Biographie

Lilienthal, Otto

Herkunft: Pommern
Beruf: Maschinenbauingenieur, Flugpionier
* 23. Mai 1848 in Anklam
† 10. August 1896 in Berlin

Im Sommer 1891 war es Otto Lilienthal im Gleitflug vom Windmühlenberg in Derwitz, westlich von Potsdam, als erstem Menschen gelungen, sich mit einer Flugmaschine in die Luft zu erheben, nicht als Ergebnis eines Zufalls, sondern einer Vision, gepaart mit ausdauernden systematischen wissenschaftlichen Überlegungen und Versuchen, und damit reproduzierbar. Die Fliegerei "schwerer als Luft" begann mit Otto Lilienthal. Von den Derwitzer Flugversuchen sagte der französische Flugpionier Ferdinand Ferber: "Der Tag, an welchem Lilienthal im Jahre 1891 seine ersten 15 m in der Luft durchmessen hat, fasse ich auf als den Augenblick, seit welchem die Menschen fliegen können." Am Sonntag, dem 9. August 1896, stürzte Otto Lilienthal während eines langen und weiten Gleitfluges mit seinem tausendfach erprobten Standard-Eindecker am Gollenberg bei Stölln im Rhinower Ländchen, vermutlich durch eine Sonnenböe verursacht, mittags aus etwa 15 Metern Höhe ab. Ein erlittener Halswirbelbruch führt am darauf folgenden Tag zum Tod des erst 48 Jahre alten ersten Fliegers.

Otto Lilienthal war das erste von acht Kindern des Tuchhändlers Gustav Lilienthal und seiner Frau Caroline, geb. Pohle. Von den Geschwistern überlebten der Bruder Gustav sowie die Schwester Marie. Das elterliche Tuchgeschäft geriet Anfang der 1850er Jahre in große wirtschaftliche Schwierigkeiten, auch als Folge des väterlichen Engagements für die 48er Revolution. Der Vater verstarb recht bald, 1861, so daß die Mutter alleine die Last der Erziehung auf sich nehmen mußte. Vor ihrer Ehe hatte sie eine Karriere als Theatersängerin angestrebt. Als Witwe gab sie Gesangsstunden und ermöglichte ihren beiden Söhnen dadurch eine den Umständen der Familie entsprechend hervorragende Ausbildung. Zum Ärger der Mutter interessierten sich die Knaben Otto und Gustav viel zu wenig für den Unterricht am Gymnasium. Stundenlang durchstreiften sie die Wälder und Auen ihrer Heimat, um den Störchen beim Starten, beim Kreisen und Landen zuzusehen. Der Versuch der Brüder, mit Hilfe eines selbstgebauten Flügelpaares, gleich den Störchen, flügelschlagend gegen den Wind aufzufliegen, mußte ohne Erfolg bleiben. Sie schworen einander, den Traum von Fliegen niemals aufzugeben.

Otto verließ das Gymnasium seiner Heimatstadt Anklam nach der Mittleren Reife mit dem Ziel, Maschinenbau zu studieren. Die anschließende zweijährige Provinzial-Gewerbeschule in Potsdam absolvierte er, im Gegensatz zu seinen vorangegangenen schulischen Leistungen, mit dem besten Examen, das dort jemals abgelegt wurde. Es folgte ein einjähriges Praktikum in der Maschinenfabrik Schwartzkopff. Hier bewies er große Geschicklichkeit bei Präzisionsarbeiten aller Art und erhielt Gelegenheit, im Konstruktionsbüro zu arbeiten.

