Biographie

Löbe, Paul

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Politiker, Reichstagspräsident
* 14. Dezember 1875 in Liegnitz/Schlesien
† 3. August 1967 in Bonn

Als das Kuratorium Unteilbares Deutschland 1954 den fast achtzigjährigen Paul Löbe zu seinem Präsidenten wählte, setzte es auf das Ansehen eines Mannes, der ostdeutsches Schicksal im 20. Jahrhundert auf hervorragende Weise verkörperte.

Kindheit und Jugend brachten dem 1875 in Liegnitz als Sohn eines Tischlergesellen und eines Dienstmädchens Geborenen die Erfahrung von Armut und sozialer Zurücksetzung, doch auch die psychisch-moralische Sicherheit einer intakten Familie, Anleitung zu politischem Interesse und Lagebewußtsein durch den Vater und eine frühe Einübung in Arbeitersolidarität. Denn der junge Schriftsetzer – Lehrer hatte er nicht werden können, da die Geldmittel fehlten – wurde bereits in den frühen 1890er Jahren in der Arbeiterbewegung aktiv, die nach dem Fall des Sozialistengesetzes zur Massenbewegung aufblühte. Als er nach seiner „Walz“ durch Österreich-Ungarn und Italien und einem Aufenthalt in Mitteldeutschland (Dessau und Ilmenau) wieder in seiner Heimat arbeitete, um nach dem Tod des Vaters Mutter und Geschwister zu ernähren, führten ihn Artikel für die Breslauer Parteizeitung, Wahlagitation, Bildungs- und Organisationsarbeit in der Sozialdemokratischen Partei und im Verband der deutschen Buchdrucker in eine politische Rolle.

Es war ein für die frühe Arbeiterbewegung klassischer Weg, den der in Wort und Schrift zugkräftige, versammlungsgewandte Geselle aus proletarischem Milieu nun in Breslau rasch ging: vom Setzer beim SPD-Blatt „Volkswacht“ zum Parteijournalisten, Ortsvorsitzenden (1900) und Stadtverordneten (1903). Dazu gehörte auch ein Jahr Gefängnis für scharfe Kritik an der herrschenden Verfassung, vor allem dem preußischen Dreiklassen-Wahlrecht. Löbe nutzte dies – wie andere Sozialdemokraten derzeit, die unter dem frühen Verdienstzwang litten – zur Weiterbildung. Innerparteilich folgte er, der zu pragmatisch dachte, um den Marxismus dogmatisch aufzufassen, dem „Revisionisten“ Eduard Bernstein; als dessen Position vom Dresdner Parteitag 1903 verurteilt wurde, hielt er mit einer kleinen Minderheit zu ihm. Bernstein hatte er auch als Abgeordneten in Breslau-West durchgesetzt. Da Löbe selbst mehrmals vergeblich zum Reichstag bzw. zum Preußischen Landtag kandidierte, schienen die Kommunalpolitik und die regionale Parteiebene sein Feld zu bleiben. Hier agierte er mit beträchtlicher Wirkung und stets zeitwach. Die von ihm geleitete „Volkswacht“ forderte Mitte 1918 als erste deutsche Zeitung neben der „Fränkischen Tagespost“ in Nürnberg die Abdankung Wilhelms II.

Doch der Zusammenbruch des Kaiserreichs 1918, der Aufbau der Weimarer Demokratie, bei dem die Sozialdemokratie zunächst den stärksten Part spielte, brachte Paul Löbe binnen kurzem aus der Provinz in die Reichsspitze. Nachdem er als einer der Vorsitzenden des Breslauer Volksrats wesentlich zum unblutigen Verlauf der November-Umwälzung beigetragen und Autorität gewonnen hatte, sollte er in die Provisorische Reichsleitung, den Rat der Volksbeauftragten, eintreten, als dessen drei von der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei gestellte Mitglieder Ende 1918 ausschieden. Doch Löbe, der die Berliner Arena wenig kannte, fühlte sich überfordert und lehnte ab. Als Mitglied – und bald Vizepräsident – der Weimarer Nationalversammlung (für Mittelschlesien) aber rückte er in den Brennpunkt des jungen Parlamentarismus. Das hieß zunächst vor allem politischer Vollzug der militärischen Niederlage. Löbe mußte „schwersten Herzens“ die ohnmächtige Zustimmung seiner Fraktion zum Versailler Vertrag begründen. Erkämpfte 1921 vergeblich gegen die Abtretung halb Oberschlesiens an Polen. Und er sah den von Österreich gewünschten Anschluß an das Deutsche Reich, den er als Vorsitzender des Österreichischdeutschen Volksbundes lebhaft unterstützt hatte, durch die Alliierten verboten.

Seine eigentliche Rolle fand dieser ebenso sichere wie verbindliche, trotz klarer Parteibindung überzeugend unparteiische Mann mit der Wahl zum Präsidenten des Reichstages am 25. Juni 1920 (mit 397 von 420 Stimmen). Dieses Amt hatte er bis August 1932 inne, lediglich 1924 für einige Monate unterbrochen, als die Deutschnationale Volkspartei vorübergehend die stärkste Fraktion stellte. In ihm wurde Löbe ein herausragender Repräsentant der Republik. Ruhig, liebensürdig, oft mit Humor und doch fest leitete er, der in ungewöhnlichem Maß über das situationsgemäße Wort verfügte, die Sitzungen so gerecht und souverän, daß er bei allen Parteien – außer den extremen Republikfeinden – Respekt fand. Er kann als einer der besten Präsidenten der deutschen Parlamentsgeschichte gelten.

