurt Philippi, Schiller-Verlag, Hermannstadt/Bonn 2011, ISBN: 9783941271654. – Streichquartett in B-Dur (= Musik aus Siebenbürgen, Heft 3), hrsg. von Melinda Béres, Schiller-Verlag, Her­mannstadt/Bonn 2012, ISBN: 9783941271760. – Geistliche und welt­liche A-Cappella-Chöre (= Musik aus Siebenbürgen, Heft 6), hrsg. von Steffen Schlandt, Schiller-Verlag, Hermannstadt/Bonn 2012, ISBN 9783941271845.

CD-Einspielungen: Eine siebenbürgische Passionsmusik, Teil I: Grün­don­nerstag, Bachchor Hermannstadt, Leitung: Kurt Philippi. Dauer: 77:04 Min., Strube-Verlag, VS 6284. – Machet die Tore weit. Weih­nachts­musik in Siebenbürgen, darin Weihnachtslied von Rudolf Lassel. Bachchor Hermannstadt, Leitung: Kurt Philippi. Dauer: 75:25 Min. Strube-Verlag, VS 6231. – Orgellandschaft Siebenbürgen (2 CDs), darin: Fantasie über „Ein feste Burg“ und Präludium und Fuge c-Moll, Organisten: Ursula Philippi und Eckart Schlandt. Musikproduktion Dabringhaus und Grimm, MDG 319 0414-2.

Bild: https://benighegoiu.wordpress.com.

Wolfgang Sand