Biographie

Levin, Moritz

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Herkunft: Posener Land
Beruf: Rabbiner
* 3. August 1843 in Wongrowitz/Posen
† 13. Dezember 1914 in Berlin

Als Sohn eines Rabbiners geboren, wurde Levin durch seinen Vater in früher Jugend mit der geistigen Welt des Judentums vertraut gemacht. Nach einem in Berlin absolvierten Studium übernahm er 1870 als Rabbiner die Leitung der im Aufbau befindlichen reformierten Gemeinde in Zürich. Dort veröffentlichte er 1871 sein erstes WerkGott und Seele, während er in derselben Zeit an der Universität Bern zum Dr. phil. promoviert wurde.

Nachdem durch einen Regierungserlaß für Nürnbergs jüdische Gemeinde statt der bisherigen Betreuung durch das Fürther Rabbinat ein eigenes Rabbinat genehmigt worden war, erwies sich diese Stelle als besonders begehrenswert. Von 37 Bewerbern erhielt Levin, der bei Probepredigten großen Beifall gefunden hatte, bei der Rabbinerwahl am 28. Mai 1872 die meisten Stimmen. Er gehörte der Reformrichtung an, “suchte moderne Bildung und modernes Wissen mit der jüdischen Tradition zu verbinden und entsprach damit den Anschauungen der Mehrheit der Gemeindemitglieder” (Müller, S. 166). Sein für die Gemeinde erstelltes Gebetsbuch wurde auch in anderen jüdischen Gemeinden – wie in St. Gallen – eingeführt. Die junge Gemeinde, zum großen Teil aus Nürnberger Neubewohnern bestehend, folgte ihrem jungen Rabbiner, der sich durch seine liberale Haltung freilich auch Gegner in der orthodoxen Judenheit verschaffte. Bei der Einweihung der Nürnberger Synagoge am 8. September 1874 vollzog der 1. Bürgermeister, Otto Freiherr von Stromer, dessen Vorfahr 1349 die Juden aus der Stadt vertrieben hatte, die Öffnung der Synagoge. Die Anwesenheit ziviler Repräsentanten und einer Deputation des Offizierkorps unter einem Oberst wurde stark beachtet. In seiner Weihepredigt über “die Berechtigung des Gotteshauses” setzte sich Levin mit den philosophischen Strömungen der Zeit auseinander und schloß mit der Verheißung: “Mein Haus wird ein Haus sein für alle Menschen” – ohne ahnen zu können, daß am 10. August 1938 in Nürnberg – wenige Wochen vor dem Parteitag “Großdeutschland” – Gauleiter Julius Streicher während einer Großkundgebung den anwesenden Bauarbeitern befehlen würde, mit dem Abbruch des Gotteshauses zu beginnen, bei veranschlagten Kosten in Höhe von 550.000 Reichsmark. Mit dem ihm eigenen hämischen Wortschatz sollte Streicher die Worte Stromers aus dem Jahre 1874 geißeln und dabei nicht vergessen, dem Rabbiner Levin anzudichten, daß er “damals innerlich gegrinst haben” mag (Müller, S. 238).

Wie gut das Verhältnis zwischen der Stadtverwaltung und der jüdischen Gemeinde in Nürnberg war, geht daraus hervor, daß Levin am 2. September 1878 die Festrede zur Nationalfeier des Sedantages im großen Rathaussaale hielt. In ihr bezeichnete er “als unser Ziel: nationale Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung, [und] als Mittel und Wege, um dahin zu gelangen: die innere Einigung und einen gesunden Patriotismus”. Als letztes, “welches gewissermaßen die beiden vermittelt”, nannte er “den deutschen Idealismus”, denn dieser mache “unseres Volkes ureigenstes Wesen aus” (Festrede, S. 7). Mit patriotischen Worten forderte er die Anwesenden auf, “tüchtige Söhne und Töchter des geeinigten deutschen Reiches zu werden, es zu fördern in allen Werken des Friedens, aber auch, wenn der Fahnenruf ergeht” (Ebenda, S. 8). Dieser Patriotismus mag ihn bewegt haben, als er den deutschen Kronprinzen und späteren Kaiser Friedrich III. durch sein Gotteshaus führte.

1880 gab Levin seine Tätigkeit als Rabbiner der Nürnberger Gemeinde auf und widmete sich wissenschaftlichen und kulturellen Aufgaben, die ihm zu einer reichhaltigen schriftstellerischen Tätigkeit, die unter anderem die Bearbeitung von Lehrbüchern und die Übersetzung jüdischer Poesie betraf, verhalfen. Auf ausgedehnten Reisen lernte er fremde Länder, vor allem Spanien, kennen, die in der Geschichte des Judentums eine schicksalhafte Rolle gespielt haben.

