Hans Graf von Lehndorff wurde am 13. April 1910 in Graditz bei Torgau geboren. Graditz war neben Trakehnen ein Bestandteil des preußischen Hauptgestüts. Sein Vater, Siegfried Graf Lehndorff, war Leiter des Preußischen Hauptgestüts.
Seine Kindheit, in die auch die Zeit des Ersten Weltkrieges fiel, verbrachte der Graf in Sachsen. In seinen Erinnerungen beschreibt er glückliche Kindheitstage. 1922 übersiedelte die Familie nach Trakehnen in Ostpreußen. Seine Jugendzeit erlebte der Graf in Ostpreußen, wo er auch sein Abitur ablegte. In der Freizeit beschäftigte er sich mit Jagd und Pferdezucht. Gejagt wurde auch in der Rominter Heide, dem ehemaligen Hofjagdgebiet von Kaiser Wilhelm II. Zu den gelegentlichen Gästen in Trakehnen, einem der schönsten Besitze Ostpreußens, zählten auch der Reichspräsident von Hindenburg und der ehemalige Feldmarschall Ludendorff. Von Trakehnen erfolgten auch häufige Besuche auf Gut Januschau, wo Lehndorffs Mutter, eine gebürtige Gräfin Oldenburg-Januschau, lange Zeit lebte, und das der Graf als seine zweite Heimat empfand.
Lehndorff wurde in deutschnationalem Geiste erzogen, im Vordergrund standen der Erwerb soldatischer Tugenden und der Dienst am Vaterland. Nach dem Abitur im 20 Kilometer entfernten Gumbinnen studierte Lehndorff Medizin an den Universitäten München und Berlin. Er unternahm Studienreisen nach Paris und London. Nachdem er an der Preußischen Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin (heute: Humboldt-Universität) sein medizinisches Staatsexamen im Jahre 1936 abgelegt hatte, wurde er Assistenzarzt am Martin-Luther-Krankenhaus in Berlin. Es zog ihn jedoch in das heimatliche Ostpreußen, ab 1941 war er Assistenzarzt am Kreiskrankenhaus in Insterburg.
Bereits nach dem Reichstagsbrand 1933 hatte er eine instinktive Abneigung gegen die Nationalsozialisten wegen ihres rüden und plebejischen Auftretens entwickelt, die sich nach dem sogenannten Röhm-Putsch im Sommer 1934 noch verstärkte. Hitler versuchte, nicht nur die ihm lästig gewordenen SA-Führer zu liquidieren, sondern auch ihm nicht mehr genehme konservative Politiker. Dies nahm Lehndorff zum Anlass, um gemeinsam mit einem Freund zu dem greisen Reichspräsidenten von Hindenburg auf Gut Neudeck vorzudringen, um ihn zum Eingreifen gegen dieses nationalsozialistische Unrecht zu veranlassen. Der hochbetagte Reichspräsident war jedoch nicht erreichbar; die SS-Wachen schirmten ihn von jedem Besuch ab.
1939 wurde Lehndorffs 1920 geborener Bruder Meinhard zur Wehrmacht eingezogen und fiel kurz nach Kriegsausbruch im Frankreichfeldzug bei Maubeuge.
1941 wurde Hans Graf von Lehndorff Assistenzarzt am Kreiskrankenhaus Insterburg. Hier in Insterburg schloss sich der gläubige Protestant auch einem Bibelgesprächskreis an, der das Johannesevangelium interpretierte und Bezüge zum „Dritten Reich“ Adolf Hitlers zu erkennen glaubte. So gelangte er zur Bekennenden Kirche, die sich dem Widerstand gegen Hitler verschrieben hatte und die sich den sogenannten „Deutschen Christen“ unter Reichsbischof Müller mutig entgegenstellte.
Im September 1944 wurde ein Vetter des Grafen, Heinrich Graf von Lehndorff-Steinort, wegen seiner Beteiligung an der Verschwörung des 20. Juli 1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Diesem Angehörigen der Lehndorff-Familie hat Marion Gräfin Dönhoff in ihrem Beitrag Leben und Sterben eines Preußischen Edelmannes in ihrem Buch Namen, die keiner mehr nennt ein würdiges Denkmal gesetzt.
Das Kriegsende 1945 erlebte Hans Graf Lehndorff als Arzt an einem Wehrmachtslazarett in Königsberg. Bis 1947 war er als Arzt in dem zum Untergang verurteilten Ostpreußen tätig. Seine Erlebnisse in dieser Zeit hat er in seiner bekanntesten Veröffentlichung, dem Ostpreußischen Tagebuch, beschrieben. Dieses Buch beruht nach seinen eigenen Aussagen zum Teil auf geretteten Tagebuchaufzeichnungen, zum größeren Teil jedoch auf der Rekonstruktion der Ereignisse nach seinem Gedächtnis. Die nüchterne Form der Darstellung lässt jedoch keinerlei Zweifel daran aufkommen, dass es sich – insbesondere bei den geschilderten Grausamkeiten der Roten Armee gegen die deutsche Zivilbevölkerung – um Tatsachen handelt. Spätere Veröffentlichungen sowjetischer Dissidenten, wie z. B. Lew Kopelew und Viktor Nekrassow, haben seinen Bericht bestätigt, hinzu kommen zahlreiche protokollierte Aussagen vertriebener Ostpreußinnen und Ostpreußen, die in den Archiven des ehemaligen Bundesministeriums für Flüchtlinge, Vertriebene und Kriegsgeschädigte, die später dem Bundesinnenministerium zugeordnet wurden, niedergelegt sind.