In der stürmisch expandierenden Hauptstadt Preußens herrscht extreme Wohnungsnot. Ein eigenes Zimmer konnte sich der Halbwaise nicht leisten. Als Schlafbursche hatte er sich das Bett mit zwei Kutschern zu teilen. Im Herbst 1867 schrieb er sich dann als Student der Gewerbeakademie in Berlin ein, eine Vorgängerin der heutigen Technischen Universität. Seine wichtigsten Lehrer waren Franz Reuleaux und der Mathematiker Elwin Bruno Christoffel. Reuleaux gehörte einer bereits 1867 von der preußischen Regierung, insbesondere auf das Betreiben des Kriegsministers von Roon, eingesetzten Kommission von Fachleuten an, die die Aufnahme von Versuchen in die Wege leiten sollte, welche "die Gesetze des Luftwiderstandes mit Rücksicht auf die in Anwendung gekommene Herstellung steuerbarer Luftfahrzeuge zu ermitteln" geeignet waren. Der Fürsprache von Christoffel und Reuleaux hatte es Lilienthal zu verdanken, daß ihm für zwei Jahre ein Stipendium von 200 Talern zuerkannt wurde. Sein Abschlußexamen legte er mit sehr gutem Erfolg Ende Juli 1870 ab.

Anschließend rückte Lilienthal zur Ableistung seiner Dienstpflicht als Einjährig SYMBOL 150 f "Times New Roman CE" Freiwilliger zu den Gardefüselieren ein. Er nahm an der Belagerung von Paris teil. Hier wurde er Zeuge der 66 Ballonaufstiege aus der belagerten Stadt. Doch blieb sein Ziel "Fliegen schwerer als Luft". Er betrachtete den gelenkten Ballonflug als Hemmschuh für die Entwicklung der Fliegerei. Nach dem Ende seiner Militärzeit fand der begabte junge Ingenieur eine Stelle bei einer Maschinenfabrik, die auf Schrämm-Maschinen für den Bergbau spezialisiert war. Durch die Tätigkeit im sächsischen Bergbau lernte er im Herbst 1876 seine spätere Frau Agnes kennen, Tochter des Bergbeamten Hermann Fischer, welche er im Juni des Jahres 1878 heiratete. Ein Jahr später wurde das erste von vier Kindern geboren. Agnes teilte mit ihrem Mann die Vorliebe für Kunst und Musik. In dieser Zeit erfand Bruder Gustav einen Steinbaukasten, während Otto die maschinelle Einrichtung zum Pressen der Kunststeine konstruierte. Den geschäftlichen Nutzen aus der Erfindung zog der Unternehmer Adolf Richter in Rudolstadt/ Thür. mit dem weltweit bekannten Anker-Steinbaukasten.

1881 erfüllte sich für Otto Lilienthal der Traum einer eigenen Werkstatt. In Berlin Mitte baute er leichte Dampfmaschinen, wobei der im selben Jahr patentierte Schlangenrohrkessel die Ausgangsbasis bildete. Diese Aggregate konnten aufgrund der ihnen eigenen technischen Sicherheit auch in Arbeitsräumen, welche in Wohngebieten lagen, eingesetzt werden und ermöglichten somit für viele kleine und mittlere Gewerbe eine maschinelle Antriebskraft. Neben Dampfkesseln und Dampfmaschinen wurden komplette Transmissionsanlagen, ferner Heizungen und Accord-Sirenen für die Küstenschiffahrt hergestellt. Im ganzen hatte Otto Lilienthal rund 20 Maschinenpatente im In- und Ausland angemeldet. In seiner Fabrik waren bis zu 60 Arbeiter beschäftigt. 1890 führte er als einer derersten Unternehmer in Deutschland eine Gewinnbeteiligung ein.

Der vielseitig begabte Unternehmer beteiligte sich auch am Ostend-Theater in Berlin, später in National-Theater umbenannt, in welchem Lilienthal die Idee einer Volksbühne verwirklicht sehen wollte. Auch ein Arbeiter müsse es sich leisten können, einmal wöchentlich ins Theater zu gehen, meinte Lilienthal. War Not am Mann und mußten die Kosten gesenkt werden, sprang Lilienthal auch als Schauspieler ein. Lilienthal sozialkritisches Bühnenstück Gewerbeschwindelwurde später unter dem Titel Moderne Raubritter gedruckt und gespielt.