Öffentlich besonders sichtbar wurde die Bedeutung dieses bescheidenen, klein gewachsenen Mannes im schwarzen Rock, den man für einen freundlichen Oberlehrer halten konnte, etwa in der dramatischen Sitzung nach der Ermordung des Außenministers Rathenau 1922, bei der Trauerfeier für den Reichspräsidenten Ebert 1925 und kurz darauf bei der Vereidigung Hindenburgs. Zeugen dieser Szene waren sich einig, daß der Generalfeldmarschall, der den ehemaligen Gesellen um zwei Haupteslängen überragte, hier nicht der überlegene schien. Selbst zum Reichspräsidenten zu kandidieren, wie es ihm seine Partei nahelegte, hatte Löbe abgelehnt, da „auf diesen Platz ein Mann aus härterem Holz gehörte“. Seit 1930 wurde ihm sein Amt durch die Obstruktion von rechts und links sehr erschwert. Bei aller Geschäftsgewandtheit geriet er – wie seine redlich bemühte Partei insgesamt – zwischen die Fronten, bis ihn nach der Juli-Wahl 1932, in der die NSDAP stärkste Partei wurde, Hermann Göring ablöste. In der Endphase Weimars zeigten sich auch bei Löbe die Grenzen einer typisch sozialdemokratischen, „organisationspatriotischen“ Perspektive: Um der Integrität der Arbeiterbewegung willen, welche über die Interessenvertretung hinaus als soziale und sittliche Gemeinschaft galt, scheute man mehr vor der Macht zurück, als es die Republik vertrug. Verwurzelt wie in der Arbeiterbewegung blieb Löbe auch in seiner Heimat Schlesien; ihr Dialekt, den er gerne sprach, trug zu seinem Charme bei. Der überzeugte Schlesier und deutsche Patriot stand zugleich in der sozialistischen Tradition internationaler Verständigung. Schon durch viele Reisen zu Arbeiterkongressen, vor allem aber dann im Rahmen der „Interparlamentarischen Konferenz“, deren deutsche Gruppe er lange leitete, gewann er ein entschieden europäisches Bewußtsein. So wurde er auch Mitbegründer der Paneuropa-Bewegung des Grafen Coudenhove-Kalergi und 1924 deren deutscher Vizepräsident.

Aus all diesen Ämtern und Tätigkeiten stieß ihn die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten. 1932/33 zunächst noch l. Vizepräsident des Reichstages, Redakteur beim Berliner „Vorwärts“, nach der Emigration des SPD-Vorstandes im Juni 1933 provisorischer Leiter der Partei im Inland, wurde Löbe, der Deutschland nicht verließ, mit dem Verbot der Partei verhaftet und von dem „Fememörder“ Heines, der nun Polizeipräsident in Breslau war, unter demütigenden Umständen in den schlesischen Konzentrationslager Dürrgoy festgesetzt. Nach seiner Entlassung Ende 1933 arbeitslos, brachte er sich ab 1935 als Korrektor beim Berliner de Gruyter-Verlag durch. Im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 war er, der lose Kontakte zum Widerstand hatte, noch einmal kurz im KZ Groß-Rosen inhaftiert. In Berlin ausgebombt, erlebte er das Kriegsende in der Grafschaft Glatz; schon im Sommer 1945 wiesen ihn jedoch die Polen aus. Nie hat er diese Vertreibung überwunden. Löbe schlug sich nach Berlin durch, wo er sogleich in der wieder begründeten SPD aktiv wurde. Durch praktisches Handeln, auf Versammlungen und besonders als Lizenzträger und Mitherausgeber der Zeitung „Telegraf“ engagierte sich der Siebziger vor allem für drei Ziele: die Abwehr des Bolschewismus – weshalb er die Vereinigung von SPD und KPD zur SED erbittert ablehnte – , Hilfe für die vertriebenen Schlesier und ein demokratisches Deutschland in einem geeinten Europa. Dem diente er dann mit dem Prestige, das ihm seine Weimarer Rolle im In- und Ausland gab, als Berliner Mitglied des Parlamentarischen Rates 1948/49 sowie bis 1953 des ersten Bundestages, als Präsident des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung 1949-1954, danach dessen Ehrenpräsident, als Ehrenmitglied der Europa-Union und schließlich als Präsident des Kuratoriums Unteilbares Deutschland. Mit großen Reden – als Alterspräsident bei der konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages am 7. September 1949 oder auf dem Schlesiertag 1953 in Köln – wie mit aktuellen Erklärungen – gegen die Oder-Neiße-Grenze, für die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion, zur Aussöhnung mit den Juden – war Paul Löbe in der frühen Bundesrepublik eine weit über seine Partei hinaus beachtete Stimme politischer Neuorientierung und existentieller Interessensicherung. In ihm ragte ein sozialdemokratischer Politikertyp des Kaiserreichs und der Weimarer Republik in die zweite deutsche Demokratie, der Menschen einfachster Herkunft zu bedeutender Leistung für die Nation brachte.

Nachlaß: Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

Werk: Der Weg war lang. Lebenserinnerungen, Berlin 1949,31955

Lit.: A. Scholz – W.G. Oschilewski (Hrsg.): Lebendige Tradition, Berlin 1955. –
W.W. Schütz, Der gerade Weg, Berlin 1966. – H. Neubach, in: H. Hupka (Hrsg.),
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M. Schwarz, MdR. Biographisches Handbuch der Reichstage, Hannover 1965. – H.
Matthes, Die Präsidenten des Reichstags, in: E. Deuerlein (Hrsg.), Der Reichstag,
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Republik, 3 Bde. (Von der Revolution zur Stabilisierung; Der Schein der Normalität;
Der Weg in die Katastrophe), Berlin 1984-1987.

Bild: Der Weg war lang (wie oben).