Biographie

Lenz, Siegfried

Herkunft: Ostpreußen
Beruf: Schriftsteller
* 17. März 1926 in Lyck/Ostpr.
† 7. Oktober 2014 in Hamburg

Siegfried Lenz gehört zu den Gegenwartsautoren, die schon zu Lebzeiten kanonisiert worden sind. Nun ist es nicht unbedingt der Ehrgeiz eines literarischen Autors „Lehrplanstoff“ zu werden. Aber der Roman „Deutschstunde“ (1968) entsprach in idealer Weise dem Zeigeist der späten 1960er Jahre: Der Vater-Sohn-Konflikt im Roman steht gleichnishaft für den Generationskonflikt dieser Zeit, für die Frage nach Mitschuld und Reue der Väter-Generation, die unter die Verbrechen während der NS-Zeit einen Schlussstrich ziehen wollte. Die Startauflage des Romans lag bei 700.000 Exemplaren. Unbegreiflicherweise schlussfolgern manche Kritiker aus der großen Resonanz, die dieser Roman Siegfried Lenz` noch immer bei Lesern findet, der Autor habe sich hier – wie auch  in seinen anderen Texten mit vergangenheitsgeschichtlichem Stoff – in populistischer Manier dem Publikum angepasst. „Seine Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit in den Romanen, Erzählungen, Geschichten und Hörspielen trage zu sehr die Spuren des Persönlichen und sei gleichzeitig so allgemein, ja neutral gehalten, dass er damit der Neigung seiner Leser entgegenkomme, die unliebsame nationalsozialistische Vergangenheit zu verdrängen“, fasst Karl Hotz die Urteile des Feuilletons zusammen.

Diese Kritik ist nicht nachvollziehbar – erwächst doch gerade aus der Synthese von Besonderem und Allgemeinen in der Figurenanlage das, was Fachleute als repräsentativen Charakter mit hohem Identifikationspotenzial schätzen und für ein wichtigstes Wirkungskriterium von Literatur halten.

Vermutlich zielt die Kritik auf anderes – nämlich auf das Funktionsverständnis von Lenz, der die Wirkung von Literatur nicht überschätzt („.Als Schriftsteller habe ich erfahren, wie wenig Literatur vermag, wie dürftig und unkalkulierbar ihre Wirkung war und immer noch ist“), in ihr andererseits ein Instrument der Bewusstseinsbildung erblickt: „Immerhin muss man zugeben, dass sie, auch wenn sie die Verhältnisse nicht geändert hat, etwas anderes erreichte, nämlich unser Verhältnis zur Welt zu ändern. Indem sie bloßstellte, aufklärte, bewußtmachte, wirkte sie.“ Ein solches Bekenntnis passt nicht zum postmodernen Literaturbetrieb, dem sich Lenz auch in formaler Hinscith verweigert. Seine Texte sind in gutem Sinne „altmodisch“, haben eine benennbare Erzählinstanz, eine leicht nachvollziehbare Fabel und vor allem ein Thema, das sich dem Leser erschließt und seiner Lebenswirklichkeit nahekommt; ganz im Sinne des klassischen „et prodesse et delectare“.

Wer konnte, wer kann sich von den 13 Romane, den zahlreichen Erzählungen, Hörspielen und Essays angesprochen fühlen?

Das sind zum einen Heimatvertrieben wie der Autor selbst, denen wenig mehr geblieben ist als die Erinnerung an ihre Herkunftsorte in den historischen deutschen Ostgebieten. In diesem guten Sinne ist Lenz sicherlich ein Heimatschriftsteller. Zygmunt Rogalla (Held des Romans „Heimatmuseum“ von 1978) fasst den Heimatbegriff auf seine Weise: „Was spricht denn gegen den Versuch, dieses Wort von seinen vielfältigen Belastungen zu befreien? (…) Es ist der Platz, an dem man aufgehoben ist, in der Sprache, im Gefühl … Es gibt keine Rückkehr, es gibt überhaupt für keinen eine Rückkehr zu dem, was einmal war.“ Aber es gibt Landschaften der Erinnerung, die Lenz auf eine Weise imaginiert, die den Lesern gefällt, aber von der Kritik als traditionell, weil „kaum einmal ästhetische Experimente wagend“ (Hotz) abgelehnt wird.

