Biographie

Lenz, Siegfried

Herkunft: Ostpreußen
Beruf: Schriftsteller
* 17. März 1926 in Lyck/Ostpr.
† 7. Oktober 2014 in Hamburg

Neben Böll, Grass und Walser zählt Siegfried Lenz zu den unbestrittenen Klassikern der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Obzwar ihnen verwandt durch Herkunft aus dem Kleinbürgertum, durch Geschichtserfahrung, Kindheit und Jugend im Dritten Reich, durch literarische Bewußtseinsbildung im Realismus der frühen ‚Gruppe 47‘ und durch das sozialkritische Engagement aus republikanischer Tradition von Lessing über Büchner und Heine bis zu Heinrich Mann, zeigt Lenz gleichwohl ein unverkennbar eigenes Profil. Den „gelassenen Mitwisser“ nennt ihn Reich-Ranicki. Und dies mit gutem Grund. Denn Provokation und Polemik, spektakuläre Medien-Auftritte und politisches Eifertum sind nicht die Mittel seines Engagements. Schon früh, 1962, beschränkte sich Lenz auf den „wirkungsvollen Pakt mit dem Leser“, um die „bestehenden Übel zu verringern“ (Die Welt, 27.1.1962) und zielte damit in der Spur Sartres auf die Freiheit des Lesers, den Text auf seine Weise zu vollenden. „Literatur macht uns nur Vorschläge“, schreibt Lenz noch 1976 und appelliert gegen jegliches Sinndiktat an die hermeneutische Aktivität des einzelnen Lesers, an seine „Freude schöpferischen Erkennens durch Literatur“ (Zwischen Elfenbeinturm und Barrikade). Daß solche Erkenntnis freilich nicht beliebig ist, hat er selbst oft gezeigt und zeigt es auch den Lesern. Der Punkt, wo für ihn die Freiheit der Literatur und des Lesers ihr Ende, aber auch ihre Begründung finden, ist die moralische Verpflichtung gegenüber der Zeitgeschichte, insbesondere der nationalsozialistischen Diktatur. Daher die Werbung für die Ostpolitik der Regierung Brandt zu Beginn der 70er Jahre (Verlorenes Land – Gewonnene Nachbarschaft, 1971) und die Sympathie für Israel und seine Schriftsteller, die Freundschaft mit Amos Oz und Manès Sperber und mit dem polnischen Juden Reich, der mit dem Namen seines Retters als Reich-Ranicki der Vergasung entkam, daher der zeitgeschichtliche Fond und die „didaktische Energie“ seiner Bücher, die sich oft als Parabeln erweisen, und daher auch die Sympathie für das Mitleidsethos eines Dostojewskij und Tolstoj. Daher aber auch Auszeichnungen, wie der ‚Friedenspreis des deutschen Buchhandels‘ (1988) oder die Ehrendoktorwürde der Universität Jerusalem (1993), die die Würdigung von Lenz‘ literarischem Werk mit der Wertschätzung seiner Persönlichkeit verbinden. Beides, die moralische Verantwortung für die Zeitgeschichte u n d der menschenfreundliche Sinn für die existentielle Freiheit des einzelnen Lesers haben freilich nicht nur ihren historischen Ort –  in der Erfahrung des Nationalsozialismus und der Existenzphilosophie der Nachkriegszeit. Sie sind auch geographisch begründet: in Masuren.