Über all diesen Unternehmungen war Lilienthal sein Ziel "Fliegen schwerer als Luft" nicht aus den Augen gekommen. Der Schlagflügelapparat ihrer Jugend hatte den Brüdern gezeigt, daß mit diesem System nur die Hälfte ihres Körpergewichtes gehoben werden konnte, die Vorwärtsbewegung genauso wichtig war wie der hebende Flügelschlag. Lilienthal gewann, weiterhin von seinem Bruder Gustav unterstützt,  endlich die Erkenntnis, daß schwach gewölbte Flügelflächen, entsprechend den Vorbildern der Natur, die geringsten Widerstandswerte aufwiesen sowie, bei entsprechendem Anstellwinkel, den größtmöglichen Auftrieb erzeugten. 1889 erschien sein Buch Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst. Ein Beitrag zur Systematik der Flugtechnik (21910; Neudrucke der 1. Auflage 1939, 1943, 1965; Übersetzungen ins Englische und Französische). Lilienthal hielt auch Vorträge vor dem Deutschen Verein zur Förderung der Luftschiffahrt und stellte 1891 ein Programm zur Umsetzung der Theorie in die Praxis des Fliegens auf.

Vom Sprung zum Flug probierte Lilienthal mit seiner Flugmaschine Stand- und Sprungversuche von einer kleinen zwei Meter hohen Sprungbühne. 1891 war es dann soweit, daß er seine Versuche außerhalb Berlins von einem höheren Standort aus fortsetzen konnte Vom Windmühlenberg bei Derwitz gelangen ihm die ersten Gleitflüge. Das Ergebnis war die Entwicklung des Flugapparats Nr. 3 mit einer zusätzlichen horizontalen Schwanzflosse, welche sich stabilisierend auswirkte. Damit hatte der Flugapparat alle Merkmale der Flugzeuge nachfolgender Generationen. Die Flügelwölbung betrug beim Derwitzer Apparat ein Zehntel der Flügeltiefe. Im Sommer 1893 meldete Lilienthal die Konstruktion eines zusammenfaltbaren Gleitflugapparates zum Patent an [Reichspatent Nr. 77916 (77)].

1892 fand sich bei Südende, am Rande der Gemarkung Steglitz bei Berlin, ein neues Übungsgelände. Hier konnte Lilienthal von einer zehn Meter hohen Stechwand einer Sandgrube herab mit einem verbesserten Fluggerät Flüge bis zu 80 Metern Weite erzielen. Auf der Maihöhe in Steglitz errichtete Lilienthal 1893 einen "Fliegerschuppen", in dem die Flugapparate untergestellt wurden und von dessen Dach er absprang. Ein ideales Fluggelände fand Lilienthal im selben Jahr in den Rhinower Bergen, 80 Kilometer nordwestlich von Berlin. Der dortige grasbewachsene 60 Meter hohe Hauptmannsberg war nun der bevorzugte Übungsplatz. Von hier aus erreichte Lilienthal mit rund 250 Metern seine größten Flugweiten sowie seine größten Höhen. Hier gelang ihm auch die erste Kehrtwende. Um jede freie Stunde für Flugübungen nutzen zu können, ließ Lilienthal 1894 auf eigene Kosten in Lichterfelde bei Berlin, in der Nähe seiner Wohnung, einen 15 Meter hohen spitzkegeligen "Fliegerberg" aufschütten. Er wurde ein beliebtes Ausflugsziel der Berliner, die somit Zeuge der Flugversuche wurden.

