Ein anschauliches Porträt seines Geburtsortes Horschitz, einesin der seinerzeit österreichischen BezirkshauptmannschaftKöniggrätz gelegenen Landstädtchens, hat Fritz Mauthner in seinem 1887 erschienen Roman Der letzte Deutsche von Blatna gezeichnet. Er führt uns mitten hinein in die Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Tschechen, in welche der Autor auch selbst während seiner Schüler- und Studentenjahre in Prag, wohin die Mauthners, eine jüdische Fabrikantenfamilie, 1855 übersiedelten, verwickelt wurde. Er selbst fühlte sich dabei, wie so viele seiner jüdischen Mitbürger, ganz als Deutscher, und noch als fast Siebzigjähriger empfand er, wie er in seiner AutobiographiePrager Jugendjahre (1918) erzählt, seine Teilnahme an der Gründungsfeier der Universität Straßburg (1872), bei der “die älteste deutsche Universität [ … ] der jung-jüngsten Schwester ihre Glückwünsche überbringen” durfte, “wie eine Taufe des heiligen Geistes”.
Der Nationalitätenstreit in der Donaumonarchie war in hohem Maße ein Sprachverdrängungskampf, in welchem die deutsche Sprache in Böhmen und Mähren unaufhaltsam Terrain verlor. Hierdurch und auch infolge seiner Dreisprachigkeit– er beherrschte außer dem Deutschen das Tschechische und das Jiddische– wurde Mauthners Interesse früh auf sprachliche Phänomene und Probleme gelenkt, und seine spätere Sprachkritik, die bedeutendste philosophische Leistung seiner Reifejahre, wurzelt in diesen Kindheits- und Jugenderfahrungen. Bei Erwägungen, wie den folgenden: “Die Sprache ist ein Werkzeug, mit dem sich die Wirklichkeit nicht fassen läßt. Im besten Fall sind die Worte orientierende Erinnerungen an Sinneseindrücke” und: “Unser Wissen, unser Denken ist nur Sprache, die praktisch in der Wirklichkeit orientiert, die aber so wenig zur Welterkenntnis geeignet ist, wie das Bewußtsein ein Organ für sich selber hat”, handelt es sich um Einsichten, die mitten hinein in die Gedankengänge seiner dreibändigenBeiträge zu einer Kritik der Sprache (1901/02) führen, welche der Fünfzigjährige fast gleichzeitig mit Hofmannsthals sprachskeptischemChandos-Brief zu Papier brachte und die auch noch für das ebenso voluminöseWörterbuch der Philosophie(1910/11) des Sechzigjährigen konstitutiv sind. Sie waren, auch als Folge eines als Katalysator wirkenden Vortrags Ernst Machs, nach dem Zeugnis derPrager Jugendjahre bereits dem Studenten ahnungsweise zueigen.
Nach einem ungeliebten Jurastudium, das er dem Vater zu Gefallen auf sich genommen hatte, ging Mauthner 1876 nach Berlin, nicht zuletzt auch deshalb, weil er so seinem Idol Bismarck nahe sein konnte. Hier war er, nach ersten Prager Anläufen, erfolgreich journalistisch tätig, arbeitete sich bis zum Feuilletonredakteur und Theaterkritiker des renommiertenBerliner Tageblatts empor (1895), gab 1889/90 die Wochenschrift für Kunst und Literatur Deutschland heraus, deren Bedeutung aus heutiger Sicht vor allem durch den in ihren Spalten gebrachten Erstdruck von FontanesStine gesichert bleibt, und redigierte 1891/92 gemeinsam mit O. Neumann-Hofer das schon in Goethes Todesjahr gegründete, seit 1886 durch Karl Bleibtreu kämpferisch der Moderne, in den neunziger Jahren insbesondere Hermann Sudermann zugewandteMagazin für die Literatur des In- und Auslandes, mit dem Deutschland ab Januar 1891 vereinigt war.