Im östlichen Masuren, in einem deutsch-slawischen Raum, ist Siegfried Lenz als Sohn eines Lehrers geboren, genauer in Lyck (poln. Ełk), einer Kreisstadt mit ein paar tausend Einwohnern, gelegen am gleichnamigen See. Lyck ist das Lucknow des Heimatmuseums (1978) mit der Ordensritterburg und dem „schönsten“ Gefängnis Masurens, mit der Kavalleriekaserne und den staubigen Exerzierplätzen und dem Hindenburgdenkmal auf dem Markt, aber auch mit Eisseglerwettbewerben und Erntefesten und dem geheimnisvollen Borek-Wald mitsamt seinen „verläßlichen Sümpfen“, der hexenhaften Sonja Turk, dem vierkantigen Großvater Alfons Rogalla, dem schuldlosen Häftling Eugen Lawrenz und dem masurischen Paracelsus Jan Rogalla, der zu Kriegsbeginn in der siebenfarbigen Wolke seiner mörsergetroffenen Medizinampullen verschwindet. Kurz: die verschlafene Provinzstadt Lyck zwischen den beiden Weltkriegen ist nicht nur Lenz‘ ostpreußischer Geburtsort, sondern auch der Entstehungsort einer nur umso lebendigeren Phantasie. Der Ort ersteht in der Erinnerung des Erzählers Siegfried Lenz alias Zygmunt Rogalla noch einmal in Proustscher Présence – bis in die Sprache der Bewohner hinein, in der es „pucheit“, „sapscht“, „fijuchelt“,“schnürjelt“ und manchmal auch „jachert“. Jean Paul, der vorzüglichste Theoretiker des Humors, hat solche Achtung für die bunte Fülle des Einzelnen und Konkreten, anstatt für die allgemeine Idee als Grundlage humoristischen Erzählens bezeichnet: „Der Humorist geht am innigsten auf das Abweichende, auf den besonderen Fall ein“, denn der Humor „ist das umgekehrt Erhabene“, ist der „Kontrast mit der Idee“ (Vorschule der Ästhetik, § 32). So verstanden, ist Lenz‘ Sympathie für das Schrullige und Absonderliche überhaupt und für jeden einzelnen Bewohner seines Lyck-Lucknow, der, ob hoch oder niedrig, höflich mit vollem Namen respektiert wird, ja noch für das beiläufigste Substaniv, konkretisiert und aufgewertet durch ein wohlbedachtes Adjektiv („verläßliche Sümpfe“) –  ist all dies durchaus nicht behaglich gemeint, sondern bezogen auf das geschichtskritische Ethos als der anderen Seite in Lenz‘ Werk: Es ist wiedergespiegelt im poetologischen Inbild des Romans, in des Erzählers Heimatmuseum, einem überquellenden Magazin „rührender Zufälligkeit“ aus mittelalterlichen Urkunden und Chroniken, vandalischen Dolchen, pruzzischen Krügen, bosniakischen Jagdwaffen und sudauischen Trachten, Spangen, Fibeln, Ketten und Teppichen, die da kunterbunt und gleichberechtigt in den Vitrinen und Schränken liegen –  als „Kontrast mit der Idee“, zuerst der völkischen der Nazis, dann der nationalen der Vertriebenenfunktionäre.

Lenz hat mit dieser Art des Humors als Bewußtseinsform seines  Romans der Heimat Masuren selbst ein Denkmal gesetzt. Denn das abgelegene Masuren mit den bescheidenen Daseinsmöglichkeiten und der notwendigen Solidarität seiner schwerblütigen Bewohner ist, so Lenz, zugleich die Heimat des Humors, des Sinns für das umgekehrt Erhabene, das heißt für die Achtung vor dem einzelnen im Kontrast zur Idee. „Der masurische Humor erscheint mir wie eine Aufforderung zur Nachsicht mit der Welt“, denn es fehlt ihm „die Tendenz einer Gegenmaßnahme, listige Aggression oder die Wonnen eines intellektuellen Säurebades“, und doch enthält er ein latent kritisches  Element: „da wird fast immer etwas Kleines gegen etwas Großes ausgespielt (…), da schlägt der Zwerg dem Riesen Welt ein Schnippchen“ (Lächeln und Geographie. Über den masurischen Humor, 1965). Beispiele solchen Humors finden sich genug in den märchenhaften Erzählungen So zärtlich war Suleyken (1955), die Lenz aus Solidarität mit den „Machtlosen“ im kapitalistischen Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit fabuliert hat –  „zwinkernde Liebeserklärungen“ an die Heimat, so sein Nachwort, aber auch (ähnlich wie Bölls Irisches Tagebuch) ein Utopia der Menschlichkeit, gefunden – wo sonst? – in humorvoll verbrämter Ferne.

So wird das naturwüchsige Prinzip des masurischen Humors bei Lenz zum Gegenprinzip der geschichtlichen Gewalt, freilich auch sie eine masurische, grenzländische Erfahrung. Das Kind erlebte den deutschen Überfall auf Polen, und gerade 17 Jahre alt sollte der kriegs- und marinebegeisterte Jugendliche nach dem Notabitur auf einem Kreuzer den Krieg gewinnen helfen. Jedoch: inmitten der stöhnenden Verwundeten und Toten auf den Decks „verlor ich meine Arglosigkeit, und die Erlebnisse hinterließen einen hellen Schrecken und einen unbekannten Schmerz […]. Mein Schiff ging im Bombenhagel unter“ (Ich zum Beispiel. Kennzeichen eines Jahrgangs, 1966). Während zu Hause die Front näherrückte und die große Flucht, der Treck über die eisigen Weiten Ostpreußens nach Pillau und Elbing begann, wurde Lenz nach Dänemark abkommandiert. Dort erlebte er, zuletzt allein auf sich selbst gestellt, hungernd und gejagt von deutschen Feldgendarmen, dann gefangen vom britischem Militär das Ende des Krieges.