Um die Flugleistung seines Fluggerätes zu erhöhen, setzte Lilienthal eine zweite Tragfläche auf. Damit war der erste Doppeldecker geboren. Ihn beschäftigte auch die Vorstellung, durch maschinellen Antrieb die Flugleistungen zu erweitern. Da er vom Vogelflug ausgegangen war, wollte er ihn mit Hilfe von am Ende der Tragflächen angebrachten Schlagflügeln erreichen. Ein von ihm konstruierter Kohlensäuremotor sollte hierzu die entsprechende Leistung erbringen. Die erste Ausführung zeigte nicht den gewünschten Erfolg. Ein zweiter Motor mit verbesserter Leistung kam nicht mehr zum Einsatz. Die Steuerung seines Gleiters erzielte Lilienthal durch Verlagerung seines Körpergewichtes. Um zu einer steuerbaren und stabileren Fluglage zu kommen, waren Tragflächenverwindung, Vorflügel sowie verstellbare Höhensteuer in der Erprobung; ebenso wurde der Bau von Hohlflügeln projektiert. Die Arbeitsweise vom Schritt zum Sprung, vom Sprung zum Flug, brachte es mit sich, daß Lilienthal in seiner Flugmaschine stand und sich im Untergriff im Kreuzgelenk des Apparates festhielt. Er verfügte über eine gute körperliche Konstitution, um die Strapazen seiner vielen Versuche durchzustehen, die freilich nicht immer ohne körperlichen Schaden abgingen. Polsterungen an den Knien und am Körper sollten das Schlimmste verhüten, ebenfalls ein zusätzlich angebrachter Prellbügel.

Die Versuchsflüge Lilienthals waren durch Veröffentlichungen und insbesondere durch Aufnahmen der sich entwickelnden Momentphotographie weltweit bekannt geworden, so daß er recht bald mit den verschiedensten Interessenten im engen persönlichen und brieflichen Kontakt stand. Hier sind Namen zu nennen wie O. Chanute und H.M. Herring, W. Hearst, S.P. Langley, G.S Curtis, P.S. Pilcher, N.S. Shukowski, A.v. Parseval, A. Platte, A. Wolfmüller und andere. Chanute schlug die Brücke von Lilienthal zu den Brüdern Wright, den ersten erfolgreichen Motorfliegern.

Ebenso erfolgten Anfragen zwecks Erwerb eines Fluggerätes. In den Jahren 1894 bis 1896 sind acht Normalsegelapparate verkauft worden. Im Frühjahr 1895 erschien eine Verkaufsanzeige, die erste in der Geschichte der Flugtechnik. Für 500 Mark pro Flugapparat ist dieser dann nach England, Frankreich, Österreich, Rußland, Amerika, in die Schweiz und in Deutschland verkauft worden.

Nach dem Todessturz Lilienthals im August 1896 war es besonders dieser Kreis, welcher die Ideen Lilienthals weiterentwickelte und zu ihrer Verbreitung beitrug. Was hat Otto Lilienthal so herausgehoben? Lassen wir seine eigenen Worte sprechen: "Es müssen alle leichtfertig und mutwillig unternommenen Versuche ahnungsloser Menschen, die glauben, fliegen zu können, mit Katastrophen enden. Ohne unermüdliches Üben, ohne daß man das, was in der Luft vor sich geht, nicht sozusagen ahnt und wie wir sprichwörtlich sagen, im kleinen Finger hat, wird man keinen Erfolg haben."

Lit.: Schulz, Werner: Otto Lilienthal; in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 14 (1985). – Schwipps, Werner: Schwerer als Luft. Die Frühzeit der Lufttechnik in Deutschland, Bonn: Bernhard & Graefe Verlag 1984. –  Schwipps, Werner (Hrsg.): Otto Lilienthals flugtechnische Korrespondenz i. A. des Lilienthal –  Museums Anklam 1993. –  Schwipps, Werner: Der Mensch fliegt, Bonn: Bernhard & Graefe Verlag 1988. –  Heinzerling, Werner u. Trischler, Werner: Otto Lilienthal Flugpionier, Ingenieur Unternehmer München: Bertelsmann Lexikon Verlag 1991. – Waßermann, Michael: Otto Lilienthal –  Ein Leben für einen Menschheitstraum in: 100 Jahre Deutsche Luftfahrt, Bertelsmann Lexikon Verlag / Museum für Verkehr und Technik Berlin 1991. –  Jürgen, Dr. u. Bergmann, W.: Sonderveröffentlichung der Deutschen Aerospace München 1991

 

  Heinz-Georg Schwantes