Biographie

Lohmeyer, Ernst

Herkunft: Rußland (Wolga- u. Schwarzmeer)
Beruf: Theologe
* 8. Juli 1890 in Dorsten
† 1. Januar 1946 in Rußland

Obwohl Ernst Lohmeyer nicht im Osten Deutschlands geboren wurde, hat er doch nahezu die Hälfte seines Lebens in Ost- und Mitteldeutschland verbracht und als Lehrer im Neuen Testament an den Universitäten Breslau und Greifswald weit über Deutschland hinaus als einer der anerkanntesten Gelehrten seiner Zunft gewirkt. Ernst Lohmeyer wurde am 8. Juli 1890 als Sohn des Pfarrers Heinrich Lohmeyerin Dorsten/Westfalen geboren. Nach Schulbesuch in Vlotho und Herford bestand er Ostern 1908 das Abitur. Von 1908 bis 1911 studierte er an den Universitäten Tübingen, Leipzig und Berlin evangelische Theologie, Philosophie und semitische Sprachen.

Seinen ersten Kontakt und seine Liebe zu Schlesien hatte Lohmeyer Jahre 1911 gefunden, als er eine Hauslehrerstelle beim Grafen von Bethusy-Huc auf Schloß Gaffron/bei Raudten antrat, die er bis Ende 1912 innegehabt hat. In dieser Zeit schließt er seine theologische Dissertation „Diateke. Ein Beitrag zur Erklärung des neuzeitlichen Begriffs“ ab, die ausgehend von einer Preisaufgabe der Berliner Theologischen Fakultät aus dem Jahre 1909 nun wesentlich erweitert wurde (Lic. theol. 12. Juni 1912). 1912 bestand er vor dem Evangelischen Konsistorium in Münster das 1. Theologische Examen, ich sein philosophisches Studium beendete Lohmeyer mit dem Doktorgrad (Thema der Dissertation: Die Lehre vom Willen bei Anselm von Canterbury; Erlangen, 27. Januar 1914).

Schon diese beiden Erstlingswerke deuten den Weg an, den Lohmeyer in den nächsten beschreiten sollte: die historisch-kritische Arbeit am Neuen Testament im Sinne der Formgeschichte – ohne dabei allerdings einer besonderen neutestamentlichen Schule verpflichtet zu sein – und die Einbindung der Philosophie in die Theologie und damit die Systematisierung theologischer Inhalte. Wie für viele seines Jahrgangs fiel die Schaffung eines eigenen Hausstandes in die Zeit des Ersten Weltkrieges. Am 16. Juli 1916 heiratete er die Konzertpianistin Melie Seybert. Aus der Ehe gingen vier Kinderhervor.

1918 erhielt er die Venia legendi für Neues Testament in Heidelberg, zwei Jahre später wurde er als Nachfolger Rudolf Bultmanns als Extraordmarius an die Breslauer Friedrich-Wilhelms-Universität für Neues Testament und allgemeine Religionsgeschichte berufen, am 27. Mai 1921 schließlich zum ordentlichen öffentlichen Professor ernannt.

Dieses erste Jahrzehnt seiner Breslauer Tätigkeit darf als die fruchtbarste Periode seines exegetischen Schaffens angesehen werden. In dieser Zeit werden nicht nur drei gewichtige neutestamentliche Kommentare (Offenbarung des Johannes, Philipperbrief, Kolosser- und Philemonbrief) fertiggestellt sowie die Grundlagen für den späteren großen Markuskommentar gelegt, sondern Lohmeyer verfaßte in den Breslauer Jahren zwischen 1920 und 1930 beachtliche Monographien zur Geschichte des Urchristentums und seiner Umwelt. Im akademischen Jahr 1930/31 wurde er Rektor Magnificus der Breslauer Alma mater, ein Amt, das er trotz der damit verbundenen Belastungen und Einschränkungen seiner Forschungen zum Neuen Testament gerne übernahm und mit Würde in einer Zeit führte, als die Universitäten und insbesondere die Theologischen Fakultäten in Preußen wegen einschneidender staatlicher Sparmaßnahmen keinen leichten Stand hatten.

Ernst Lohmeyer sprach in seiner Rektoratsrede vom 3. November 1930 darum auch nicht die aktuellen Probleme und Nöte der Universität an, sondern wandte sich der Frage zu, „wie es möglich sei, die wechselvolle Mannigfaltigkeit äußerer Ereignisse mit der bleibenden Einheit eines letzten Sinnes zu vermählen. Sie ist wohl überall gestellt, nicht nur dem Forschenden, sondern ebenso dem Gestaltenden und Handelnden. Nirgendwo scheint sie lebendiger und unmittelbarer an die Wurzeln unseres Daseins zu greifen als dort, wo alles Erkennen zur Tat treibt und alles Tun in Erkenntnis sich gründet, in der Geschichte“.