So, aus geschichtlicher Härteerfahrung, erwuchs das Gegengewicht zur heimischen Versöhnlichkeit, zur Diskretheit der Kritik, zum Freiheitsplädoyer für den Leser, zum Detailrealismus des Stils bis hin zum oft in sich beruhigten Schicksal der Helden  –  sei es Hinrichs, der alternde Taucher, ein Sozialfall im Aufbautempo der Nachkriegszeit und doch gehalten von seinem Sohn, oder Siggi Jepsen, der erinnernd sich der Traumata seiner nationalsozialistischen Jugendzeit entledigt, oder Zygmunt Rogalla, dem erst über die Vernichtung seiner musealen Heimatstücke die verlorene Heimat lebendig wird. Die Beispiele zeigen, daß das Glück nicht ohne die Blessuren der Geschichte zu haben ist. „Geschichten aus dieser Zeit“ nennt deshalb Lenz in Anlehnung an Hemingway seinen frühen ErzählbandJäger des Spotts (1958). Obgleich sie mitunter in exotischer Ferne spielen, beziehen die dem amerikanischen Autor nachempfundenen stories ihren Wahrheitsgehalt auch aus einer deutschen Lebenserfahrung. Vorgestellt wird die Welt als „Welt im Kriege“, das heißt als eine Hemingwaysche Welt der Niederlagen und der Auflehnungen, der Grenzsituationen, der Entscheidungen, des Überlebens und des Sterbens, der Feigheit und des Muts, jeweils gebannt in einen Augenblick. So begleitete Hemingway den jungen Lenz auf seinem Weg durch die Nachkriegszeit, durch die Trümmerwüsten Hamburgs, wo Lenz nach kurzer Studienzeit in Hemingway-Manier das Schreiben von der Pike auf lernte, als Journalist bei der Welt. Dann trennten sich ihre Wege, denn die Härteerfahrung in Hemingways Existentialismus ist ungeschichtlich, wie der Zeitgenosse Lenz erkannte, das Vorbild hat keinen „Gaumen für die Bedeutung von Vergangenheit“, schon gar nicht der deutschen, die es nach dem Schock der Stunde Null zu verstehen galt, auch  bleibt es ohne „Gegenentwurf“, ohne Vision, ohne Zukunftserwartung (Mein Vorbild Hemingway, 1966). Friedrich Sieburgs Wort vom „jungen Mann und dem Meer“ war daher am Ende der 50er Jahre abgetan  – was aber von der Bekanntschaft mit Hemingway blieb, sind der Sinn für den begrenzten, übertragbaren Schauplatz (Das Feuerschiff, Zeit der Schuldlosen, Ein Kriegsende), für handlungsstarke Szenarien, jähe Brände, Schüsse und Faustkämpfe inmitten epischer Bedächtigkeit, und für die ‚Existentialien‘ der Entscheidung (Stadtgespräch) und der Auflehnung gegen ein unvermeidliches Los (Der Verlust,Die Auflehnung). All dies blieb –  und bleibt in Spannung zur konkreten Zeitgeschichte, die deshalb bei Lenz immer wieder ins Archetypische, zeitlos Existentielle verdichtet wird und den Menschen überhaupt zeigt, zwischen Pflicht und Neigung (inDeutschstunde) oder zwischen Befehl und Menschlichkeit (in Stadtgespräch) oder auf der Suche nach einem Lebenshalt (Das Vorbild).

In dieser Weise schreibt Siegfried Lenz mit den Mitteln gleichnishafter Verdichtung eine Kulturgeschichte der Bundesrepublik, wie sie kein Historiker leisten könnte. Von der vergangenheitsbewältigenden ‚Schuldfrage‘ (Zeit der Schuldlosen, 1961; Stadtgespräch, 1963; Deutschstunde, 1968) über die kalte Konkurrenz- und Wettbewerbsmentalität der Nachkriegszeit (Der Mann im Strom, 1957; Brot und Spiele, 1959) bis hin zur aktuellen Pädagogik (Das Vorbild, 1973), Ökologie (Exerzierplatz, 1985) und Heimatsuche (Heimatmuseum, 1978) reichen die zeitkritischen Themen. Dargestellt sind sie nicht nur sinnlich-konkret in Alltag und Lebensgefühl, sondern weisen über den Tag hinaus parabolisch-lehrhaft auch in die Zukunft des Menschen: Historia magistra vitae. „Ich glaube“, bemerkt Lenz, „daß Literatur von einer unwillkürlichen didaktischen Energie getragen wird“ (Elfenbeinturm und Barrikade, 1983). Trägt sie auch den Leser? Wohin trägt sie ihn? Zumeist sind es einzelne Figuren, um die sich die allgemeinen Lehren kristallisieren, die Lenz aufklärerisch aus der Geschichte zieht. Da ist der Student inZeit der Schuldlosen: er bezichtigt sich der Schuld, damit die anderen mit ihrer Schuld weiterleben können. Da ist der Junge, der den Maler und seine Bilder vor der pflichtverblendeten Macht bewahrt; da ist der gejagte Ex-Häftling Eugen Lawrenz, dessen sich die armen Rogallas erbarmen; und der ganze Roman Exerzierplatz ist für Bruno geschrieben, für den Narren, der die Natur retten will: So überschreibt der Didaktiker Lenz, der ursprünglich Lehrer werden wollte, die deutsche Zeit- und Vergangenheitsgeschichte mit einer Möglichkeitsgeschichte des Menschen. Diese Geschichte handelt vom „Geist der Utopie“, dem „philadelphischen“, mit Ernst Bloch gesprochen, dem Geist der Bruderliebe. „Der Künstler“, so hat Lenz einmal gesagt, „ist Mitwisser – Mitwisser von Hunger und Verfolgung“ (Die Welt, 27.1.62). Und doch ist Kunst, ergänzte er später, auch ein „verkapptes Sehnsuchtsprojekt“ (Mutmaßungen über die Wirkung von Literatur, 1981). Zwischen Mitwisserschaft und Menschheitshoffnung –  dort ist der Ort des aufklärerischen Masuren Siegfried Lenz.

