Biographie

Lothar, Ernst

Herkunft: Siebenbürgen
Beruf: Schriftsteller, Regisseur
* 25. Oktober 1890 in Brünn/Mähren
† 30. Oktober 1974 in Wien

Eigentlich hieß er Ernst Lothar Müller und war der Sohn des mährischen Rechtsanwalts Dr. Müller, der Bruder des Dramatikers Hans Müller-Einingen und der Neffe des bekannten Musikkritikers Eduard Hanslick. Seine Hinwendung zum Schriftstellerberuf war, trotz der Erfolge auf anderen Gebieten, auch durch seine Familienzugehörigkeit vorbestimmt.

In Lothars Leben gibt es zwei entscheidende Zäsuren: der Untergang der österreichisch-ungarischen Monarchie nach dem Ersten Weltkrieg und der Weg in die Emigration im Jahre 1938. In beiden Fällen hat Lothar danach versucht, die aufgezwungenen Verluste durch eine Toleranz und eine zunehmende Tätigkeit der Wiedergutmachung zu kompensieren. Nach dem Ersten Weltkrieg verzichtete er weitgehend auf seine poetischen Amibitionen und ging seinem Beruf nach, den er nach dem Abitur durch Jurastudien in Wien erlernt hatte: im Handelsministerium der neugegründeten Republik Österreich wird Lothar zuletzt Hofrat: ihm ist die Umwandlung der Exportakademie in eine Hochschule für Welthandel zu verdanken; auch hat Lothar als Initiator die Wiener Messe aus der Taufe gehoben. Nachdem er im Verwaltungsbereich etwas für sein Vaterland getan hatte, wendet sich Lothar wieder der Kunst und Schriftstellerei zu: 1924 wird er bei der namhaften Neuen Freien Presse nach dem Ausscheiden des Kritikers Hugo Wittmann Theaterkritiker und Feuilletonist. Seine Verdienste um das Theater in Österreich werden durch Regieleistungen bei den von Hofmannsthal und Reinhardt angeregten Salzburger Festspielen augenfällig, aber auch – nach der Ehe mit der Schauspielerin Adrienne Gessner – durch seine Tätigkeit als Gastregisseur am Wiener Burgtheater (1933-1935). Als Lothar 1935 Direktor des Josefstädter Theaters in Wien wird und hier die Nachfolge von Max Reinhardt antritt, ist bis 1938 ein Höhepunkt seiner Bemühungen um ein anspruchsvolles deutsches Theater erreicht.

1939 ist Lothar gezwungen, in die USA zu emigrieren. In der Österreichischen Post in Paris erscheint am 1. März 1939 sein Österreichisches Emigrantenlied, das für die Zeitgenossen zum Paradigma der Vertriebenen wurde. In diesem Lied stehen die Verse:
„Was kann sie uns denn gewähren
Die Fremde, die Welt von Stein?
Die Hoffnung, wiederzukehren
Vom Festland und den Meeren,
Und wieder zu Hause zu sein!“

Auf die Erfüllung diese Wunsches nach Heimkehr mußte Lothar bis 1946 warten, und dann kam er, der in Colorado Springs als Professor für Theaterwissenschaft gelehrt hatte, der gemeinsam mit Raoul Auernheimer in New York ein „Austrian Theater“ geschaffen hatte, wo Stücke von Schnitzler, Wildgans und Bruno Frank gespielt wurden, als „Theater and Music Officer“ der US-Streitkräfte nach Wien zurück. In seinen Österreichischen Schriften hat Lothar schon 1916 „Gegen den Haß“ geschrieben; auch jetzt erweist er sich als Träger einer Hoffnung auf Verständigung und der fruchtbaren Zusammenarbeit im neuen Österreich: „Der Friede, den wir ersehnen, darf nicht auf einer Urkunde, er muß auch in den Herzen geschlossen sein. Darum muß der Abrüstung der Waffen eine Abrüstung der Seelen vorangehen.“ Das ist so aktuell geblieben wie Lothars Feststellung: „Ein Patriot ist nicht nur, wer sein Vaterland liebt, sondern auch, wer vermeidet, ihm durch Entehrung des fremden Feinde zu schaffen.“

In Wien veranlaßt Lothar zunächst die Entnazifierung von Herbert von Karajan, Paula Wessely, Werner und Clemens Krauss u. a. Dann studiert er bei den Salzburger Festspielen den Jedermann ein, ist auch sonst oft bei den Veranstaltungen in Salzburg federführend und schreibt als Mitarbeiter der Wiener Presse vielbeachtete Theaterkritiken und kunstphilosophische Abhandlungen. Lothar, der schon einmal für sein Drama „Der Feldherr“ den Bauernfeld-Preis erhaltenhatte, wird 1965 mit der Joseph-Kainz-Medaille ausgezeichnet. Viel mehr werden ihm wohl die Worte von Hilde Spiel bedeutet haben, die behauptete: „Von den österreichischen Schriftstellern seiner Generation ist er vielleicht der urbanste, weltläufigste, jedenfalls mit Übersetzungen in ein Dutzend Sprachen international der erfolgreichste.“

Lothar begann mit Gedichtbüchern (Der ruhige Hain, 1910; Die Rast, 1910). Während des Weltkrieges 1914-1918 ist er neben Hermann Hesse einer der wenigen konsequenten Kriegsgegner und ein Warner vor nationaler Monomanie. Der Autor aus Brünn hat sich nie gescheut, „heiße“ Themen aufzugreifen: 1933 entsteht sein Buch: Die Mühlen der Gerechtigkeit oder das Recht auf den Tod, wo er für die Euthanasie plädiert, weil er die Leiden seines unheilbar kranken Vaters aus nächster Nähe miterlebte. In einem Gespräch mit Sigmund Freud war die Frage aufgeworfen worden: „Wie kann man ohne das Land leben, für das man gelebt hat“? Es ging um die Donaumonarchie. Und diese Donaumonarchie steht im Mittelpunkt seines wohl erfolgreichsten Romas: Der Engel mit der Posaune, der 1947 in deutscher Sprache erschien und vorher in den USA den Amerikanern das Bild des wirklichen Österreich anhand eine Bilderbogens anbieten sollte, der die letzten 150 Jahre österreichischer Geschichte erfaßte. Das bringt ihn mit Joseph Roth zusammen, ebenso wie seine frühere oft erotisch-psychologische Stoffvielfalt auf Schnitzler hindeutete.

Von besonderer Ausstrahlungskraft sind der „Roman der Enttäuschung“, Die Rückkehr (1949) und das Memoirenbuch: Das Wunder des Überlebens (1960). Es ist eine schonungslos-nüchterne Bestandsaufnahme und widerspiegelt ein Credo von Ernst Lothar: „Ich mag mich oft geirrt haben. Kompromisse jedoch waren meine Sache nie.“ Und so hat er Zwiespalt und Ungunst der Zeit tätig überwunden, hat sich die Freiheit des klaren Urteils in allen Lebensphasen bewahrt.

Werke: Der ruhige Hain, G., 1910; Die Mühlen der Gerechtigkeit, R., 1933; Der Engel mit der Posaune, R., 1947; Das Wunder des Überlebens, Memoiren, 1960; Ausgewählte Werke, 1961-1968, 6 Bde.; Über Ernst Lothar: H. Zohn: Wiener Juden in der deutschen Literatur, Tel Aviv, 1964, S. 83-88; H. Waldner: Das Theater in der Josefsstadt von Lothar bis Steinböck, Diss. Wien, 1949.