Heimatliche Landschaften lässt Lenz auch in dem Kurzgenschichtenband „So zärtlich war Suleyken“ vor uns erstehen – und er bevölkert diesen fiktiven Ort mit liebenswürdig-sku-rillem Personal.

Ein anderes Thema Siegfried Lenz‘ ist der Umgang mit der jüngeren Geschichte: In dem Roman „Deutschstunde“ von 1968 geht es nicht allein darum, dass der Jugendstrafgefangene Siggi Jepsen einen deutschen Aufsatz zum Thema „Die Freuden der Pflicht“ schreiben muss – der Leser erhält zugleich eine Unterrichtung über die sehr deutsche Tugend bedingungsloser Pflichterfüllung auch in finsterer Zeit. Lenz vermittelt dem Leser ohne didaktischen Zeigefinger die  Einsicht, dass kollektive, sich auf das Prinzip von Befehl und Gehorsam berufende Verantwortungslosigkeit den Einzelnen mitschuldig werden lässt. Wie schwer es ist, die inneren und äußeren Spuren von Krieg und Gewalt zu tilgen, zeigt 1985 der Roman „Exerzierplatz“ .Dargestellt wird, wie auf einem ehemaligen Exerzierplatz eine Baumschule entsteht – ein durchaus symbolträchtiger Vorgang. Aber die Idylle ist gefährdet: Aus nicht nachvollziehbaren Gründen verlangt eine Behörde, den gesamten Baumbestand zu vernichten.

Als einen weiteren Themenbereich Lenzʿ könnte man die moralische Verantwortung des Individuums bezeichnen. Da gibt es die einfachen Leute in subalterner Stellung, die mehr tun als ihre Pflicht – kein Postbeamter ist z.B. verpflichtet, den Adressaten eines „toten Briefes“ nicht nur zu ermitteln, sondern ihn aufzusuchen, um einem abgewiesenen Asylbewerber die Todesstunde zu erleichtern. In „Schweigeminute“ thematisiert Lenz das heikle Thema „Schüler liebt Lehrerin“ so diskret und ohne Schuldzuweisung, dass der Leser sich willig auf eine Idylle einlässt, die freilich in eine Tragödie mündet.

Es ist unmöglich, das umfangreiche Œuvre im Einzelnen zu würdigen – ist es doch in einem über 60 Jahre währenden Schaffensprozess entstanden. Wie gut, dass Lenz seinen ursprünglichen Plan, Lehrer zu werden, nicht umgesetzt hat! Das gleich nach Desertion und englischer Kriegsgefangenschaft in Hamburg begonnene Studium (Philosophie, Anglistik, Literaturwissenschaft) hat Lenz nie abgeschlossen. Die als studentische Nebentätigkeit begonnene journalistische Arbeit bei der „Welt“ wird bald zum Beruf, und nach dem Romandebüt mit „Es waren Habichte in der Luft“ (1951) gibt Lenz die Brotarbeit gänzlich auf. Zahlreiche Literaturpreise tragen zum Lebensunterhalt bei. Sicherlich war es auch karrierefördernd, mehrfach zu Tagungen der Gruppe 47 eingeladen zu werden. Nicht allein darin besteht ein Berührungspunkt zur Biographie des ebenfallels heimatvertriebenen Günter Grass: Übereinstimmungen zeigen sich auch im politischen Engagement beider Autoren als SPD-Wahlkampfhelfer und Vertraute von Willy Brandt und Helmut Schmidt.

Als Lenz 2014 achtundachzigjährig starb, verlor die deutsche Literatur einen der letzten Moralisten und Zeitzeugen von Krieg und Vertreibung. Helmut Schmidt hat ihm die Tugenden Gelassenheit und Verantwortung zugesprochen. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Bild: https://ais.badische-zeitung.de/piece/01/c7/f3/48/29881160.jpg

Jörg B. Bilke