Biographie

Marnau, Alfred

Herkunft: Sudeten (Böhmen u. Mähren, österr. Schlesien)
Beruf: Schriftsteller
* 24. April 1918 in Preßburg
† 15. Juni 1999 in London

In seinem Gedichtband „Räuber-Requiem“ legte der Dichter Alfred Marnau im Zyklus „Preßburgische Lebenszeichen“ ein Bekenntnis zu seiner Vaterstadt ab, der alten ungarischen Krönungsstadt an der Donau, die er noch in ihrem Spannungsreichtum und kulturellen Wettbewerb erlebte – mit fast je einem Drittel deutscher, magyarischer und slowakischer Bevölkerung, eingeschlosssen den kulturtragenden jüdischen Anteil. Für das Gedicht „Die vier Tore“ gilt die Wertung, die beim Erscheinen des mit ein Porträt des Dichters von Oskar Kokoschka versehenen Buchs schrieben wurde: „Alfred Marnau fand zu großem Gesang, zu Pathos, Rührung und Rühmung ohne abgegriffene Sprachbilder, ohne lyrische Klischees und Phrasen. Hier ist das Seltene Ereignis geworden: Ein Dichter, der nicht zaghaft experimentierend in Literatur eintritt. Hier spricht eine leidgeläuterte Stimme von  den Untergängen Europas in großen Gleichnissen – aber nicht nun den Untergängen, auch von der Hoffnung, der Größe und der Zukunft.“

Der 1938 aus Wien nach London emigrierte Preßburger wurde als Germanist tätig. In seinen Gedichten hat er immer wieder seine Lebenserfahrung in Bilder umgesetzt. Ein „Märchen unserer Zeit“ hat Marnau den elegischen, realistisch romantischen, zeitsymbolischen Roman „Das Verlangen nach der Hölle“ genannt. Hans Eberhard Friedrich hat ihn in seiner Besprechung „Dichtung über den Sinn des Lebens. Drei große Prosawerke“ im Literaturblatt der „Neuen Zeitung“ vom 20.12.1952 vor Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ und William Goyens „Haus aus Hauch“ gestellt.“ Er resümierte: „Neben Thomas Manns „Erwähltem“ ist Marnaus Roman einer der ernsthaftesten, die seit 1945 in deutscher Sprache geschrieben wurden.“ Marnau hat seinen Roman in dreimal sieben Kapiteln streng gebaut; die Hauptabschnitte tragen die Titel:  „Die Triumphierenden“, „Die Verfolgten“, „Die Überlebenden“. Das Geschehen ist in die Zeit um den Schluß des letzten Krieges an ein in sagenhafter Umgebung und Stimmung getauchtes Duino gelegt, das mit dem gleichnamigen Ort und Schloß Rilkes bei Triest so manches gemeinsam hat, doch kommt es hier mehr auf die inneren Zusammenhänge an. Marnau stellt im Schloß und Kloster seine abendländische, sich aus Menschen verschiedener Nationen zusammensetzende Elite der von einem Emporkömmling (einem aufgeblasenen und brutalen, dummen Briefträger) verführten und geknechteten Masse entgegen. Sonderbare, ins Geheimnis getauchte Dinge geschehen in diesem Buch mit seinen außergewöhnlichen Gestalten, von denen nur drei die Wirren überleben. Aber sie gehen durch die Flut mit einem Heldentum, das seinen Glanz nicht von der Phrase, sondern vom inneren Gewicht her bekommt. In der Mitte des Buches steht die Predigt des verfolgten Abtes Ambrosius. Der geistige und dramatische Höhepunkt des ganzen Gefüges ist diese Predigt, die um die Leiden unserer Zeit weiß, um ihre Versuchungen, um die Notwendigkeit, von wenigen bestanden zu werden, wenn auch die Masse zu feige ist oder keine Ahnung von der Tragweite hat. „Fürchtet Euch also nicht!“ heißt es da. „Fürchtet nicht die Verfolgung und erst recht nicht den Tod, sondern verlanget danach, beide zu bestehen.“

Adam Galganleugul, die meist stumme Hauptgestalt, zieht sich zurück in die Nähe Brügges und beobachtet von dort die Welt, es heißt von ihm, damit schließt dieses seltsame, schöne, hochbedeutsame Buch: „Er sah die unermüdlichen, sonntägig gekleideten Waisenkinder die Domstufen ersteigen. Das Schild des Krämers schaukelte im Winde und knarrte regelmäßig wie eine Uhr. Dies erinnerte ihn, daß er hierzulande im Ruf eines pünktlichen Zahlers stand, und er lächelte. Sonst hatte er nichts auszuweisen. Sein Ansehen war gering. Er galt wie einer, der völlig ausgeräumt ist, und eben darin irrten sich die Leute.“ Man möchte diesem offenen Schluß in Gedanken so etwas wie Shakespeares „Bereit sein ist alles“ anfügen.

Im Ostdeutschen Almanach der Künstlergilde „Erbe und Auftrag“, Augsburg 1960, stehen drei schöne, knappe, auch heute richtungweisende Beiträge von Marnau: Der Kurzessay „Der heimatverwiesene Künstler“ und die Gedichte „Zur Hälfte ist das Jahrhundert schon um“ (für Olga und Oskar Kokoschka) und „Vor den Feuern dieses Winters“ (für Senta).

Zu Marnaus Arbeiten sind vor allem noch die Übersetzung von John Websters Trauerspiel „Die Herzogin von Amalfi“ und in den Veröffentlichungen der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung die Herausgabe des Nachlasses des österreichischen Dichters Jesse Thor zu erwähnen.

Lit.: Gesammelte Gedichte 48, Der steinerne Gang, R. 48, (Neuaufl. 85); Das Verlangen nach der Hölle, 52, 56 (auch engl., ital.); Räuber-Requiem, G. 61.