Seine Parteinahme für Sudermann, den zusammen mit Gerhart Hauptmann wirkungsmächtigsten deutschen Dramatiker des Naturalismus, ruft uns in Erinnerung, daß Fritz Mauthner 1889 ein Mitbegründer der avantgardistischenFreien Bühne gewesen ist, ebenso wie Theodor Wolff, seit 1894 als Pariser Korrespondent sein Tageblatt-Kollege und seit 1906 weltbekannter Chefredakteur des Berliner Blattes. Wenn sich Mauthner vehement für alles, das ihn ansprach, einzusetzen bereit war, so hielt er doch auch mit seiner Kritik nicht zurück, sobald er auf Angestaubtes oder Maniriertes stieß. Seine erfolgreichen Parodien Nach berühmten Mustern (1878) auf allzu zeitgebundene und daher heutzutage fast vergessene Modeschriftsteller, wie Dahn, Ebers, Hamerling und Scheffel, aber auch unzweifelhafte, wenn auch nicht unproblematische Größen, wie Richard Wagner, zeugen von seiner treffsicheren sprachlichen Florettmeisterschaft. Mauthners Eintreten für das zukunftsträchtige Neue trübte ihm indessen nicht, wie so manchem seiner progressiven Zeitgenossen, den unbefangenen Blick für wertbeständige Traditionen, und so feierte er den von den Naturalisten ungebührlich herabgewürdigten Paul Heyse anläßlich seines siebzigsten Geburtstages (1900) in einem Huldigungsgedicht mit warmen Worten als Kampfgenossen in den geistigen Auseinandersetzungen der Gegenwart. Waffen tragende Männer “grüßen Dich als ihren besten Führer / Im Geisterkampfe mit dem alten Feind, / Dem Pfaffen und dem Mucker und Philister”, so redet er den noch in voller Schaffenskraft wirkenden Jubilar an.
Ein reichsdeutsches Pendant zu Mauthners böhmischen Romanen– demLetzten Deutschen von Blatna(1887) folgte ein Jahrzehnt später nochDie böhmische Handschrift, eine Humoreske über das angeblich alttschechische Königinhofer Manuskript– bildete der zwischen 1886 und 1890 erschienene RomanzyklusBerlin W, aus dem Fontane den ersten und zweiten Teil, Quartett und Die Fanfare (der Name eines Annoncenbüros), in der Vossischen Zeitung nicht ohne Sympathie besprach und ihnen namentlich eine geglückte Zustands- und Sittenschilderung attestierte, während er den ihm gleichfalls zugesandten Schlußteil,Der Villenhof, unrezensiert ließ. Mit dieser Trilogie lieferte Mauthner einen beachtlichen Beitrag zu der noch nicht geschriebenen Geschichte des Berliner Gegenwartsromans, dessen bedeutendster Autor bekanntlich der an Berlin W so kollegial interessierte Theodor Fontane war und zu dessen Vertretern neben der gleichzeitig mit Mauthners Großstadtromanen erschienenen und ebenso wie diese vergessenenBerlin-Serie Paul Lindaus (Der Zug nach dem Westen, 1886, Arme Mädchen, 1887, Spitzen, 1888) auch die zwischen 1884 und 1897 erschienenen heiteren Buchholz-Romane Julius Stindes sowie Max Kretzers Meister Timpe (1888) gehören.
