Biographie

Meier-Graefe, Julius

Herkunft: Banat
Beruf: Kunsthistoriker, Schriftsteller
* 10. Juni 1867 in Reschitza/Banat
† 5. Juni 1935 in Vevey/Schweiz

Er war der deutsche Kunstpapst des späten Kaiserreichs und der frühen Weimarer Republik und vermittelte in Büchern und Aufsätzen mit hinreißend anschaulichen Bildbeschreibungen aus erster Hand den französischen Impressionismus nach Deutschland.

Geboren wurde Julius Meier-Graefe am 10. Februar 1867 in der Stadt Reschitz im Banater Bergland, damals im Königreich Ungarn, heute in Rumänien gelegen. Beide Elternteile stammten aus Halle. Der Vater Eduard Meier, ursprünglich Musiker, war als Montaningenieur nach Tätigkeiten in Oberschlesien zeit­weilig Leiter einer Eisenhütte in Reschitz geworden. Die Mutter Maria, geborene Graefe, war die Tochter eines Majors. Sie starb bei der Geburt ihres zweiten Sohnes Julius, der sich aus Loyalität zu ihr schon früh den klangvolleren Doppelnamen Meier-Graefe gab. Eine enge Beziehung verband ihn mit seiner Stiefmutter Clothilde Vitzthum von Eckstädt, die schon bald nach seiner Geburt ins Haus kam.

Dem väterlichen Wunsch, die Laufbahn des Ingenieurs einzuschlagen, ist Julius nach kurzen Studienaufenthalten in München, Zürich und Lüttich nicht weiter gefolgt, sondern ließ sich in Berlin nieder, wo er sich von den künstlerischen und intellektuellen Kreisen inspirieren ließ. Er betrieb geisteswissenschaftliche Studien, trat mit dem Reiseroman Nach Norden (1893) und einer Folge von Romanen über das Liebesleben im 19. Jahrhundert (1897) hervor, schrieb erste Kunstkritiken, förderte den damals in Berlin lebenden norwegischen Maler Edvard Munch und gründete 1894 mit dem Journalisten Otto Julius Bierbaum die Kunst- und Literaturzeitschrift Pan, die deutsche Künstler und Kunstliebhaber über die jüngsten Ereignisse in der Kunstszene Europas informierte, vor allem den Impressionismus vorstellte. Meier-Graefe hatte darin eine Lithografie des Malers Henri de Toulouse-Lautrec veröffentlicht, der dem mehrheitlich konservativen Aufsichtsrat des Blattes jedoch allzu frivol erschien, es kam zum Zerwürfnis, weshalb der innovative Kunstkritiker zusammen mit Bierbaum nach einem Jahr die Redaktion verlassen musste.

Enttäuscht von der nationalen Engstirnigkeit verließ der im Sinne eines europäischen Kulturtransfers übernational denkende Jünger der Kunst mit seiner Frau Anna im November 1895 Berlin, um sich in Paris als Kunsthändler niederzulassen. In den ersten Jahren widmete er sich vornehmlich dem Kunstgewerbe, arbeitete als künstlerischer Leiter für Siegfried Bings Salon de l’Art Nouveau, machte sich dann – zu Vermögen gekommen durch den Tod des Vaters – selbständig und eröffnete 1899 das Kunsthaus La Maison Moderne, das der Künstler Henry van der Velde ihm einrichtete. Im Gegenzug machte Meier-Graefe den flämischen Architekten und Designer mit Hilfe seiner 1897 gegründeten Zeitschrift Dekorative Kunst bekannt. Meier-Graefe verfolgte damals die Absicht, das Kunst­gewerbe mit Stoßrichtung gegen den Historismus als eine Form von industrialisierter Kunst zu etablieren.

In Paris entwickelte Meier-Graefe sich zu einem der besten Kenner der französischen Malerei des 19. Jahrhunderts. Er entdeckte und erlebte die Künstler, über die er einerseits lebendig und temperamentvoll, andererseits gut informiert und mit ordnender Kraft schrieb. Darunter befanden sich Namen wie Manet, van Gogh, Pissarro, Courbet, Cézanne, Bonnard, Degas, Monet, Toulouse-Lautrec, Corot, Renoir und Delacroix. Er besuchte sie im Atelier, konnte ihre Karrieren und den Weg ihrer Werke verfolgen. Zu seinen Entdeckungen gehörte auch der damals kaum bekannte El Greco, den er zu einer Gründerfigur der Moderne erhob. Er würdigte die Engländer Hogarth, Gainsborough, Reynolds, Wilson, Turner, Constable und Whistler, den Schweizer Félix Valloton und den vergessenen Deutschrömer Hans von Marées.