1884 übernahm Levin nach längerem Zögern das ihm angebotene Amt des Rabbiners der Berliner Reformgemeinde, die ihr Gotteshaus in der Johannisstraße 16 – unweit der heute wieder in der Oranienburger Straße befindlichen Synagoge – hatte. Dort hat er dreißig Jahre lang gewirkt als “die Seele und die Leuchte der Reform”, als “der eifervollste und begeisterungsvollste Vorkämpferalles echt Jüdischen” und darüber hinaus als “ein Idealist, der für allesMenschliche, besonders für den Idealismus des deutschen Volkes erglühte”. Seit der Gründung des Vereins für jüdische Geschichte und Literatur war Levin fast ein Vierteljahrhundert im Vorstand und in der Verwaltung des Vereins tätig, gehörte im Kampf um seine hohen Ziele als “der sonst so friedfertige Verklärte zu den begeistertsten, zu den beherztesten und … zu den erfolgreichsten Führern” (Der Gemeindebote vom 25.12.1914, S. 1). Dabeiverfolgte er nur das eine Ziel, “Lehre und Leben in harmonischen Einklang zu bringen und den jüdischen Einheitsgedanken weithin zu verkünden und zu fördern” (Katz, S. 157).

Am 13. Dezember 1914, dreieinhalb Monate nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges also, feierte Levin mit seiner Gemeinde das Chanukkafest. Dabei fand sein Leben auf der Kanzel mit den Worten “Wir wollen einen Weltfrieden, aber keine Weltherrschaft” einen priesterlichen Abschluß. Im Nachruf desBerliner Tageblatts vom 15. Dezember heißt es, daß Levin, der Lehrer, Prediger und geistige Führer einer großen Gemeinde, “der breiten Öffentlichkeit wenig bekannt” war, “weil er ihr ängstlich auswich”. Er sei “berechtigt gewesen, als Theologe von reichem Wissen und reinem Streben, aber auch als Dichter von Zartheit und Schwung, als Schriftsteller von seltener Gabe der Schilderung und sogar als Dramatiker von unleugbarer Kraft, Geltung in Anspruch zu nehmen”.

In der Ehrenreihe des Jüdischen Friedhofes in Berlin-Weißensee befindet sich unter einem Obelisken Levins letzte Ruhestätte. Moritz Levins Leben, Denken und Schaffen mahnt uns, daß es einmal ein Deutschland gegeben hat, in dem es möglich war, sich zur jüdischen Tradition zu bekennen und zugleich ein deutscher Patriot zu sein.

Werke: Gott und Seele nach jüdischer Lehre. Zürich 1871. – Nürnberger Gebetbuch “Der Gottesdienst des Herzens”. 1. Aufl. Nürnberg 1874. – Die Berechtigung des Gotteshauses. Weiherede gehalten bei der Einweihung der neuen Synagoge zu Nürnberg am 8. September 1874. Nürnberg 1874. – Festrede zur Nationalfeier am 2. September, gehalten am 2. September 1878 im großen Rathaussaale zu Nürnberg. 4. Aufl. Nürnberg 1878. – Iberia. Bilder aus der spanisch-jüdischen Geschichte. Berlin 1885. – Barkochba. 1892. – Die Reform des Judentums. Festschrift zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens der jüdischen Reform-Gemeinde in Berlin. Berlin 1895. – Lehrbuch der biblischen Geschichte und Literatur. 4. Aufl. Berlin 1907. – Lehrbuch der Jüdischen Geschichte und Literatur. 4. Aufl. Berlin 1908. – Lehrbuch der israelitischen Religion. 3. Aufl. Berlin 1910. – Harfe und Posaune. Festreden, gehalten im Gotteshaus der Jüdischen Reformgemeinde in Berlin. Berlin 1909. – Harfe und Posaune, II. Teil. Berlin 1914. – Israels Name und Beruf. Predigt, gehalten am Versöhnungstage 15.9. 1888 im Gotteshaus der jüdischen Reformgemeinde zu Berlin. Berlin 1888. – Zahlreiche Beiträge in der Allgemeinen Zeitung des Judentums (ab 1892) und im Jahrbuch für Jüdische Geschichte und Literatur (ab 1898).

Lit.: Bernhard Ziemlich: Die Israelitische Kultusgemeinde Nürnberg von ihrem Entstehen bis zur Einweihung ihrer Synagoge. Nürnberg 1900. – Albert Katz: Moritz Levin. Zu seinem dreißigjährigen Amtsjubiläum. In: Allgemeine Zeitung des Judentums, 78. Jg. (1914), Nr. 14, S. 157 ff. – Ders.: Moritz Levin. In: Ebenda, Nr. 52, S. 513 f. – Der Gemeindebote. Beilage zur “Allgemeinen Zeitung des Judentums” v. 25.12.1914, S. 1 f. – Zum Gedächtnis an Dr. Moritz Levin, Prediger der jüdischen Reform-Gemeinde zu Berlin. Verstorben am 13. Dezember 1914. Berlin 1915 (Das in der Preußischen Staatsbibliothek, Unter den Linden, unter der Signatur Ez 26896 vereinnahmte Buch ist nicht mehr auffindbar.). – Arnd Müller: Geschichte der Juden in Nürnberg 1146-1945. Nürnberg 1968.

 

    Friedrich-Christian Stahl