Biographie

Mangold, Wendelin

Herkunft: Rußland (Wolga- u. Schwarzmeer)
Beruf: Lyriker
* 5. September 1940 in Neudorf (Schewtschenko) bei Odessa/Ukraine

Die Familie von Wendelin Mangold flüchtete 1943/44 aus ihrer Heimat am Schwarzen Meer in die Nähe von Berlin, wurde dort von der Roten Armee erfasst in den Norden des Urals verschleppt. Nach der Entlassung aus der Kommandanturaufsicht 1956 siedelte Wendelin Mangold nachNowosibirsk, Sibirien, um, wo er neben seiner Tätigkeit auf dem Bau die Abendschule besuchte und 1962 bis 1967 an der Pädagogischen Hochschule Nowosibirsk Germanistik studierte, und zwar bei Viktor Klein, der zielstrebigsein Talent förderte. In Kasachstan brachte er es an der Pädagogischen Hochschule Koktschetaw nach der Promotion zum Lehrstuhlinhaber für Germanistik.

Seine Sprachstudien ermöglichten es ihm trotz der schwierigen Bedingungen des Deutschunterrichtes in der damaligen Sowjetunion, sich für neue Dimensionen sprachlicher Gestaltung einsetzen zu können. Schon in der alten Heimat sind Ansätze bei ihm zu erkennen, die Sprache selbst beim Wort zu nehmen und auf eine viel freiere und eigenwilligere Art mit Sprichwörtern, Redewendungen, Wortschablonen umzugehen, wobei er den Reim benutzte, um ganz Unerwartetes mitunter zusammenzubringen. Inzwischen ist er in einigen seinen modernsten Gedichte ein später Sohn, ein Nachkömmling der Wiener Schule, die die Sprache selbst zum Thema ihrer Gedichte, ihrer Sprechkunstwerke macht. Er hat hier auch russische Vorbilder, die diese Praxis schon lange vor der Wiener Schule anpeilten, wie zum Beispiel der geniale Welemir Chlebnikov, den der junge Majakowski zu Recht den Eroberer neuer poetischer Kontinente nannte.

Oskar Pastior hat ihn in freien Übersetzungen mit originellen poetischen Lizenzen, die dem Geiste Chlebnikovscher Sprachhandhabung sich annähern, dem deutschen Leser erschlossen. Hier haben Mangold und Pastior eine gemeinsame Quelle aus dem Geiste der russischen Literatur. Zum Unterschied aber zur Oskar Pastior (1927 in Hermannstadt/ Siebenbürgen geboren), der von Kindesbeinen an deutsch sprach, deutschsprachige Kindergärten und Schulen besuchte und in Bukarest ein Germanistikstudium (1955-1960) für den muttersprachlichen Unterricht beendete, konnte Wendelin Mangold in der damaligen Sowjetunion wegen den Kriegswirren keine deutschsprachigen Schulen besuchen – 1941 hatte man alle deutschen Schulen aufgelöst. Der Deutschunterrichtin den Verbannungsorten war bloß ein mehr oder minder erweiterter Fremdsprachenunterricht. Die Unterrichtssprache war selbstverständlich Russisch. Der Deutschunterricht half bloß denjenigen Schülern wirklich weiter, die von Haus aus etwas Deutsch von ihren Großeltern, meist noch in einer Form von Mundarten, mit auf den Weg bekommen konnten.

Wendelin Mangolds Sprachspiele, sein oft witziges und durchtriebenes Spiel mit Redewendungen und Sprachfloskeln, ist aus diesem Grund, bei einer so mühsam erworbenen und bewahrten Sprache eine große Seltenheit bei den Russlanddeutschen. Die meisten von ihnen – Autoren nicht ausgenommen – mussten in der Zeit des Stalinismus mühselig Buchstaben für Buchstaben, Silbe für Silbe, zu Worten und Sätzen für sich zurückgewinnen. Hinzu kam die obligatorische Akklamationslyrik,der weder Pastior noch Mangold sich entziehen konnten. Schaffte Pastior es zumindest, poetische Motive zu thematisieren, so gelang es Wendelin Mangold immerhin auch in seinem Gedicht über den Bau der Baikal-Amur-Magistrale, der BAM, diese Verkürzung des Projektnamens schon im Räderrhythmus einzuarbeiten: „BAM! BAM! BAM!/ Die Bahn des zwanzigsten Jahrhunderts/ entsteht heut‘/ durch Gebirg und Schlamm/ ein neues großes Sowjetwunder:/ BAM!“ Akklamation und gleichzeitig durch das „formalistische“ Abrattern des Projektnamens eine Rückführung auf den Boden der harten Tatsachen.

In der Sowjetunion war es für einen deutschsprachigen Dichter sehr schwer, der poetischen Konvention der Vorkriegszeit, ja des 19. Jahrhunderts sogar, zu entrinnen, da das Dogma des Sozialistischen Realismus die Vorrangigkeit des Inhaltes vor der Form absolut postulierte und Sprachexperimente als Formalismus abgelehnt wurden. Ein Grund, weshalb Oskar Pastior sich auch so intensiv, ja beinahe schon besessen, mit der Form, mit der Sprache als Klangmaterial, als eigenwertiges Lautgebilde beschäftigte, um die so lange vernachlässigte, ja verfemte Sprachgestaltung im Stalinismus und auch noch in Poststalinismus endgültig zu überwinden. Auch Wendelin Mangold schreibt schon 1981, also noch in seiner Zeit in der Sowjetunion, wie er die Lyrik entgrenzter versteht als offiziell erlaubt: „Dann fallen plötzlich alle Schranken,/ den Worten wird der Raum zu schmal/ zu einem wahren Universum/ wird das Geschriebene sodann …/ Ich zweifle nicht,/ die besten Verse/ entstanden ohne jeden Plan.“

Solchen Versen sollte er sich dann allerdings erst so richtig in der Bundesrepublik widmen, wohin er 1990, mit 50 Jahren, auswanderte. Vom Lehrstuhlinhaber der Germanistischen Fakultät in Koktschetaw in Kasachstan wagte er nun einen Riesensprung nach Königstein im Taunus/Hessen, wo er wieder ganz von vorne beginnen musste und bis zu seiner Pensionierung 2007 als Sozialarbeiter der Seelsorgestelle für ausgesiedelte Russlanddeutsche wirkte.