Werke: Romane: Es waren Habichte in der Luft, Hamburg 1951. –  Duell mit dem Schatten, Hamburg 1953. –  Der Mann im Strom, Hamburg 1957. –  Brot und Spiele, Hamburg 1959.  -Stadtgespräch, Hamburg 1963.  –  Deutschstunde, Hamburg 1968.- Das Vorbild, Hamburg 1973. –  Heimatmuseum, Hamburg 1978. –  Der Verlust, Hamburg 1981.  –  Exerzierplatz, Hamburg 1985. –  Die Klangprobe, Hamburg 1990. –  Die Auflehnung, Hamburg 1994.

Erzählungen: So zärtlich war Suleyken. Masurische Geschichten, Hamburg 1955.  –  Jäger des Spotts. Geschichten aus dieser Zeit, Hamburg 1958. –  Das Feuerschiff, Hamburg 1960. –  Lehmanns Erzählungen oder So schön war mein Markt. Aus den Bekenntnissen eines Schwarzhändlers, Hamburg 1964. –  Der Spielverderber, Hamburg 1965. –  Der Geist der Mirabelle. Geschichten aus Bollerup, Hamburg 1975. –  Einstein überquert die Elbe bei Hamburg, Hamburg 1975. – Die Kunstradfahrer und andere Geschichten, Hamburg 1976. –  Ein Kriegsende. Erzählung, Hamburg 1984. –  Das serbische Mädchen, Hamburg 1987.

Hörspiele und Theaterstücke: Das schönste Fest der Welt. Hörspiele, Hamburg 1956. – Zeit der Schuldlosen/Zeit der Schuldigen. Hörspiele, Hamburg 1961.  –  Das Gesicht. Komödie, Hamburg 1964. – Haussuchung. Hörspiele, Hamburg 1967. –  Die Augenbinde/Nicht alle Förster sind froh. 2 Theaterstücke, Reinbek 1970.

Essays und Gespräche: Beziehungen. Aufsätze, Hamburg 1970.  – Gespräche mit Manès Sperber und Leszek Kolkowski, hg. v. Alfred Mensak, Hamburg 19080. – Über Phantasie. Gespräche mit Heinrich Böll, Günter Grass, Walter Kempowski, Pavel Kohout, hg. v. Alfred Mensak, Hamburg 1982. –  Elfenbeinturm und Barrikade. Erfahrungen am Schreibtisch, Hamburg 1983. – Über das Gedächtnis. Reden und Aufsätze, Hamburg 1992.

Lit.: Der Schriftsteller Siegfried Lenz. Urteile und Standpunkte, hg. v. Colin Russ, Hamburg 1973. -.Theo Elm, Siegfried Lenz –  „Deutschstunde“. Engagement und Realismus im Gegenwartsroman, München 1974. – Winfried Baßmann, Siegfried Lenz. Sein Werk als Beispiel für Weg und Standort der Literatur in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1976. –  Siegfried Lenz, hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Text und Kritik, Bd. 52, München 1976,21982. – Hans Wagener, Siegfried Lenz, München 1976,41985 (Autorenbücher). Nikolaus Reiter, Wertstrukturen im erzählerischen Werk von Siegfried Lenz, Frankfurt/M. 1982. –  Siegfried Lenz. Werk und Wirkung, hg. v. Rudolf Wolff, Bonn 1985 (Sammlung Profile 15); dort ausführliche Bibliographie.

Bild: Süddeutscher Verlag München.

Theo Elm