Zu Beginn des neuen, nunmehr ablaufenden Säkulums konnte Mauthner auf eine überaus erfolgreiche journalistische Tätigkeit und auf ein beachtliches literarisches Werk-Ensemble zurückblicken. So, mitten im gleißenden Scheinwerferlicht auf der Bühne des Lebens agierend, hätte er sein Leben durchaus weiterführen können. Aber nun wollte er nicht mehr. Wie einstmals der indische Prinz Siddharta dem glänzenden Weltleben den Rücken kehrte und als Gautama Buddha die asketische Weltlosigkeit wählte, so zog sich auch Mauthner, der in der großen Aufbruchszeit um 1900 wie einige seiner Zeitgenossen mit dem Buddhismus zu sympathisieren begann, über die Zwischenstation Freiburg (1905) in das damals noch stille Bodenseestädtchen Meersburg zurück (1909), an dessen Peripherie das einsam gelegene sogenannte Glaserhäusle, die ehemalige, von der Droste besungene Schenke am See, sein Refugiumwurde. Er teilte es mit der Schriftstellerin Hedwig Silles-O’Cunningham, die er 1910, vierzehn Jahre nach dem Tode seiner ersten Frau, Jenny Ehrenberg, heiratete. In dem knappen Viertel des neuen Jahrhunderts, das Mauthner noch zu erleben vergönnt war, widmete er sich, unterstützt von seiner Gattin und von seinem Freunde Gustav Landauer, vor allem philosophisch-weltanschaulichen Problemen. Der uns bereits bekannten Sprachkritik und dem Wörterbuch reihten sich 1904 und 1906 noch Aristoteles– und Spinoza-Monographien an; und seine religionskritischen Bemühungen gipfelten in einer vierbändigen Abhandlung über den Atheismus und seine Geschichte im Abendlande (1920-1923), dessen abschließende Phase er als eine dem Buddhismus nahestehende ‘gottlose Mystik’ bezeichnete und zu der er sich selber bekannte.
Nur das Chaos des Ersten Weltkrieges vermochte seine philosophische Ruhe vorübergehend zu erschüttern. In einem Anfall vonfuror Teutonicusverstieg er sich zu dem Ausruf: “Wenn ich mit einem Fingerdruck England in die Luft sprengen könnte, so täte ich’s und wäre glücklich”. Mit dem Ende des mörderischen Ringens schwanden aber auch seine Haßgefühle, und der ihm weit mehr anstehende Glaserhäusle-Seelenfriede stellte sich wieder her. “Der Völkerhaß wird und muß aufhören”, schrieb er im Jahre 1919, “wie der Religionshaß unwirksam geworden ist. Es gibt keine Religionskriege mehr. Es darf auch keine Volkskriege mehr geben”.
Als Romancier verstummte Mauthner in seinen Freiburger und Meersburger Jahren. Seine Fabulierfreude aber und sein poetisches Ingenium verkümmerten darüber nicht. Er ließ sie in seine Memoiren, die Prager Jugendjahre, und in sein vielleicht dichterischstes Buch: Der letzte Tod des Gautama Buddha (1913), einströmen. Das Werk schließt mit dem Erlöschen des Buddha in seligem Nichtsein. Es schließt mit den innigsten Wunschgedanken des Autors:
“Das Nichtsein hatte er gepriesen; jetzt war er das Nichtsein und wusste es nur nicht mehr. All-Einheit hatte er gelehrt, Einheit mit dem All der Tierlein, der Blumen und der Steinbröckchen; jetzt war er die Einheit mit Allem und wusste es nicht. Und war die Einheit ganz, weil er es gar nicht wusste.
Ein Wissen war untergegangen, war heimgegegangen. Eine Sonne war untergegangen, klar bewusst untergegangen, gern untergegangen, um niemals wieder aufzugehen, niemals wieder. Eine Sonne war heimgegangen.
Das habe ich gehört.”
Werke: Eine neue Ausgabe der philosophischen Werke Fritz Mauthners wird unter der Herausgeberschaft von Ludger Lütkehaus im Wiener Böhlau-Verlag veranstaltet. Zum 150. Geburtstag des Autors soll die Edition in zehn Bänden komplett vorliegen.
Lit.: J. Kühn: Gescheiterte Sprachkritik. Fritz Mauthners Leben undWerk. Berlin/New York 1975. – U. Spörl: Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende. Paderborn/München/Wien/ Zürich 1997.
Bild: Zeichnung von Kasia von Szadurska (1916).
Burkhard Bittrich