Die Insolvenz seiner Galerie veranlasste ihn 1904, nach Berlin zurückzukehren, wo er seine dreibändige Entwicklungsgeschichte der Modernen Kunst veröffentlichte, sein ambitioniertes Opus magnum, in dem er nach formanalytischen Gesichtspunkten eine neue Ästhetik und einheitliche Kunstbetrachtung begründen wollte. Die Zusammenhänge mit der Barockzeit, mit Klassik und Romantik stellt der Kunsthistoriker ebenfalls her. Im Zenit seines Ordnungssystems steht die Malerei am Ende des 19. Jahrhunderts mit ureigenster Sprache als ein Höhepunkt, den die Kubisten bereits überschritten haben. Ihren Werken kann Meier-Graefe nichts Großes mehr abgewinnen. Die Avantgarde bleibt ihm ein Buch mit sieben Siegeln, er fürchtet sogar um die Kontinuität der europäischen Kultur.

In überarbeiteter und ergänzter Form erschien das Bahn brechende Werk zehn Jahre später noch einmal, es war die Bibel all derjenigen, die sich in Deutschland kunstpublizistisch betätigten, Kunst sammelten oder sie ausstellten. Nahezu lebenslang ergänzte Meier-Graefe dieses Werk durch eine Serie von Monografien über fast alle bedeutenden Künstler des Impressionismus und entwickelte es mit neuen Erlebnissen und Erkenntnissen fort, mit dem Wunschziel einer umfassenden Geschichte der europäischen Malerei vor Augen, das er jedoch nur ansatzweise verwirklichen konnte.

Wie kein anderer verkörperte er exemplarisch einen literarisch unglaublich produktiven Grenzgänger der Künste, der die Seele und das Wesen eines Kunstwerks mit umfassender Bildung, kongenialer Intelligenz und gestaltender Souveränität, nicht ohne Humor zu ergründen sucht, dabei den Betrachter bannt und zu genießen lehrt. Mehr noch als die Sujets der Bilder interessieren ihn Linienführung, der Umgang mit Farben, Tönen, Harmonien und Kontrasten. Indem er mit der akademischen Kunstgeschichtsschreibung seiner Zeit brach, begründete er, radikal subjektiv wertend, aber von stupender Kennerschaft, eine neue Schule des Sehens und prägte durch ästhetische Neubewertung den Kanon der heutigen Kunstgeschichte.

Dieses Werk und seine nachfolgende Streitschrift Der Fall Böcklin (1905) brachten ihm den Vorwurf ein, gegen deutsche Kunst zu polemisieren und einseitig für die Franzosen Partei zu ergreifen. Dem Argwohn trat er mit einer „Jahrhundertausstellung“ deutscher Kunst in der Berliner Nationalgalerie 1906 entgegen. Auf seine Anregung wurden bislang kaum bekannte Werke präsentiert, insbesondere die Arbeiten Caspar David Friedrichs bekam ein größeres Publikum erstmals zu sehen. Meier-Graefe verschaffte zusammen mit dem Direktor der Nationalgalerie Hugo von Tschudi einer ganzen Generation von Malern, die bis dahin aus dem offiziellen Kunstbetrieb ausgegrenzt geblieben waren, die längst überfällige Anerkennung. Bis heute gilt diese Ausstellung als Meilenstein.

Mit 47 Jahren kam der freiwillige Kriegsteilnehmer Meier-Graefe 1914 als Sanitäter an die Ostfront und geriet in russische Kriegsgefangenschaft. Nach neun Monaten in Sibirien kehrte er im Herbst 1915 nach Berlin zurück und verarbeitete seine Erlebnisse in der Erzählung Der Tscheinik, die 1918 erschien und 1929 unter dem Titel Die weiße Straße neu aufgelegt wurde.

Im Jahr 1930 mietete er mit seiner neuen Partnerin Annemarie, geb. Epstein, im südfranzösischen Saint-Cyr-sur-Mer das Anwesen La Banette, das ihnen zur neuen Heimat wurde. Nach der Machtergreifung Hitlers weigerte er sich, dem Reichsverband deutscher Schriftsteller beizutreten und den Treueeid zu leisten. Bald trafen sich in seinem Haus mehrere aus Deutschland geflüchtete Schriftsteller und Künstler wie der Landschaftsmaler Walter Bondy und der Schriftsteller René Schickele. Meier-Graefe gab den entscheidenden Impuls zum Entstehen einer Flüchtlingskolonie aus dem Deutschen Reich im benachbarten Sanary-sur-Mer, wo sich während der folgenden Jahre beispielsweise Lion Feuchtwanger und Ludwig Marcuse aufhielten.