Das Ostpreußische Tagebuch erschien zunächst 1960 als Beiheft einer Veröffentlichung des Bundesvertriebenenministeriums, erst danach in Buchform. Es erlebte über 20 Auflagen und wurde auch verfilmt. Die Erlöse aus dem Verkauf dieses Buches kamen zum großen Teil der „Aktion Sühnezeichen“ zugute, einer Organisation, in der sich deutsche Jugendliche um Wiedergutmachung und Wiederaufbau in den während des Zweiten Weltkrieges von Deutschland besetzten Ländern bemühten.
Während seines Zwangsaufenthaltes in den Jahren 1945-1947 in Ostpreußen, das nun keine Heimat mehr war, half Lehndorff mit seiner ärztlichen Kunst und den ihm zur Verfügung stehenden spärlichen Mitteln deutschen Verwundeten und Kriegsgefangenen, verhungernden, erfrierenden und vergewaltigten deutschen Frauen und Kindern, ja sogar den sowjetischen Vergewaltigern, die aufgrund ihrer Maßlosigkeit unter Geschlechtskrankheiten litten. Er versorgte sie mit Penicillin, so lange ihm dies möglich war. Mancher andere wäre unter der Last dieser Arbeit und des erlittenen Schreckens zusammengebrochen, er tat seine Pflicht und fand selbst in dieser entsetzlichen Lage Trost im christlichen Glauben.
Ende Januar 1945 wurden Lehndorffs Mutter und sein Bruder auf der Flucht von russischen Soldaten erschossen. Der Graf, der selbst den schlimmsten Katastrophen noch etwas Tröstliches abzugewinnen wusste, schrieb in seinem Ostpreußischen Tagebuch: „Ich war froh, daß es so schnell ging.“
Ab 1947 lebte der Graf in Bad Godesberg. Er unterhielt eine Privatklinik in der Hensstraße, einer Nebenstraße der Rheinallee. Darüber hinaus hatte er eine Arztpraxis in der Godesberger Bahnhofstraße. Er kümmerte sich aufopfernd um seine Patienten und er behandelte Kassen- und Privatpatienten mit der gleichen Sorgfalt.
Ab 1949 war er Ehrenritter des Johanniterordens und ab 1952 Rechtsritter. 1956 starb der Vater des Grafen, Graf Siegfried Lehndorff, dem 1945 die Flucht nach Westdeutschland geglückt war. Hans Graf Lehndorff betätigte sich auch in der diakonischen Arbeit, der Gefangenenseelsorge und der Fürsorge für Drogenabhängige. 1981 erhielt er den Preußenschild der Landsmannschaft Ostpreußen und 1984 die Paracelsus-Medaille der Deutschen Ärzteschaft. Er war verheiratet mit Gräfin Margarethe Finck von Finckenstein. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor.
Am 4. September 1987 starb er, wenige Monate nach dem Tode seiner Frau. Er wird als Mann von wahrhaft vorbildlichem Verhalten nicht nur den Ostpreußen und seinen ehemaligen Patienten, sondern einer großen Anzahl von Deutschen in Erinnerung bleiben.
Im Jahre 2006 wurde eine Straße in Bonn-Bad Godesberg zu seinem Gedächtnis und zu seinen Ehren in Graf-Lehndorff-Straße benannt.
Lit.: Marion Gräfin von Dönhoff, Namen, die keiner mehr nennt. Ostpreußen, Menschen und Geschichte, Leer 1994. – Erich Kock, Chronist des „nüchternen Mundes“, in: „Die politische Meinung“. Monatsschrift der Konrad-Adenauer-Stiftung Nr. 366, Mai 2000, S. 74 /75. – Hans Graf von Lehndorff, Ein Bericht aus Ost- und Westpreußen, Düsseldorf 1960 = Drittes Beiheft zur Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Mittelosteuropa. – Hans Graf von Lehndorff, Ostpreußisches Tagebuch. Aufzeichnungen eines Arztes aus den Jahren 1945 bis 1947, München 1961 (21. Auflage 2006). – Hans Graf von Lehndorff (Hrsg.), Die Briefe des Peter Pfaff 1943-1944, Wuppertal 1964. – Hans Graf von Lehndorff, Die Insterburger Jahre. Mein Weg zur Bekennenden Kirche, München 1969. – Hans Graf von Lehndorff, Lebensdank, o.O., 1983. – Hans Graf von Lehndorff, „Komm in unsere stolze Welt“ (Kirchenlied), Evangelisches Gesangbuch Nr. 428. – vgl. auch Florian Huber, Kind, versprich mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945, Berlin 2015.
Bild: Cover „Ostpreußisches Tagebuch“ (Innenseite), 8. Auflage, München 1961.
Johann Frömel