Aus diesem Grunde steht auch ein großer Teil seines Gedichtbandes Rund um das Leben von 1998 einer Art Alltagslyrik und Neuen Sensibilität nahe, die die besondere Situation eines Alltags eines Spätaussiedlers behandelt. Eines seiner schönsten Gedichte überhaupt heißt bezeichnenderweise Zugvögel: „Welche von zwei/ ist ihre richtige Heimat:/ Wo sie den Winter/ oder den Sommer verbringen?/ – Sicher steht:/ Wird ihnen/ eine verwehrt,/ gehen sie/ zugrunde./“ Auch hier erweitert Wendelin Mangold den Heimatbegriff um eine ganz neue Dimension. Das gegenseitige sich Bedingen zweier Heimaten, der alten und den neuen, ist gleich lebenswichtig für den Betroffenen.Im Gedicht Aussiedlerwortschatz: „Arbeit/ Wohnung/ Führerschein/ – Eingliederungshilfe/ Unterhaltsgeld/ Sozialhilfe/ – Sozialamt/ Wohnungsamt/ Arbeitsamt“, nimmt Wendelin Mangold eine totale Reduktion der Sprache vor. Ja sein moderner Lakonismus wird bis zum Exzess getrieben, um zu zeigen, vor welchen elementaren Existenzfragen die Neuangekommenen zunächst stehen.Expliziter ist sein Gedicht Außenseiter: „Dies ist dein Land/ auf der Straße/ sprechen die Kinder/ deine Sprache/ – Geschürter Hass verhängt den Himmel,/ neue Opfer stehen an./ – Du willst aber/ nichts davon wissen./ Lebst in den Tag hinein!/ – Du spielst mit dem Gedanken:/ Die Sünde findet den Bock.“ Mit einer unglaublichen sprachlichen Eleganz hat hier deraus dem fernen Kasachstan Angereiste den plumpen Verunglimpfungender Russlanddeutschen – leider auch durch namhafte Politiker – Paroli geboten.

Wendelin Mangold verzagt aber nicht. Zumindest nicht ganz. Trotz aller Bedenken wagt er den Sprung in eine neue Sprache, angekündigt in dem Gedicht Neue Sprache:„Neu denken/ aber ohne Sprache./ Denn das Feld/ der Sprache/ ist schon längst/ abgemäht/ und/ platt getreten.“ Alte Gewohnheiten müssen aufgegeben werden, um nicht ein Opfer seiner eigenen buchhalterischen Betrachtungsweise zu werden. Mit neuem Blick gewinnt er die Natur aufs Neue in Hymne der Form: „Was könnte schon – die Ameise/ Gemeinsames haben/ mit der Violine?/ – Farbe und Form/ – Wenn die Ameise/ mit dem Violinbogen/ ihres Beines/ über den Leib sich/ streicht,/ ist die Musik zu leise,/ um sie zu hören.“ Diese Musik kann nur noch gesehen werden und zwar aus dem Gedicht selbst.

Wie Lichtblicke erscheinen „Blitze“ wie im gleichnamigen Gedicht: „Bilder blitzten in mir auf,/ Gedanken und Gefühle,/ Funken spritzten auf/ gingen über/ vor Lebensfreude/ und verlöschen wieder,/ ohne daß jemand/ was bemerkt hätte.“ Diese Gefahr des Nichtbeachtens der besonderen Sensibilität der Russlanddeutschen und der Auslanddeutschen – so wie in jeder anderem sprachlichen Minderheit überhaupt – für ihre Muttersprache, die ihre Identität noch substantieller ausmacht in der Diaspora als im Mutterland, hat Wendelin Mangold in seinem Gedicht In memoriam Viktor Klein, – seinem Deutschlehrer an der Universität Nowosibirsk – eindringlich festgehalten: „Er ist nicht mehr am Leben, er ist tot/ Er hat uns Grünschnäbeln – die Muttersprache gegeben wie Brot./ – Wie Brot, das süß und bitter ist,/ wie Brot das nach Steppe/ und Wehmut duftet./ Wie Brot, das im Schweiße/ des Angesichts erworben wird./ – Er ist nicht mehr am Leben. Er ist tot./ Künftig werden wir/ den anderen geben/ die Muttersprache wie Brot.“

Viktor Kleins Vermächtnis hat Wendelin Mangold nicht nur weitergeführt, sondern auch erweitert. Er versucht, seine geliebte Muttersprache nicht nur als Brot – als inhaltliche Botschaft – zu vermitteln sondern auch als Wort- und Sprachspiel. Mit vielen vergnüglich und gleichseitig auch nachdenklich stimmenden Gedichten hat Wendelin Mangold die russlanddeutsche Literatur um einen Aspekt – wenn nicht sogar eine ganze Dimension – bereichert.

Werke: Rund um das Leben. Gedichte, hrsg. von der Landsmannschaft der Russlanddeutschen, Stuttgart 1998. – Deutschland, hin und zurück. Reisegedichtzyklen, Lage-Hörste 2001. – Zu sich wandern. Gedichte eines Russlanddeutschen, Annweiler 2005.

Bild: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland.

Ingmar Brantsch