In seiner zweiten Lebenshälfte korrespondierte Meier-Graefe mit Künstlern wie Max Beckmann und Lovis Corinth, er hatte Kontakt zu einflussreichen Persönlichkeiten des Kulturlebens wie Harry Graf Kessler, Paul Cassirer und Benno Reifenberg, mit den Verlegern Samuel Fischer und Reinhard Piper und tauschte sich mit zahlreichen Schriftstellern aus, u.a. mit Franz Blei, Richard Dehmel, Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal, Franz Werfel und Thomas Mann.

Durch seine persönliche Verbundenheit und Freundschaft mit vielen Künstlern seiner Zeit, seine Zusammenarbeit mit Sammlern, Kunsthändlern und Museumsleitern, die beeindruckende Fülle seiner Monografien und kunstkritischen Essays, die Herausgabe Dutzender von teuren Mappenwerken sowie durch seinen unermüdlichen Einsatz für die neue dekorative Bewegung, den Jugendstil, Impressionismus und Neoimpressionismus wurde Meier-Graefe zu einer geschmacksbildenden Instanz. Der Kunstkritiker und Kunsthändler in der Vermittlerrolle öffnete den Deutschen die Augen für die die moderne, zeitgenössische Kunst, die er in den Vordergrund stellte, bewirkte aber auch eine Neuentdeckung und -bewertung von Künstlern der Vergangenheit.

Bücher von Meier-Graefe erschienen in französischer, englischer und russischer Übersetzung, er war zu Lebzeiten international, besonders aber in Deutschland anerkannt. „Dass ein einzelner seine ganze Nation in ihrem inneren Sinn dermaßen zu bestärken vermag, geschieht selten und nur dank zwingender Autorität“, schrieb Stefan Zweig. Die Koryphäe der Kunst­geschichte vom Beginn der 20. Jahrhunderts wurde von folgenden Malern porträtiert: Edvard Munch, Lovis Corinth, Felix Valotton, Eugen Spiro und Leo von König.

Nachdem seine Familie bereits 1868 wieder nach Deutschland gezogen war, ist Meier-Graefe nie mehr in seine Geburtsstadt zurückgekehrt, hat sie aber nicht vergessen. In seinem autobiografischen Roman Der Vater (1932) hat er über sie geschrieben. Auch stand er mit dem Regionalhistoriker und Verleger Franz Wettel in Kontakt, dem Herausgeber der Reihe Deutschbanater Volksbücher, in der Anfang der 1930er Jahre die Novelle Fitzholm des längst berühmten Schriftstellers erschien.

Der Mann, der keine Ausgabe scheute, um der Kunst zu dienen, den ästhetischen und geistigen Reichtum seiner Epoche sowie ihr Bildwissen erheblich vermehrte, der sich zuletzt erfolg­los um die französische Staatsbürgerschaft bewarb, starb verarmt, von den Nationalsozialisten als Feind der „deutschen Kunst“ diffamiert, am 5. Juni 1935 in einem Sanatorium im schweizerischen Vevey an Tuberkulose. Seine Witwe emigrierte in die Vereinigten Staaten und heiratete den Schriftsteller Hermann Broch.