Nur wenig Zeit blieb noch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten für eine unbekümmerte Forschung in Breslau wie auch für denAustausch mit jüdischen Kollegen, die Ernst Lohmeyer besonders mit seinem Freund Richard Hönigswald, dem er 1929 die „Grundlagen paulinischer Theologie“ widmete, und mit Martin Buber pflegte. Ihm schrieb er im August 1933 aus dem schlesischen Ferienhaus in Glasegrund, im Glatzer Bergland, folgende Zeilen: „… christlicher Glaube (kann) nur solange christlich sein, als er den jüdischen in seinem Herzen trägt … Und noch bitterer ist es, daß die ‚Diffamierung‘ (sc. der Juden) politisch und sozial durchgeführt wird, daß dann kein Theologe und keine Kirche nach dem Beispiel ihres Meisters zu dem Verfehmten spricht: Mein Bruder bist du, sondern von ihnen fordert statt zu helfen.“

Nach der Machtergreifung kommt es auch an der Breslauer Theologischen Fakultät zu kirchenpolitischen Auseinandersetzungen, in die Lohmeyer als Direktor des Neutestamentlichen Seminars hineingezogen wurde, da er am 25. Januar 1934 Zeitungsausschnitte des „Völkischen Beobachters“, die am Fachschaftsbrett angebracht worden waren, entfernen ließ. Die Kampagne der Studentenschaft gegen Ernst Lohmeyer wurde durch Vermittlung von Rektor Walz beigelegt. Jedoch wurde Lohmeyer wegen seiner Haltung zu jüdischen Kollegen, wegen seiner Stellungnahme zum Arierparagraphen in der Kirche von der inzwischen deutsch-christlich geprägten Fakultät und der nationalsozialistisch ausgerichteten Universitätsverwaltung kritisch beobachtet. In der Sitzung der Engeren Fakultät  vom 27. Mai 1935 findet sich letztmalig seine Unterschrift. Am 14. Dezember 1935 steht im Protokoll der Fakultätssitzung unter Punkt 3 (Vorschlagsliste für Nachfolge Lohmeyer) der lapidare Satz: „Professor Lohmeyer hat schriftlich auf die Beteiligung verzichtet“. Seine persönliche Lage und die Zukunft in Breslau ist zu diesem Zeitpunkt sehr ungewiß, wie Lohmeyer auch am 27. Dezember 1935 an Rudolf Bultmann nach Marburg schreibt. Als mögliche neue Wirkungsstätte kommt Halle nach dem plötzlichen Tode von Hans Windisch in Betracht.

Mit seinem Weggang aus Breslau war die Zerschlagung der dortigen Theologischen Fakultät, die 1933 ähnlich wie z.B. in Bonn, Tübingen oder Kiel eingesetzt hatte, zu ihrem Abschluß gekommen. 11. Oktober 1936 nahm Lohmeyer an der pommerschen Landesuniversität Greifswald seine Lehrveranstaltungen wieder auf; hier blieb er, unterbrochen durch seine Teilnahme am Zweiten Weltkrieg (Polen, Niederlande, Belgien, Rußland) von 1939-1943, bis zum Kriegsende. Obwohl besonders nach 1943 die Studentenzahlen in Greifswald erheblich zurückgingen, führte Lohmeyer planmäßig seine Lehrveranstaltungen durch. Im Briefwechsel Bultmann-Lohmeyer finden sich zahlreiche Briefe aus den Jahren 1943/44, in denen sich Lohmeyer positiv über die Zusammenarbeit und das breite Interesse der Greifswalder Theologiestudenten äußert. Die Früchte siner Lehrtätigkeit fanden ihren Niederschlag in Vorstudien zum geplanten Matthäuskommentar, der jedoch nur ein Fragment blieb. Am 15. Mai 1945 wurde er zum Rektor designatus der Greifswalder Universität ernannt, einen Tag vor ihrer Wiedereröffnung, am 15. Februar 1946, durch russische Besatzungssoldaten abgeholt und aus seiner familiären und universitären Umgebung gerissen.

Ernst Lohmeyer kehrte aus dem „Dunkel der Nacht“ nicht mehr zurück. Erst viele Jahre später, nach Zeiten des Ungewissen Wartens und Hoffens, kam die Gewißheit, daß er im Herbst 1946 in Rußland umgebracht wurde. Eine Begründung für dieses Handeln erhielten die Angehörigen nie.

Somit ist auf grausame Weise das Leben eines Mannes beendet worden, für den das Leitthema die „gebundene Freiheit“ war, eine Freiheit, die nicht auf das Irdische allein ausgerichtet ist, sondern immer auch die Heimat im Himmel, das himmlische Jerusalem im Blick hat.

Lit.: Quellen: Der Nachlaß Ernst Lohmeyers befindet sich unter Rep 92 im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz/Berlin (West); Universitätsarchiv Wrocław (Breslau), TE 3; Universitätsarchiv Tübingen, Nachlaß Rudolf Bultmann, hier: Briefwechsel Bultmann-Lohmeyer und Lohmeyer-Bultmann. Werner Schmauch (Hrg.) In memoriam Ernst Lohmeyer, Stuttgart 1951 (mit Bibliographie Lohmeyer); Gudrun Otto, Erinnerung an Ernst Lohmeyer, in: Deutsches Pfarrerblatt 81 /1981, 358-362; Gerhard Saß, Die Bedeutung Ernst Lohmeyers für die neutestamentliche Forschung, in: ebenda, 356-358.