Kunstgeschichtliche Schriften (Auswahl): Felix Vallotton, Biographie des Kuenstlers nebst dem wichtigsten Teil seines bisher publicierten Werkes & einer Anzahl unedierter Originalplatten, Stargardt, Berlin; Sagot, Paris 1898. – Manet und sein Kreis, Bard, Marquardt, Berlin 1902. – Der moderne Impressionismus: mit einer kolorierten Kunst­beilage und 7 Vollbildern in Tonätzung, Bard, Berlin 1903. – Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst: vergleichende Betrachtungen der bildenden Künste, als Beitrag zu einer neuen Aesthetik, Verlag Jul. Hoffmann, Stuttgart, 1904. – Der Fall Böcklin und die Lehre von den Einheiten, Julius Hoffmann, Stuttgart 1905. – Corot und Courbet: ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der modernen Malerei, Insel, Leipzig 1905. – Der junge Menzel: ein Problem der Kunst­ökonomie Deutschlands, Piper, Leipzig 1906. – Impressionisten: Guys, Manet, Van Gogh, Pissarro, Cézanne, mit einer Einleitung über den Wert der französischen Kunst und sechzig Abbildungen, Piper, München 1907. – William Hogarth: mit 47 Abbildungen nach Gemälden, Zeichnungen und Kupferstichen, Piper, München/ Leipzig 1907. – Die großen Engländer: mit 66 Abbildungen, 2. Auflage, Piper, München/ Leipzig 1908. – Hans von Marées: sein Leben und sein Werk, 3 Bände, Piper, München 1909/10. – Vincent van Gogh, Piper, München, 3. durchges. Aufl. 1910; 4.-6. Tsd. 1912. – Paul Cézanne: mit vierundfünfzig Abbildungen, Piper, München 1910; 4.-6. Tsd., 1913. – Auguste Renoir: mit hundert Abbildungen, Piper, München 1911. – Édouard Manet: mit 197 Abbildungen, Piper, München 1912. – Wohin treiben wir? Zwei Reden über Kultur und Kunst, Fischer, Berlin 1913. – Eugène Delacroix: Beiträge zu einer Analyse, mit hundertfünfundvierzig Abbildungen, zwei Facsimiles und einer Anzahl unveröffentlichter Briefe, Piper, München 1913. – Camille Corot, Piper, München 1913. – Cézanne und sein Kreis: ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte, Piper, München 1918. – Vincent van Gogh: mit vierzig Abbildungen und dem Faksimile eines Briefes, Piper, München 1918. – Degas: ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der modernen Malerei, Piper, München 1920. – Courbet: mit 8 Lichtdruck-Tafeln und 106 Netzätzungen, Piper, München 1921. – Max Beckmann: mit 1 Radierung, 52 Lichtdrucken, 16 Textbildern. Von Curt Glaser, Julius Meier-Graefe, Wilhelm Fraenger und Wilhelm Hausenstein, Piper, München 1924. – Die doppelte Kurve: Essays. P. Zsolnay, Wien 1924. – Der Zeichner Hans von Marées, Piper, München 1925. – Vincent van Gogh, der Zeichner, O. Wacker, Berlin 1928. – Renoir, Klinkhardt & Biermann, Berlin 1929. – Corot. Bruno Cassirer, Klinkhardt & Biermann, Berlin 1930.

Literarische Werke: Ein Abend bei Excellenz Laura, Novelle, Westermanns Monatshefte 1892. – Nach Norden – eine Episode, Berlin 1893. – Die Keuschen, I Fürst Lichtenarm, II Der Prinz, „Eine Folge von Romanen über das Liebesleben im neunzehnten Jahrhundert“, Berlin 1897. – Spanische Reise, Berlin 1910. – Orlando und Angelica, ein Puppenspiel (mit Lithographien von Erich Klossowski), Berlin 1912. – Der Tscheinik, S. Fischer, Berlin 1918. – Heinrich der Beglücker, Lustspiel, Berlin 1918. – Die Reine, Berlin 1919, Uraufführung Dresden 1920. – Spanische Reise (Neufassung), Berlin 1922. – „Die Teilung“ in: Das Tage-Buch. Geständnisse meines Vetters, Novellen, Berlin 1923. – Dostojewski, der Dichter, E. Rowohlt, Berlin 1926. – Pyramide und Tempel: Notizen während einer Reise nach Ägypten, Palästina, Griechenland und Stambul, E. Rowohlt, Berlin 1926. – Der Vater, S. Fischer Verlag, Berlin 1932. – Geschichten neben der Kunst, S. Fischer Verlag, Berlin 1933.

Lit.: Walter Tonţa, Kanon der Kunstgeschichte maßgeblich geprägt. Der Kunstkritiker und Schriftsteller Julius Meier-Graefe wurde vor 150 Jahren in Reschitza geboren, in: Banater Post Nr. 17-18 v. 15.09.2017, S. 10 (Teil 1), Nr. 19 v. 05.10.2017, S. 6 (Teil 2). – Klaus J. Loderer, Julius Meier-Graefe – Grenzgänger der Künste. Ausstellung im Literaturhaus Berlin-Charlottenburg, in: Unsere Post Nr. 9 v. Sept. 2017, S. 32 f.

Bild: Lovis Corinth: Porträt Julius Meier-Graefe, 1912–1914, Wikipedia Commons/ Gemeinfrei.

Stefan P. Teppert